5 - Tiefe Wunden

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Dann schweigen wir. Wir wissen beide, was nun dran ist, aber ich werde ganz bestimmt nicht drängen. Ich bin einfach nur glücklich, dass ich sein Vertrauen so schnell so weit gewonnen habe. Alles weitere wird er mir nun sicher auch bald erzählen – soweit es mich etwas angeht. Als ich das nächste Mal zu Paul rüber sehe, ist er allerdings erstmal eingeschlafen. Sein Kopf lehnt an der Wand, sein Mund ist leicht geöffnet. 

Ich packe das Tablett, Kanne und Tassen weg, lege ihn hin, decke ihn zu und gebe ihm seine kleine Maus in die Hand. Sogar im Schlaf greift er intuitiv danach und hält sie sich unters Kinn. Das sieht niedlich, glücklich, entspannt – und gleichzeitig traurig, verloren und wie ein Hilfeschrei nach Liebe aus.
Wie kann ein so liebenswertes Wesen sein GEGENÜBER noch NICHT gefunden haben??? Er ist doch kommunikativ, er ist witzig, er ist gebildet und sicher auf eine gute Schule gegangen, er ist hübsch, er ist selbständig, ...

Ich fühle noch nach dem Fieber an seiner Stirn und stelle fest, dass es deutlich gesunken ist. Mit der Anspannung und abgrundtiefen Verzweiflung ist auch die Erschöpfung ein wenig gewichen. Seine Chancen steigen. Ich lasse alle Türen offen und gehe ins Wohnzimmer, um meinen Vater auf den neuesten Stand zu bringen. Am Ende des Telefonats verblüfft er mich.
„Nick? Versprichst du mir was? Halt dein Herz fest! Du kannst – mit allem Einsatz – Nena nicht zurückholen. Und du hast diesen Jungen schon jetzt viel zu gern."
Warum müssen Eltern immer so genau hinhören und so verdammt genau wissen, was in ihren Kindern vorgeht???
„Ja, Papa. Ich versuchs. Tschüß."
Er seufzt. Er lässt sich nicht bescheißen.
„Bis heute Abend, mein Sohn. Ich hab dich lieb! Egal, was kommt ..."

Da höre ich Pauls Stimme nach mir rufen. Als ich in sein Zimmer komme, sitzt er schon im Bett.
„Du? Ich müsste mal ..."
Er ist ein bisschen verlegen. Gleich hebe ich ihn hoch und trage ihn ins Bad.
„Kommst du alleine klar? Oder möchtest du lieber, dass ich da bleibe?"
Er wird leicht rot und murmelt etwas.
„Ich glaub, ich schaffs. Mir ist nicht mehr so schwummrig wie heute Morgen."
Er sieht auch entspannter und erholter aus als heute Morgen, und so lasse ich ihn allein.

Nach ein paar Minuten ruft er mich wieder rein, und ich trage ihn ins Wohnzimmer. Dort fühlt er sich wohler. Er macht es sich auf dem Sofa bequem – und fängt an, um sich zu suchen. Ich verstehe sofort.
„Warte kurz, ich hol die Maus."
Paul lächelt dankbar. Kurz danach drücke ich ihm das niedliche Plüschtier in die Hand und setze mich neben ihn.
„Hunger?"

Paul schüttelt den Kopf.
„Erstmal nicht. - O.K. - Ich sollte es nicht länger rausschieben. Kannst – könntest du Fragen stellen? Ich glaube, das fällt mir leichter, als einfach so los zu reden."
Ich nicke.
Alles, was du willst. Was dir hilft.
„Kein Problem. Wie heißt du mit ganzem Namen, wo wohnst du, wer sind deine Eltern? Und WO sind deine Eltern? Warum bist du da draußen mitten in der Nacht rumgeirrt, wo ist deine Jacke, deine Brieftasche, hast du kein Handy? Und was ist passiert in den letzten Tagen oder Wochen, was dich so sehr verstört hat?"
Ich rattere all die Fragen, die sich seit heute Nacht in mir angesammelt haben, auf einmal runter. Paul schaut mich an, schüttelt den Kopf, lacht leise und bitter.
„Dir ist bewusst, dass du die wichtigste Frage nicht gestellt hast?"
Schnell halte ich ihm den Mund zu.
„Ja, ist es. Mit Absicht. Eins nach dem anderen - mach es dir nicht schwerer!"

Paul lächelt und versucht, die Fragen an den Fingern abzuzählen.
„Du spinnst. Na gut. Ich heiße Paul Mengel, wohne in dem Viertel, wo du mich aufgegabelt hast, in dem Teil mit den Reihenhäusern. Meine Mutter stammt aus einer verdeckten Hybridenfamilie, selbst mein Vater hat es nicht gewusst, bevor ihnen klar war, dass er ihr GEGENÜBER ist. Da konnte er nicht mehr zurück. Meine Oma hat die beiden dann daran gehindert, meine Sekundärmerkmale wegoperieren zulassen, so wie es mein Opa bei meiner Mutter hat machen lassen, und wie es auch meiner Oma schon passiert ist. Nachdem meine Eltern sich an den Gedanken gewöhnt hatten, haben sie mich sehr geliebt, mich in allem unterstützt, mich zu Selbständigkeit und innerer Stärke erzogen, damit ich gut durch dieses Leben komme. Ich hatte alles, was ich brauchte – Hobbys, Freunde, Bildung, ein liebevolles Zuhause – bis vor knapp zwei Wochen." 

Paul stockt. Tränen schießen ihm in die Augen. Seine Lippen zittern, als er sich zwingt, weiter zu reden.
„Vor zwei Wochen haben sie mir mitgeteilt, dass sie so traurig seien, dass sie meinen Tod nicht würden aushalten können. Darum würden sie nun in Urlaub fahren, bis mein Tag der Entscheidung rum wäre. Bevor ich realisieren konnte, was mit mir vorgeht, hatten sie mir einen Rucksack mit Kleidung und mein Portemonnaie mit etwas Geld in die Hand gedrückt, mein Vater hat mir meinen Haustürschlüssel abgenommen – und schon stand ich völlig fassungslos draußen auf der Straße. Kurz danach kamen meine Eltern mit Koffern aus dem Haus, schlossen es ab und stiegen in ihr Auto. Meine Mutter hat mich zum Abschied nochmal in die Arme genommen, dann waren sie weg."

Ich weiß vor Entsetzen und Empörung nicht, wohin mit meiner Wut. Aber das erübricht sich dann auch sofort. Paul bricht weinend in meinen Armen zusammen. Und ich brauche all meine Energie, Geduld und Intuition, um diesem so furchtbar gedemütigten, verratenen, in den Tiefen seiner Seele erschütterten Jungen beizustehen. Lange, sehr lange wiege ich den lebenshungrigen, nahezu sicher dem Tod geweihten Hybriden in meinen Armen und gebe ihm alle Zeit der Welt, um sich einigermaßen wieder zu fassen. Schließlich richtet er sich auf und spricht weiter. Mit einer Stimme, der jedes Leben fehlt.

„Du sollst auch wissen, warum ich mich so vor Krankenhäusern fürchte. Ich hatte von klein auf bis in die Grundschulzeit einen sehr guten Freund, einen der seltenen Hasenhybriden. Er war ein wundervolles Wesen. Aber dessen Eltern haben ihn nie angenommen und akzeptiert. Darum war er sehr häufig bei uns zu Gast. Bei uns hat er sich wohl gefühlt. Und als ein Verbrecher von Arzt ihnen viel Geld anbot, haben sie ihn einfach unter der Hand verkauft. Das Labor von diesem Verbrecher war gar nicht weit von uns weg. Meine Instinkte und Sinne haben es mir leicht gemacht, ihn zu finden. Einmal habe ich Sammy noch gesehen, da durfte er ausnahmsweise mal im Garten spielen. Er hatte mehrere Verbände und diesen seltsamen Geruch an sich. Ich habe später rausgefunden, dass der Arzt Sammy für 'wissenschaftliche' Versuche benutzt hat. Er war ein Kind, Niklas. Er war ein Kind! Und nach einem halben Jahr war er tot."

Paul schluckt schwer. Die nächsten Worte klingen unglaublich wütend.
"Seine Eltern haben allerdings die Quittung bekommen. Sie hatten vergessen, das Kleingedruckte zu lesen. Darum haben sie ohne jede Vorwarnung - laut Vertrag - ihren toten, misshandelten Sohn geliefert bekommen wie ein bestelltes Paar Schuhe. Sie mussten sich nicht nur um die Beerdigung kümmern sondern auch noch einem ausnahmsweise korrekten Richter erklären, wie das denn nun möglich sein konnte, so ganz ohne ihr Wissen. Der 'Arzt' ist aufgeflogen. Aber das hat Sammy auch nicht wieder zurück gebracht. Seitdem habe ich Angst vor Ärzten und vor diesem Geruch."

Schon wieder jagt es mir kalte Schauder den Rücken rauf und runter. Blanker Zorn zerbröselt mir Gleichmut und Geduld. Es ist einfach unvorstellbar, wozu Menschen in der Lage sind! Ich habe längst genug gehört. Aber Paul hört nicht auf.

„Gut. Noch die Geschichte mit meiner Jacke. Nachdem meine Eltern mich rausgesetzt hatten und verschwunden waren, stand ich bestimmt eine halbe Stunde regungslos in der Kälte und habe den Punkt am Ende der Straße angestarrt, wo das Auto verschwunden war. Erst, als es dunkel wurde, bin ich wieder zu mir gekommen und habe vor lauter Kälte intuitiv meine Hände in die Jackentaschen gesteckt. Dabei hat meine rechte Hand etwas Kaltes berührt. Es war ein Haustürschlüssel. So ganz einig waren sich meine Eltern also wohl doch nicht. Den Schlüssel muss mir meine Mutter bei der letzten Umarmung zugesteckt haben. Wie gelähmt bin ich wieder ins Haus gegangen. Ich hatte in den letzten Wochen intensiv versucht, mein GEGENÜBER zu finden, war in zwei Sportvereine gegangen, war häufig mit meinen Freunden rausgegangen, hatte im Internet gesucht. Alles vergeblich. Also habe ich mich irgendwie von dem Schock erholt und bin letzten Montag wie gewohnt in die Schule gegangen, habe alles gemacht wie immer.
Erst nach drei Tagen habe ich realisiert, dass Schule scheißegal ist, wenn ich eh bald sterbe. Ab da bin ich nicht mehr hingegangen sondern habe mich wahllos in der Stadt rumgetrieben, war in Kneipen, Spielhallen, Trainingszentren, Shopping Malls, Kinos, sogar in Gottesdiensten in verschiedenen Gemeinden – immer in der Hoffnung, dass ich irgendwann das berühmte Kribbeln spüren und mein GEGENÜBER finden würde. Meine Suche wurde immer verzweifelter, meine Ziele immer absurder. Montag Abend bin ich dann schließlich in einer Schwulenbar gelandet, ich wollte sicher sein, dass ich diese Option nicht auslasse. War aber nix, bin wahrscheinlich doch 'ne stinknormale Hete. Ich bin also in die Kneipe nach nebenan gegangen, und das war der Anfang vom Ende."

Ich zucke zusammen.
Was kann denn jetzt noch schlimmer werden???
Vorsichtig streiche ich Paul über den Arm.
„Du musst mir das nicht erzählen."
Er lächelt. Dann weiten sich seine Augen vor Panik, er legt die Ohren an und sein Schwanz peitscht fast die Luft, als er weiter redet.
„Da waren mehrere Typen und ein ziemlich kauzig aussehender Barmann. Ich hab mir einfach ein Bier bestellt. Aber dann hat mich einer der Typen blöd angetatscht, eine aufgetakelte Tusse hat mich angemacht. Ich hab versucht, denen auszuweichen. Und schließlich hat der Barmann mir darum unterstellt, dass ich nicht zahlen will, und hat mich am Kragen meiner Jacke gepackt. Da sind mir die Birnen durchgebrannt. Ich bin aus der Jacke geschlüpft und geflohen, einfach so schnell wie möglich weggerannt. Erst eine halbe Lunge und einen ganzen Kilometer weiter habe ich begriffen, dass ich mit meiner Jacke auch mein Portemonnaie, mein Handy, Pass, Geld und meinen Haustürschlüssel dort gelassen habe. Aber keine zehn Pferde konnten mich dahin zurückbringen. Ich bin nach Hause gelaufen und mit Hilfe des versteckten Schlüssels in die eigene Garage eingebrochen. Da habe ich zwei Nächte gepennt.
Gestern Morgen wurde mir dann klar, dass ich eine andere Lösung finden musste. Also bin ich wieder in die Stadt und habe weiter gesucht. Irgendwas. Aber es war kälter geworden, ich hatte keine Jacke, zwei Tage nichts gegessen. So wahnsinnig attraktiv für mein GEGENÜBER kann ich also nicht mehr ausgesehen haben. Ich bin rumgeschlichen wie Falschgeld, habe kaum gewagt, den Blick zu heben, habe niemand mehr angesprochen. Dann abends wieder nach Hause. Das hat nun ewig gedauert, weil ich schon ziemlich schwach war vor Hunger. Als ich endlich fast da war, brach der Sturm los – und ich habe innerlich aufgegeben. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dir das zumuten wollte. Aber ... es ... war Absicht, dass ich da plötzlich auf der Fahrbahn stand ..."

Ich schnappe nach Luft und bin einfach unglaublich dankbar für meine Reflexe. Die Vorstellung, er hätte sich umgebracht, indem er mir vors Auto springt ... Ich schüttele mich. Dann nehme ich vorsichtig seine Hand. Ich kann nur flüstern.
„Ich bin sehr froh, dass du es nicht geschafft hast – ich mag dich jetzt schon."

Paul lächelt. Dann klappt er die Augen wieder zu. Er sieht müde, resigniert, angespannt, gequält aus.
„Schlafen?"
Er nickt. Ich bringe ihn ins Bett und lasse ihn wieder allein. Eine ganze Weile tigere ich durch mein Wohnzimmer. Ziehe mir eine dicke Jacke an und stelle mich einfach in den Schnee auf der Terrasse, um meinen Kopf zu lüften. Schleiche wieder durch die Wohnung. Setze schließlich auf Verdacht Milchreis auf – weil Nena den so geliebt hat. Und dann befällt mich plötzlich eine seltsame Unruhe. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und gehe zu Pauls Tür. Drinnen ist alles still. Als ich vorsichtig die Tür aufmache – ist das Bett leer. Der Schrank ist geöffnet und offensichtlich nach Kleidung durchsucht worden, der Schlüssel mit dem Katzenanhänger liegt nicht mehr auf dem Nachttisch, das Fenster ist offen. Und auf dem Kopfkissen sitzt sehr ordentlich die Maus.

Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll, dass er offensichtlich wieder kommen will, auf mich selbst fluchen, dass ich so naiv war, ihn allein zu lassen, oder ihm den Hintern versohlen, sobald ich ihn erwische, weil er einfach einen Knall hat. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt meinen Verdacht. Ich habe bisher den Schnee nicht vom Weg geräumt, und so sehe ich deutlich seine sehr kleinen Schritte im Schnee auf dem Weg zur Straße.
Weit kann er nicht gekommen sein.

Ich rase zur Garderobe, ziehe meine Winterstiefel an, greife im Vorbeirennen Jacke und Schlüssel und folge seinen Spuren. Es ist ein Wunder, dass er es überhaupt geschafft hat, ohne Geländer den Hang und die Treppe hoch zu kommen. Das muss ihn unglaublich viel Kraft und Konzentration gekostet haben. Als ich am Gartenzaun ankomme, sehe ich ihn stehen. Er ist immer am Zaun entlang bis zur nächsten Seitenstraße gelaufen. Dort steht er nun und versucht loszulassen, um diese Seitenstraße zu überqueren. Aber er ist zu schwach dafür, seine Kräfte sind aufgebraucht. Ich warte einfach ab.

Verzeih, Niklas. Aber ich MUSS mein GEGENÜBER suchen.
Ich MUSS irgendwie über diese Straße kommen. Jetzt!
Lass los, du Idiot, du musst da rüber!

Paul schwankt, schon jetzt völlig erschöpft, nimmt immer wieder Anlauf und lässt den stützenden Zaun dann doch nicht los. Resigniert lässt er nach einer Weile seinen Kopf auf die Brust sacken. Holt tief Luft. Dann dreht er sich ganz, ganz langsam wieder um und hangelt sich am Zaun entlang zurück. Erst, als er mir schon ein gutes Stück näher gekommen ist, hebt er wieder den Blick, sieht mich – und erstarrt. Er schrumpft fast, so offensichtlich schämt er sich. Ich breite einfach meine Arme aus, lächele ihn an, er nickt, dann gehe ich auf ihn zu, hebe ihn hoch und trage ihn wieder ins Haus.

 Paul weint an meiner Schulter und entschuldigt sich immer wieder.
„Paul, wenn ich mich selbst ernst nehme, muss ich deine Entschuldigung ablehnen. Und zwar, weil es nichts zu entschuldigen gibt. Weil ich selbst dir angeboten habe, das zu tun. Ich bin nicht Richter über deine Handlungen. Es ist deine Entscheidung, dein Leben – und das ist gut so. Bitte gräm dich nicht mehr. Wir finden einen Weg."

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12.7.2019    -    10.9.2019

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