24 - letzter Wille

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Mein Vater hat den Tropf mit dem „Zaubermittel" ein bisschen runter gedreht, damit Paul tatsächlich eine Weile schlafen kann. Denn allmählich haben wir den Verdacht, dass dieser Cocktail den Körper insgesamt fitter und eben wacher macht. Er hat heute Mittag ungewöhnlich lange und sehr präsent ausgehalten. Als er dann schließlich aufwacht, kommen die Symptome nicht wieder, die niedrige Dosis reicht. Er ist nun wieder schläfriger, wie es für den letzten Tag ja normal ist. Papa signalisiert mir, dass er später nochmal schlafen will und dass ich eigenmächtig im Laufe des Abends, spätestens um 21:00 den Tropf abnehmen soll.

Wir kuscheln einfach, knabbern inklusive. Paul merkt gar nicht, dass ich jetzt auch ein Armband habe. Irgendwann schaut mein Vater leise zur Tür rein, zeigt auf sein Handgelenk und macht ein Daumenhoch. Ich freue mich, denn es scheint so zu sein, dass auch bei mir eine Reaktion zu messen ist. Aber ich lasse Papa machen, ich selbst will mich heute nicht darum kümmern. Heute gehöre ich völlig Paul. Da zuckt der auf einmal zusammen und drückt sich dann noch näher an mich.

Oma, ich vermisse dich so sehr! Ich möchte dich um mich haben.
Nur einmal noch! Aber ich traue mich nicht, nochmal anzurufen.
Das tut uns beiden doch nur weh. Aber - ich will dich nicht alleine lassen.

Fragend sehe ich ihn an.
„Niklas? Meine Oma ... war so furchtbar ... traurig am Schluss. Es fühlt sich so scheußlich für mich an, sie einfach alleine zu lassen."
Ich schaue ihn zärtlich an.
„Sie wird nicht alleine sein. Sie freundet sich grade mit Jack an, der ihr offensichtlich gut tut. Und ich werde mich ganz bestimmt kümmern. Egal, ob sie in ihrem Haus leben oder zu uns ziehen will - sie ist Teil deines und damit auch meines Lebens. Sie wird jetzt einfach adoptiert! Und ich hab dann wieder eine Oma."
Wir lächeln beide bei dem Gedanken. Pauls Oma ist so taff. Aber sie wird grade auf ihre alten Tage nochmal so richtig durchgerüttelt, und das hat sie nicht verdient.
„Hast du ein schlechtes Gewissen deswegen?"
Paul zuckt zusammen.
„Sch ... schon, ja. Ich weiß, dass das doof ist. Aber ..."
Energisch fahre ich ihm dazwischen.
„Nichts aber. Du hast dir dein Schicksal doch nicht selbst ausgesucht. Und sie würde das ganz gewiss nicht wollen. Dazu ist sie viel zu positiv."
Paul kuschelt sich in meinen Pullover und seufzt.

„Paul, hast du eigentlich Hunger? Oder Durst?"
Er will schon den Kopf schütteln. Aber dann grinst er.
"Trag mich doch grade mal am Sessel vorbei!"
Ebenfalls grinsend reiche ich ihm die Wasserflasche vom Tisch rüber. Während er trinkt, schaue ich ihn an. Sein Gesicht, sein Geruch, seine Stimme, seine Zärtlichkeiten - wie ein trockener Schwamm sauge ich jeden noch so winzigen Eindruck von ihm auf, damit ich mich möglichst lang daran erinnern kann. Paul setzt die Wasserflasche ab, nimmt meinen Blick wahr und schaut mir tief in die Augen, ich entdecke darin flammenden Lebenswillen und zärtliche Liebe. Wir nehmen uns in die Arme und verharren schweigend in Einigkeit.

Weißt du eigentlich, was für ein wundervoller Mensch du bist, Niklas?
Ohne dich wäre ich inzwischen in der Garage zwischen dem ganzen Gerümpel verdurstet oder erfroren.
Stattdessen darf ich mich auf deinem Sofa, in deinen Armen, in deiner Familie geborgen und geliebt wissen.
Du bist das größte Geschenk, dass das Leben mir machen konnte!

Mein Handy brummt - eine Nachricht von meinem Vater.
„Hab grade mit Kalle gesprochen. Hast'ne Mail von ihm."
Ich gehe in mein Büro, fahre meinen Laptop hoch und öffne mein Postfach. Der Leib- und Magen-Notar unseres Netzwerkes hat geschrieben, dass er sich gleich auf den Weg macht und etwa 18:00 Uhr da sein kann, aber dass er schon mal ein paar Standard-Entwürfe in den Anhang gepackt hat, damit Paul eine Vorstellung bekommt, worum es gehen könnte. Ich drucke die Entwürfe aus.

Ich überfliege die Varianten und laufe wieder rüber.
„Paul, lass uns grade mal ein paar Entwürfe für deinen letzten Willen ansehen."
Als ich hochsehe, ist Paul auf dem Sofa ganz klein zusammengekringelt und ein bisschen blass.

Geh nicht mehr weg, Nick. Es ist so kalt ohne dich.
Lass mich nie mehr los!
Ich hab so Angst. Vor dem Todsein und vor deinem Schmerz.
Vielleicht sitze ich dann auf irgendeiner Wolke und schau zu, wie du kaputt gehst -
und kann überhaupt nichts dagegen machen ...

„Hei, alles O.K. mit dir?"
Er nickt. Und ich glaube ihm kein Stück. Also rutsche ich wieder zu ihm aufs Sofa, ziehe ihn an mich und kraule ihn hinter den Ohren.
Spucks aus!"
Er grinst schief und seufzt.
„Das wird grade so furchtbar konkret. Ich will nicht gehen. Ich will bei dir bleiben! Und ich hab Angst, was dann mit dir passiert. Ich hätte das nicht zulassen dürfen!"
Ich habe verdammt Mühe, mir die Tränen zu verkneifen, und drücke ihn fest an mich. Ich kann nur flüstern.
„Und wie bitte hättest du verhindern wollen, dass ich mich in dich verliebe? Ich will das alles doch auch nicht. Aber ich bin einfach glücklich, dass ich dich kennen und lieben lernen durfte. Das ist es, was zählt."

Und das soll ich dir jetzt glauben???

„Ja, sollst du!"
Pauls Kopf fliegt hoch.
„Hä?"
Obwohl das so traurig ist, muss ich über seinen Gesichtsausdruck lächeln.
„Du hast laut gedacht ..."
Paul wird rot, schaut erst verzweifelt, muss dann aber doch selbst grinsen.

Ich hole tief Luft und schiebe die Entwürfe zu ihm. Paul scheint fast erleichtert über die Ablenkung zu sein. Er setzt sich auf, greift sich die Papiere und fängt konzentriert an zu lesen. Er ist ganz erstaunt, was er sich alles wünschen kann. Wo er beerdigt werden will, und wie. Wer dabei sein darf, und wer nicht. Wie das Grab aussehen soll. Anzeige in der Zeitung? Und wenn ja, wie? Was seine persönlichen Besitztümer sind, wer die bekommen, oder wer was damit machen darf/soll. Man kann sich bestimmte Musik wünschen, seine eigene Trauerpost gestalten, bestimmte Botschaften an einzelne Wesen hinterlassen. Nichts davon muss, alles Mögliche kann in den letzten Willen aufgenommen werden. Paul ist ein bisschen überfordert, lässt sich gegen mich sinken, schließt die Augen und denkt nach.

Ich bin so durcheinander. Was da alles möglich ist!
Die perfekte Möglichkeit, meinen Eltern zum „Dank" so richtig eins reinzuwürgen.
Aber eigentlich will ich das gar nicht.
Ich würde ALLES dafür geben, dass sie jetzt bei mir sind.
Mir treu geblieben sind und das hier mit mir aushalten.
Das Oma hier sein könnte. Aber Niklas auch!

Meine Mutter bringt uns nett zurecht gemachte Häppchen runter. Nun hat Paul doch ein bisschen Hunger und knabbert ein paar der ansprechenden Leckereien, dann lehnt er sich wieder an mich.

Dr. Karl Laurentz ist pünktlich wie die Sonnenuhr. Um 18:00 steht er bei meinen Eltern vor der Tür, es klingelt oben und ich höre Gemurmel. Vermutlich stellt er ein paar schnelle Fragen zu Paul. Gemeinsam mit meinem Vater kommt er hier runter. Wir machen ihn mit Paul bekannt. Und dann unterhalten die beiden sich eine Weile, bis Kalle das Gefühl hat zu verstehen, worum es bei Paul und seinem letzten Willen geht. Er ist auch ziemlich geschockt über das Verhalten von Pauls Eltern. Er gibt sich dann sehr Mühe, den letzten Willen so zu formulieren, dass Pauls Eltern, obwohl er zum Zeitpunkt des Formulierens und dann seines Todes minderjährig sein wird, nicht irgendwie quer schießen können sondern seinen Willen respektieren müssen.

Paul will sich ja gar nicht rächen. Aber er möchte eben nicht, dass seine Eltern auf seiner Beerdigung im Mittelpunkt stehen und ach so bedauert werden, weil sie ihren wunderbaren Sohn verloren haben. Für sein Gefühl haben sie einfach das Recht verwirkt, Trost und Hilfe einheimsen zu dürfen. Er möchte, dass die Menschen Trost, Hilfe und Begleitung bekommen, die in den letzten Tagen dazu beigetragen haben, dass er in Würde und als geliebtes Wesen gehen kann.
Seine Oma, Jack, meine Eltern - und ich.

Und so regelt er sehr genau seine Beerdigung, aber zum Beispiel auch, wie seinen Eltern sein Tod mitgeteilt werden soll. Er beschließt, dass Kalle ihnen einen ganz offiziellen Brief durch seine Kanzlei schicken soll, in dem die sachliche Mitteilung seines Todes, eine Kopie des letzen Willens, eine Kopie der Sterbeurkunde und als Traueradresse unsere Adresse angegeben sind. „Bei Nachfragen wenden Sie sich bitte an die Kanzlei Laurentz und Partner."

Ich schnappe etwas nach Luft bei der Formulierung, denn das ist schon eine ziemliche Ohrfeige. Seine Eltern werden Anfang der Woche aus ihrem Urlaub kommen, im Zweifelsfalle völlig neben der Spur sein, von Schuldgefühlen und Trauer erdrückt - und dann ist in der Garage ein notdürftiges Lager gebaut, aber leer. Als nächstes werden sie feststellen, dass Paul nochmal im Haus war (was nur den Vater überraschen wird). Und dass Dinge fehlen, die Fotoalben zum Beispiel. Stattdessen liegt ein Haufen Post auf der Anrichte, die Paul ja am Anfang noch aus dem Briefkasten geholt hat. Der Brief von der Mutter ist weg, aber keine Antwort da. Schmutziges Geschirr von Pauls letzter Mahlzeit steht in der Spüle. Sie werden den Briefkasten leeren. In der Post finden sie ganz obenauf einen sehr formellen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wird, dass sie ihre Kondolenzpost wegen ihres eigenen Sohnes schicken können an die ihnen völlig unbekannte Familie Jahn in der Blubbstraße Nummer Tüt. Ein paar Spuren im Schnee, von denen eine seltsamerweise unter den Busch am Zaun führt, ein Schlüssel im Briefkasten, zwischen die Post gerutscht - sonst nichts.
Unpersönlicher geht's nicht.

Als die beiden mit dem Wörterdrehen fertig sind, geht mein Vater los, um diesen letzten Willen auszudrucken. Paul ist schon fast wieder eingeschlafen, als Papa mit dem Papier zurückkommt, damit er unterschreiben kann. Auch wir als Zeugen setzen unsere Unterschriften darunter. Kalle besiegelt notariell, dass alles seine Richtigkeit hat, verabschiedet sich von Paul und wünscht ihm ein sanftes Davongleiten.

Dann sind wir wieder allein im Wohnzimmer. Paul schrumpft auf dem riesigen Sofa zu einem traurigen, kleinen „Fleck" zusammen. Dieser Anblick reißt mir schier das Herz raus. Starr und stumm klammert er sich an seine Maus und richtet seinen leeren Blick aus dem großen Fenster in die Dunkelheit, die sich inzwischen auf das kalte Weiß gesenkt hat.

Kann ich bitte jetzt sofort gehen?
Ich halte den Abschiedsschmerz und das Warten nicht mehr aus!

Irgendwann flüstert er etwas, und ich muss genau hinhören.
„Halt mich fest, Niklas. In deinen Armen und in deinem Herzen. Ich möchte, dass etwas von mir hier bleibt."
Ich möchte schreien vor Wut auf das besch... Schicksal. Aber ich verkneife es mir und flüstere nur zurück.
„Das mach ich, Paul. Fest versprochen. Aus meinem Herzen kommst du nie wieder raus! Mit all dem Wunderbaren, was du hast und bist - du bist längst ein fester Teil von mir."
Ich ziehe ihn an mich und umschließe ihn mit meinen Armen und mit meiner ganzen Liebe. Da endlich fängt er an zu weinen. Still. Innig. Und erlösend von der Qual des Verrats. Paul kann endlich einschlafen.

Hier sitze ich nun mit diesem Bündel aus Gefühlen im Arm! In den letzten zwei Stunden ging es echt drunter und drüber in Paul. Und ich kann ihm das überhaupt nicht abnehmen. Hoffentlich gehts ihm nachher nochmal besser ...

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21.7.2019    -    25.9.2019

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