6 - Strategie

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Erst, als wir schon lange wieder auf dem Sofa sitzen und einen wärmenden Tee schlürfen, kann er sich wieder etwas entspannen, kann loslassen. Er hat nun seine Maus im Arm und die Augen geschlossen. Auf einmal fängt er wieder an zu reden.

„Niklas, du hast mich heute Vormittag daran gehindert – also ... weil du offensichtlich diese Frage nicht stellen willst – gebe ich dir die Antwort so."
Er öffnet seine Augen und sieht mich direkt an. Sie sind leuchtend meergrün.
"Mein Tag der Entscheidung ist jetzt Sonntag. Ich werde am Montag 18 Jahre alt. Und wenn ich bis Sonntag Abend mein GEGENÜBER nicht gefunden und geküsst habe, werde ich um Mitternacht sterben."

Panik trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich bin weder in der Lage, mich zu erinnern, welchen Tag wir heute haben, noch auszurechnen, wie viel Tage ihm noch bleiben.
Zu wenig. Das ist zu wenig.
Mein Gehirn setzt für einen Moment aus, um all das Furchtbare nicht denken zu müssen, was ich heute schon gehört habe.
Es ist zu spät!
Ein viel zu junges Leben, angefüllt mit viel zu viel Qual und Verrat, geht zu Ende.

Tiefes, ziemlich resigniertes Schweigen senkt sich auf den Raum. Wir halten uns, wir trösten uns, wir weinen miteinander und geben uns gegenseitig Halt, als wären wir seit dem Kindergarten Freunde und hätten unser Leben lang nichts anderes getan. Diese Nähe ist so plötzlich und unerwartet wie nötig und richtig.

Noch nie in meinem Leben hat jemand um mich geweint.
Was für ein ganz besonderer Mensch!
Er hat Empathie für Drei und tut mir einfach gut.
Wäre ich ihm doch nur schon viel eher begegnet – jetzt ist mein Leben fast vorbei.

Und ich wünsche mir die ganze Zeit, dass es tatsächlich so gewesen wäre. Ich habe wirklich gute Freunde. Aber niemand außer Nena ist mir je so nahe gekommen wie dieser Junge, der so tapfer um seine Würde und um sein Leben kämpft. Das Dumme ist nur, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich bin offensichtlich nicht sein GEGENÜBER, ich bin „nur" sein Sterbebegleiter, und das schon erschreckend bald. Ich dürfte ihn nicht mal küssen, weil ihn das nicht erlösen sondern ihm einen vorzeitigen, qualvollen Tod bescheren würde.

Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, als schließlich – mal wieder – ein Magen knurrt. Nein. Zwei. Wir haben beide ziemlich Hunger.
„Was würdest du denn am liebsten kochen, wenn du alle Zutaten hättest?"
Paul grinst.
„Milchreis!"
Bingo! Als hätte ichs geahnt. Katzen sind doch Leckermäuler. Naja ... ich kann eh nichts anderes ...

Ich kontrolliere den Reis, der inzwischen fertig durchgezogen ist, stelle ein bisschen Dosenobst und Zucker mit Zimt dazu und decke den Tisch. Dann trage ich Paul vom Sofa zum Tisch rüber, und wir essen mit Genuss den süßen Brei. Schließlich sind wir pappsatt und halten uns die Bäuche. Das sieht so witzig aus, dass wir endlich wieder lachen können.

Dann richtet sich Paul kerzengrade auf und spannt sich an.
„Huhu! Schatz, bist du im Wohnzimmer?"
Meine Mutter steckt den Kopf zur Tür rein, sieht uns und steuert gleich auf uns zu. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Pauls Nackenhaare aufstellen. Seine Ohren sausen hin und her, und seine Augen sind schreckensweit geöffnet.
„Mama? Mach bitte langsam. Paul hat viele schlechte Erfahrungen gemacht. Er braucht Zeit, sich an dich zu gewöhnen."

Meine Mutter ist nicht nur eine halbe Katze, zierlich und immer noch atemberaubend attraktiv. Sie ist auch sensibel genug, um sofort zu verstehen. Sie bremst, setzt sich in den nächsten Sessel und wartet ab.
„Paul, das ist meine Mutter. Ich habe sie sehr, sehr gern, und ich bin mir sicher, dass sie auch dich schnell sehr gern haben wird."
Hilflos und überfordert von ihrem plötzlichen Auftauchen streckt Paul seine Arme nach mir aus. Ich gehe zu ihm, nehme ihn auf den Arm und setze mich mit ihm aufs Sofa. Er kuschelt sich schutzbedürftig an mich. Und ich habe keine große Mühe, um den Gesichtgsausdruck meiner Mutter zu verstehen. Er passt verdammt viel zu gut zu der Bemerkung meines Vaters vorhin am Telefon.
Ja, ich weiß. Ich stecke schon viel zu weit drin, um da emotional heile wieder rauszukommen. Könntet ihr das bitte einfach ignorieren??? Danke!

„Paul?"
Er nickt in meiner Halsbeuge.
„Meine Mutter wird sich vor allem um die soziale Seite deiner Geschichte kümmern, wird versuchen, doch noch dein GEGENÜBER aufzustöbern. Und sie wird mir beistehen, falls wir diese Person nicht finden können, damit ich wiederum die Kraft habe, ganz für dich da zu sein. Aber jetzt schlage ich vor, dass du dich erstmal an sie und an den Gedanken gewöhnst, und dann können wir gemeinsam überlegen, wie wir die verbleibende Zeit nutzen."
Paul nickt wieder. Wir lassen ihm Zeit, und irgendwann holt er tief Luft, richtet sich auf. Schaut meine Mutter an.

Nach und nach wird Paul sicherer, kann frei entscheiden, welche Aspekte seiner Geschichte er für sie nochmal wiederholt und lässt sich von meiner Mutter die letzten Möglichkeiten aufzählen, die in der kurzen Zeit noch sinnvoll sind, um sein GEGENÜBER doch noch zu finden. Allerdings bestehen wir zusätzlich beide darauf, dass er mit uns nochmal zu der Kneipe fährt, damit wir seine Jacke und seine Wertsachen dort rausholen können. Wir müssen zweigleisig fahren, und ein Teil des Abschiedsprozesses sollte es sein, dass er noch einmal in das Haus seiner Eltern geht und auch dort bewusst mit allem abschließt – in welcher Form auch immer. Aber dazu brauchen wir den Schlüssel. Zum Glück rennen wir bei ihm offene Türen ein. Er möchte sehr gerne bewusst Abschied nehmen. Nur die Vorstellung, noch einmal in diese Kneipe zu gehen, jagt ihm Schauder des Entsetzens den Rücken rauf und runter. Ich muss ihn sehr lange halten, kraulen und ermutigen, bevor er diese Hürde akzeptiert.

Meine Mutter bringt uns Pauls fertig gewaschene Kleidung aus der Waschküche und verabschiedet sich dann vorläufig. Sie wird dabei sein, wenn dann auch mein Vater zu Hause ist und mit Paul die medizinische Seite der nächsten drei Tage bespricht – egal, wie die ausgehen werden ... Bis mein Vater nach Hause kommt, kann es aber noch ein paar Stunden dauern. Also verbringen wir die Zeit mit schlafen, essen und reden.

Nach dem Abendessen liegen wir gemeinsam entspannt auf dem Sofa und hören Klaviermusik. Paul mag nur „Eininstrumentmusik", wie er es nennt. Je mehr Instrumente beteiligt sind, desto vielschichtiger wird der Klang, desto mehr Höhen werden beigemischt. Und das verwirrt ihn und tut in den Ohren weh. Aber das Klavier hat für ihn einen angenehmen Klang, bei dem er sich entspannen kann.

„Paul?"
Er hebt leicht den Kopf und schaut mich mit wachsam aufgestellten Ohren zufrieden-neugierig an.
„Hm?"
Ich muss lächeln. Heute morgen hätte ich nienichtniemals gedacht, dass ich mit ihm so weit kommen würde.
„Verrätst du mir, von wem du die Maus hast? Sie scheint mit keinerlei negativer Erfahrung belastet zu sein. Wer auch immer sie dir geschenkt hat, muss dich wirklich vorbehaltlos geliebt haben."

Seufzend lässt Paul seinen Kopf wieder auf meine Schulter sinken.
„Meine Oma. Die ist von meiner Oma. Sie hat mich immer geliebt. Und immer verstanden. Und immer beschützt. Ich würde sie gerne noch mal sehen..."
Er ist immer leiser geworden, als hätte er nicht das Recht dazu, um so etwas zu bitten.
„Glaubst du, sie würde das für dich tun? Herkommen? Und deine letzten Stunden mit dir aushalten?"
Stumm nickt er.
„Dann gib uns bitte ihre Adresse. Wir werden sie aufsuchen und sie bitten, dir diesen vielleicht letzten Dienst im Leben zu tun. Möchtest du das?"
Als Antwort drückt sich Paul ganz fest an mich und die Maus in sein Gesicht.
"Sie wohnt nicht hier in der Stadt sondern zwei Stunden von hier weg."
Dennoch - ein winziges Bisschen der Trauer ist aus seinen Augen verschwunden und hat Hoffnung Platz gemacht.

Plötzlich wird Paul wieder ganz wachsam. Sein Körper spannt sich an, seine Nase schnuppert. Dann richtet er sich auf und knurrt. Und kaum ist mein Vater zur Tür herein gekommen, springt Paul über mich drüber vom Sofa und rast schreiend in die Küche. Die Panik ist stärker als seine Schwäche. Ich höre Poltern, Geschirr zerschellen, panisches Fauchen und Knurren.

Fenster. Warum ist hier kein Fenster!?!
Der Mann. Krankenhaus. Ich muss hier raus.
Krankenhaus! Rauf. Raus. Rauf! Nur weg.

Da sprintet meine Mutter hinter meinem Vater zur Tür rein.
„Jan! Bist du von Sinnen? Niklas hat dir doch gesagt, dass der Junge Angst vor Krankenhausgeruch hat. Raus hier! Duschen und Umziehen!!!"
Mit diesen Worten schiebt meine Mutter energisch meinen Vater samt Krankenhauskittel und Krankenhausgeruch wieder zur Tür raus und in Richtung Treppe nach oben. Ich flitze in die Küche und mache eine Vollbremsung vor dem unerwarteten Chaos. Paul klemmt zitternd und zischend in dem schmalen Spalt zwischen den Oberschränken und der Decke. Sein Schwanz knallt immer wieder gegen die Mauer.
Das muss doch weh tun!
Auf dem Weg dorthin hat er alles umgerissen, was nicht flüchten konnte. Also – alles. Stühle, Lebensmittel, schmutziges Geschirr, die Altpapierkiste. Er muss wohl über die Spüle dorthin geklettert sein.
Wie soll ich den denn da wieder runter kriegen ... !?!
Erstmal rede ich beruhigend mit ihm, erreiche aber nicht viel. Dann hole ich eine Stehleiter aus meiner Abstellkammer. Meine Mutter taucht wieder auf und wartet im Hintergrund ab, ob sie helfen kann. Ich steige langsam auf die Leiter und rede mit Paul.

„Mein Vater ist weg, du kannst wieder runter kommen. Ich helfe dir. Und ich beschütze dich. Bitte hab keine Angst vor mir. Mein Vater kann dir nichts tun. Wir alle tun nur, was du zulässt und willst. Komm, rutsch an die Kante, ich halte dich."
Wimmern, zischen, Tränen, fauchen, angelegte Ohren, Kampfbereitschaft, weinen. Paul ist völlig durch den Wind. Meine Mutter sieht im Chaos auf dem Boden die Maus und reicht sie mir. Sofort verlangt Paul danach. Er schnappt sie sich und kuschelt damit. Nach und nach beruhigt er sich. Wir warten einfach ab.

Irgendwann schaut er mich flehend an und streckt eine Hand nach mir aus.
Gott sei Dank! Ich darf ...
Ich steige breitbeinig auf die Spüle, reiche ihm meine Hände und stütze ihn, während er sich aus dem Spalt windet und mir auf den Rücken klettert. Er klammert sich an meinen Hals, schlingt seine Beine um meinen Bauch und lässt seinen Kopf auf meine Schulter sinken. Er atmet schwer und schluchzt immer wieder.
„Schschsch, jetzt wird es wieder gut. Hab keine Angst, Paul. Alles wird gut. Halt dich gut fest, ich klettere jetzt wieder runter."

Es ist nicht ganz einfach, aber irgendwann bin ich mitsamt meiner kostbaren Last wieder auf dem Boden und steige zwischen den Scherben durch Richtung Küchentür. Meine Mutter macht uns Platz und beginnt dann einfach, das Chaos zu beseitigen, während ich mit Paul zurück zum Sofa gehe. Seine Ohren drehen wild hin und her, er schnüffelt dauernd, schaut sich misstrauisch suchend um. Mein Handy piept. Mein Vater.
„Darf ich wieder runter kommen? Oder braucht er noch Zeit? Es tut mir furchtbar leid. Der 36-Stunden-Dienst hat mir offensichtlich den Verstand geraubt."

Ich schaue Paul an, dessen scharfe Ohren mitgehört haben. Erst schüttelt er heftig den Kopf.
„Bleib kurz in der Leitung, Papa."
Es geht ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Die Angst hat ihm wieder die Sprache geraubt. Aber dann kuschelt er sich ganz fest an mich – und nickt.
„Gut. Papa, wenn du jetzt nach frühlingsfrischer Blumenwiese duftest und in Räuberzivil bist, darfst du kommen. Sei am besten laut dabei, dann kann er sich drauf einstellen."
Ich lege auf und schaue Paul an.

Nach frühlingsfrischer Blumenwiese duftest ...
Deine Ideen möchte ich haben, Niklas!

Er hat kurz gekichert.
Ich mag deinen Humor, der dich offensichtlich fast nie verlässt. Du bist tapfer!
Zum gefühlt hundertsten Mal heute setzen wir uns aneinander gekuschelt aufs Sofa. Ich achte darauf, dass Paul die Tür im Blick haben kann. Nach ein paar Minuten setzt er sich starr auf, seine Ohren flattern und es sind Geräusche vom Treppenhaus her zu hören. Mein Vater bleibt in der offenen Tür stehen und wartet ab. Paul schnuppert und mustert ihn misstrauisch. Schließlich grinst mein Vater verlegen und winkt mit der Hand.
"Ich bin eine frühlingsfrische Blumenwiese, darf ich reinkommen?"
Ich patsche mir innerlich vor die Stirn.
Was ist denn in DEN gefahren???
Aber Pauls Mundwinkel zucken nach oben, er fängt an zu grinsen, und schließlich müssen wir alle drei loslachen.
Bescheuerte Eltern sind tolle Eltern!

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12.7.2019    -    31.8.2019

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