KAPITEL 29

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»Wie kommt es, dass du noch nie Weihnachten gefeiert hast? Seid ihr Leute aus Idaho nicht besonders vernarrt in Weihnachtsschmuck und bunte Lichter?«

Willow konnte den Zeitpunkt gar nicht mehr erdenken, an dem sie beschlossen hatte, diese Bombe platzen zu lassen.
Was war in sie gefahren?
Wie war sie auf die dumme Idee gekommen, ihren Mitmenschen zu sagen, aus welchem Staat sie ursprünglich stammte?

Die Fragen waren doch vorprogrammiert gewesen!

»Es hat für mich nie einen Grund gegeben, zu feiern«, antwortete sie knapp auf Charles' neugierige Frage und untertrieb damit ungemein.
Denn es steckte deutlich mehr hinter dem Versäumnis eines schönen Familienfestes, als er vermuten konnte.

»Du hast kein gutes Verhältnis zu deinen Eltern, stimmt's?«, fragte Charles weiter und ließ Willow beinahe verächtlich schnauben.

Sie zog den Mantel, den Wesley ihr gegen die Kälte geliehen hatte, enger um ihre Taille.
Wo blieb Wes überhaupt?
Er hatte sie vorgeschickt, um noch kurz etwas aus dem Tresor seines Vaters zu holen und sich zu verabschieden.
Willow war mit Charles bereits vor die Tür gegangen.

»"Kein gutes Verhältnis" ist eine schöne Formulierung. Bleib dabei«, antwortete sie und hasste sich für die Kühle in ihrer Stimme.
Aber noch mehr hasste sie diese Art von Gespräch, also musste Charles sich wohl damit zufrieden geben.

Er ahnte sicher schon, dass diese Konversation einseitig und irreführend war.

»Wie dem auch sei ... ich freue mich, dass du auf Kelly gestoßen bist, denn diese Frau wird deine versäumten Weihnachtsfeste nicht auf die leichte Schippe nehmen. Du kannst dich dieses Jahr auf eine Menge freuen, denn sie wird jedes verlorene Jahr nachholen, ob du willst oder nicht.«

Charles schmunzelte versöhnlich. Wissend, dass er nicht bohren durfte.
Er hatte die Grenze schnell erkannt.

»Ich freue mich darauf«, behauptete Willow und sie meinte es ernst.
Sie freute sich ungemein auf diese Prophezeiung.
Denn sie wollte sich so zugehörig wie möglich fühlen. Wollte auch in den Genuss einer Gesellschaft kommen, in der man willkommen war und über vergangene Erinnerungen lachte.
Es sollte nicht komisch klingen, aber Wesley offenbarte ihr die Möglichkeit einer wunderbaren Familie beizuwohnen, die aus herzensguten Mitgliedern bestand. Willow drängte darauf, sie alle noch näher kennenzulernen. Sie liebte neue Bekanntschaften.

»Feierst du Weihnachten immer bei den Dillons?«, fragte Willow, um das Thema von sich auf jemand anderes zu lenken.
Es fiel ihr deutlich leichter ein Gespräch zu führen, in dem sie die Fragen stellte, anstatt selber welche gestellt zu bekommen.

Außerdem fand sie die Familienverhältnisse der Andersons und Dillons' furchtbar interessant. Denn Kelly hatte Charles am Tisch mehrmals als ihren „Sohn" betitelt, was nur darauf schließen lies, wie eng sich die beiden Familien standen.

»Ja, gemeinsam mit meinen Eltern. Kelly und meine Mutter Sonja kennen sich schon seit ewigen Zeiten. Sie sind beste Freundinnen, so wie ich und Wesley heute.
Unsere Dads kommen ebenfalls bestens miteinander aus. Ich kann es nicht beschreiben, es hat einfach von Tag eins alles zusammengepasst. Kelly und John sind wie Ersatzeltern für mich und ich wie sein Sohn für sie. Darum stehen wir in sehr engem Kontakt und wir haben noch nie einen Feiertag ohne einander verbracht.«

Willow lächelte – wehmütig.
Es musste schön sein, in so einem Familienverhältnis aufzuwachsen.
Vier liebevolle Elternteile und einen Mann, den man seinen unbiologischen Bruder nennen konnte?
Es klang viel zu schön, als das es wahr sein konnte.
Welcher Mensch hatte ein solches Glück?
Oder empfanden Wesley und. Charles das gar nicht als so wichtig?
Für wie selbstverständlich hielten sie den Kontakt ihrer Familien?
Da Wesley seine Mutter stets ignoriert und sich versucht hatte, ihrer Überfürsorglichkeit zu entziehen, schien es ihn manchmal gehörig zu nerven.
Willow wusste, dass es ihr niemals so gehen würde.
Hätte sie die Privilegien, die Wesley hatte ... sie würde sie jeden Tag aufs Neue mit offenen Armen empfangen.
Allerdings war sie in dieser Geschichte irrelevant.
Es ging nicht um sie. Sondern um Wesley und Charles.
Und sie freute sich.
Sie freute sich aufrichtig.
Dass die beiden an eine Lebenszeit zurückdenken konnten, in der sie beinahe ausschließlich glücklich gewesen waren.
Das war toll.
Und sie verdienten es.

Jedes Kind auf diesem Planeten verdiente so etwas.

»Entschuldigt die Verspätung. Hat dein Taxi schon geschrieben?«
Wesley kam eilend aus der Haustür und lief die kurzen Treppenstufen vor dem Haus hinab, ehe er neben Charles und Willow stehen blieb. Seine Ankunft beendete das Gespräch, wenn es nicht schon vorher gestoppt war. Willow schüttelte beruhigend lächelnd mit dem Kopf.

»Nein. Sie fährt noch. Wir haben circa fünfundzwanzig Minuten.«

Wesley nickte.

»Das sollten wir schaffen.«

Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz seines Porsches und hielt sie für Willow geöffnet.

»Mylady!«, verbeugte er sich auffordernd und half ihr grinsend ins Innere des Autos.
Willow küsste ihn verliebt auf die Wange.

Charles stieg selbstständig hinten im Auto ein.
Kelly und John würden die nächsten Tage ein größeres Auto benötigen, als den MINI COOPER (Willow war innerlich ausgeflippt), den Kelly für ihr Leben gerne fuhr, und Charles hatte ihnen daher ohne Weiteres sein Auto angeboten, weil sein Luxusschlitten angeblich den größten Kofferraum besaß.

»Mir hast du noch nie die Tür aufgehalten!«, meckerte Charles, als Wesley hinter dem Steuer Platz nahm und sie alle sich anschnallten.
»Du hast Willow viel lieber als mich«, schmollte er gespielt und verschränkte gekränkt die Arme.
Willow lachte leise. Komisch, wie diese beiden Männer sich abwechselnd wie kleine Kinder benahmen.
Dabei waren sie populär für ihre Rechtsstreits und unfassbaren Diskussionsfähigkeiten.
Wesley und Charles rissen weltweit ihre Klienten und Klientinnen aus dem Radar von Strafen und Sozialarbeiten oder hielten ihnen ihre Dämonen fern.
Kaum zu glauben, wie sie waren, wenn man sie privat kennenlernte und ihnen keine Kamera hinterherrannte.

»Und das überrascht dich? Als wir das letzte Mal gesprochen haben, waren wir beide noch heterosexuell!«, grinste Wesley durch den Rückspiegel und verließ das Anwesen seiner Eltern, um sich auf den Rückweg ins Stadtinnere zu machen.

»Das war eine Lüge, um in deiner Nähe sein zu dürfen, Wes! All die Jahre über! Du hast mich nie beachtet! Ich musste doch etwas tun!«

Aufreizend, aber verzweifelt lehnte Charles sich vor und tätschelte feixend Wesleys Schulter.
Dieser wackelte mit den Augenbrauen.

»Ist das ein offizielles Outing?«

»Und wenn es so wäre, Tiger?«, gab Charles zurück.

Willow lehnte sich kichernd in ihrem Sitz zurück.
TIGER? Ihr Wesley?
Die beiden hatten doch wirklich Kobolde verschluckt.

»Was ist, Schäfchen? Eifersüchtig?«

Wesleys Hand fand ihren, ab heute anscheinend gewohnten, Weg zurück auf Willows Oberschenkel und tätschelte sie.
Lachend schüttelte Willow mit dem Kopf.

»Nein. Fühl dich frei, Tiger. Wenn du mir mit ihm fremdgehst, dann ist alles in Ordnung.«

So oft und ausgiebig wie sie heute schon den gesamten Tag über hatte lachen müssen, war Willow sicher, dass sie morgen Muskelkater deswegen haben würde.
Sie amüsierte sich so prächtig, dass sie sogar ihre Periodenkrämpfe vergessen hatte und die Schmerzen weitestgehend ausblenden konnte.
Sie wusste aber, dass Wesley sie dennoch fürsorglich im Auge hatte.
Er war es gewesen, der ihr kurz vor Abfahrt zu seinen Eltern noch eine Packung Binden gekauft hatte, die Willow lieber und bequemer waren, als herkömmliche Tampons.
Ganz wie selbstverständlich war er losgezogen und hatte zudem den Vorrat an Oreo-Schokolade und Mandelmilch mit Kakaopulver aufgestockt, weil ihm durch genaueste Beobachtungen schnell klargeworden war, dass seine Freundin während ihrer Periode eine ausgeprägte Obsession für Schokolade hatte.

Wesley war ein aufmerksamer und liebevoller Freund.
Zumindest versuchte er, einer  zu werden, weil er noch nicht allzu viele Erfahrungen hatte und in Anzug und Krawatte ein wenig fehlplatziert in der Frauenabteilung eines Drogeriemarktes schien.
Aber er gab sich alle Mühe und er versuchte es für sie.
Für Willow zählte nicht mehr als das.

»Was sagst du dazu, Charlie? Ich habe einen offiziellen Freifahrtschein!«, jubelte Wesley und reckte die Faust in die Höhe.
Charles grinste ihn verschmitzt durch den Rückspiegel an.
»Und ich habe heute Nacht noch nichts vor!«, gab er dann möglichst anziehend zurück.

Charles braucht dringend eine Frau, die er nerven kann, dachte Willow.
Eine Frau, die er so zum Lachen brachte, wie sie selbst und Kelly, als er ihr beim Abendessen von dem grünen Omlett erzählt hatte, dass er letzte Woche mit Himbeeren und Erdbeeren gekocht hatte.
Wie das möglich war? Keine Ahnung. Aber er hatte weniger hinterfragt, als gegessen, bevor er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte und Kelly beinahe vor lachen vom Stuhl gefallen war.

Für diesen nahezu dumpfsinnigen, aber liebenswerten Humor musste es doch jemanden geben, der ihn zu schätzen wusste.
Irgendwo da draußen musste der richtige Mensch doch lauern, oder etwa nicht?
Gab es keine Frau, die von diesem blonden Schönling so tief angetan war, dass sie vorhatte zu bleiben?
Keine Frau, die es Charles selbst so angetan hatte?

Es war komisch, sich jetzt darüber Gedanken zu machen, wie jemand anderes sein großes Glück fand, während man selbst glaubte, es endlich erfasst zu haben.
Willow wollte sich auch nicht täuschen lassen.
Es gab Menschen, die waren glücklich allein, die waren fantastisch single. Charles war so wie sie ihn kennengelernt hatte fantastisch.
Es machte sie trotzdem neugierig, ob sie miterleben würde, wie er sein Herz an jemanden verlor.
Ob er jemanden fand, bei dem es ihm um viel mehr als nur seine Witzeleien ging.

Sie konnte ja nicht ahnen, dass Charles diesen einen jemand schon längst in seinem Leben gefunden hatte ...

xxxx

Abschiede waren immer beschissen.
Egal wie man sie drehte oder wendete, sie waren beschissen, wenn sie die Distanz zu einem geliebten Menschen schafften.

Wesley war nicht sonderlich glücklich darüber, als er am Straßenrand neben seinem Wohnhaus parkte und auf der gegenüberliegenden Seite schon den kleinen MINI entdeckte, in dem er schon die ein oder andere Geschichte erlebt hatte und hoffentlich noch häufiger erleben würde.

Als er den Schlüssel aus dem Zündschloss seines Autos zog, kehrte Ruhe von all den Kabbeleien, Gesängen mit dem Radio und Stories aus der Kindheit ein und er machte sich bewusst, dass das Wochenende an diesem Punkt sein Ende fand.
Ab heute Nacht würde er wieder allein in seiner Wohnung sein.
Alleine einschlafen müssen, ohne Sex, ohne Filme, ohne nächtliche Tritte unter der Bettdecke oder das gemeinsame Zähneputzen am Abend.
Wenn er seine Wohnung das nächste Mal beteten würde, dann allein. Ohne Willow.
Ohne jemanden, den er tragen, küssen, bekochen, necken, lieben oder verehren konnte. Allein.
Und alles bunte würde wieder in sich zusammenfallen.
Langsam verschwinden, bis ihm nur noch Erinnerungen blieben, an eine kurze, aber wunderschöne Zeit.

»Nehmt euch einen Moment. Ich hole Willows Taschen«, bot Charles ernst an, ehe er aus dem Auto stieg und in der Dunkelheit in Richtung Tiefgarage lief, durch die man zu den Aufzügen und dann zu Wesleys Wohnung gelangte.

Kaum war er verschwunden und das Licht im Auto wieder erloschen, trauten sich Wesley und Willow endlich einander in die Augen zu sehen und musterten sich im blassen Schimmer der einzigen Straßenlaterne weit und breit.

Tief und innig, so fest wie möglich, versuchte Wesley sich alle Einzelheiten an Willow einzuprägen.
Er kannte sie.
Er hatte sie oft angesehen.
Er würde sie mit blinden Augen, tauben Ohren und stummem Mund erkennen.
Und dennoch ... man konnte sie nicht oft genug in sich aufnehmen, sie an sein Herz halten und versuchen, sie darin brühend warm zu halten.

»Ich liebe dich auch, Wesley. Ich liebe dich schon, seit du in Lilas Café auf dem Tisch eingeschlafen bist und mir beim Aufwachen direkt in die Augen gesehen hast.
Ich liebe dich, seit du Heaver das erste Mal fluchend durch das Haus gejagt hast.
Seit du mich am See das erste Mal geküsst hast und seit du mich vor Ricky beschützt hast. Ich liebe dich, Wesley Dillons, so wie keinen anderen jemals«, platzte es aus Willow, als hätte sie die letzten Minuten stumm die Luft angehalten und wäre erst jetzt wieder fähig, vernünftig zu atmen.

Wesley glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
Hatte sie sein Geständnis gerade erwidert?
Sie liebte ihn?
Seine Willow liebte ihn?
Das war ein Traum.
Ein viel zu guter Traum.

Schneller als sie denken konnte, umfasste er ihr Gesicht und zog sie über die Mittelkonsole seines Wagens, um dann sofort seine Lippen auf ihre legen zu können.
Stürmisch presste Wesley Willow an sich, drückte seine Lippen fordernd auf ihre und besiegelte ihre Worte in einer Knutscherei, die es in sich hatte.

Unter seinen Händen konnte er spüren, wie sich Willows Haut erhitzte, wie es in ihr zu prickeln begann und sie sich gehen ließ, weil sie wusste, dass sie bei ihm in Sicherheit war.
Wesleys Herz platzte vor Glückseligkeit!
Alle Gliedmaßen in ihm zogen sich zusammen, in seinem Kopf rauschte das Blut. Es gab nichts mehr für ihn.
Nichts mehr, außer Willow.

Nur mit schweren Herzen und zu wenig Sauerstoff lösten sich die beiden voneinander.
Willows Stirn lehnte an Wesleys. Ihre Lippen zierte ein verruchtes, glückliches, seliges Lächeln.
Wesley keuchte. In seiner Hose hatte sich etwas geregt und auch Willow war heißer als sonst, als sie Wesleys gewanderten Hände unter ihrem Pullver an ihrem Rücken spürte.
Doch sie würden auf ihr Wiedersehen warten müssen.

»Du hast keine Ahnung, was ich jetzt am liebsten mit dir anstellen würde«, keuchte Wesley und streichelte über Willows Haut in sanften Kreisen. Sie bekam eine Gänsehaut.

»Dann musst du es mir erzählen«, summte Willow in Verträumtheit und streckte neckisch die Zunge aus, das sie ihm einmal über die Lippen lecken konnte.
Wesley schluckte beschwerlich.

Diese Frau.

»Am liebsten würde ich dir gleich hier auf dem Sitz die Kleidung vom Leib reißen und dich triezen, bis du mich so anbettelst, wie heute morgen«, raunte er und sah wie hypnotisiert, dass Willow sich auf die Unterlippe biss.
Stand sie auf solche Gespräche?
Man lernte nie aus.

»Und dann?«

»Dann würde ich dich nach oben tragen, dich in mein Bett schmeißen und so oft kommen lassen, bis du vergisst, wer du bist, woher du kommst und dass du eigentlich gehen wolltest.
Ich würde nicht zulassen, dass du noch laufen könntest, Baby«, hauchte Wesley in ihr Ohr und leckte dann eine Spur an ihrem Hals entlang, bis er knapp unter ihrem Ohrläppchen zu saugen begann und Willow endgültig erregt, ihre Augen schloss, um sich treiben zu lassen.

Wie sollte sie es nur bis zum nächsten Mal, an dem sie sich sahen, aushalten!?
Und wieso hatte sie gerade jetzt ihre Tage bekommen müssen!
Das war eindeutig schlechtes Karma.

»Ich will nicht gehen«, stellte sie klar, während er mit ihren Haaren spielte und ihr einen Knutschfleck verpasste, der Willow die Augen verdrehen ließ vor Lust.
Wesley beendete sein Kunstwerk und pustete gegen Willows gereizte Haut, bis sie eine Gänsehaut bekam.
Befriedigt sah er zu ihr auf und fasste unter ihr Kinn, bis sie sich dicht an dicht ansahen.

»Irgendwann hat das alles hier ein Ende. Und ich werde mich nie wieder von dir verabschieden. Der Tag wird kommen und du schläfst jeden Abend in meinen Armen ein, Schäfchen.«

Das war das schönste Versprechen, das er ihr jemals gemacht hatte.

xxxx

Ganz mit sich selbst beschäftigt, bemerkten Willow und Wesley nicht, was sich direkt vor ihren Augen abspielte.
Dieser Abend war nämlich nicht ausschließlich mit bitteren Abschieden versehen.
Ganz im Gegenteil.
Für Charles bedeutete diese Nacht den Neuanfang eines Endes, als er mit Willows Gepäck wieder aus der Wohnung kam und sich dazu entschloss, ihre Sachen gleich in den Kofferraum ihres Wagens zu verstauen.

Von Willow wusste er, dass eine Freundin aus Innerforks sie abholen würde und das Auto hatte schon am Straßenrand gestanden, als sie selbst angekommen waren.
Unter dämmrigem Straßenlicht überquerte Charles die Straße und lief geradewegs auf den roten MINI Cooper zu, der gegenüber geparkt hatte, bis jetzt aber noch kein Zeichen von Leben aufwies.

War das wirklich Willows Wagen?
Er schien komplett verlassen.
Wo war denn diese Freundin?

»Woah!«, entfuhr es ihm erschrocken, als plötzlich ein starrköpfiger Ziegenkopf durch die Fenster der Rücksitze guckte und ihn mit schielenden Augen ein paar Schritte zurück taumeln ließ.

Vor Schreck ließ Charles eine der Tasche fallen und fasste sich ans Herz, ehe er der Ziege dabei zusah, wie sie ihre Augen zurückrollte und den Mund öffnete, um so laut zu meckern, dass er es dumpf durch die geschlossenen Türen hören konnte.

Wow! Sie hat nicht gelogen, dachte Charles, als er sich nach und nach sammelte.
Das war also Heaver.
Berühmt und berüchtigt und offensichtlich daran erfreut, ihn auszulachen, weil sie ihn erschreckt hatte.

Komisches Ding, dachte er. Allerdings sympathisch, denn er übernahm in Washington sonst den Part von Heaver.
Leute zu erschrecken, war sein Fachgebiet. So versandte er hin und wieder Horrorpakete mit anonymem Absender an seine Eltern oder Großeltern und ließ sich beim nächsten Lunch lang und breit von den Streichen der Nachbarskinder erzählen, die seinen Verwandten mal wieder einen schönen Herzinfarkt beschert hatten.

Irgendwo musste man ein Kind bleiben, fand Charles.
Er hob die fallengelassene Tasche vom Boden auf und traute sich näher ans Auto heran.
Heaver war das Lachen mittlerweile vergangen und sie beobachtete bloß mit schief gelegtem Kopf den blonden Kerl, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Wer war er?
Und weshalb bereitete er Lila solches Herzklopfen?
Heaver hatte das Gefühl, ihn kennen zu müssen, aber Fehlanzeige.
Sie kannte keinen Mann im Anzug mit blonden Wellen.
Wesley hatte tief dunkles Haar und grüne Augen.
Dieser Mann sah nur vom Körperbau ähnlich aus. Doch sein Teint war heller, seine Augen verspielter und der Gang lässiger.

»Scheiße«, zischte Lila, als er näher trat.
Heaver ließ den Kopf in ihre Richtung schwenken und musterte Willows Freundin.
Was hatte sie?
Aber stopp mal ... wo war überhaupt Willow?!
Und wie hatte sie es wagen können, ohne ihre Ziege zu verreisen?
Glaubte sie etwa, Wesley gehörte ihr mehr?

Das war empörend!

Charles zog langsam verwirrt die Augenbrauen zusammen.
Heaver hatte ihren Kopf in Richtung Fahrersitz geschwenkt.
Wen beobachtete sie?
Saß dort jemand?

Neugierig und aufgeschlossen, wie er war, griff er nach dem roten Türknauf und zog die Tür mit einem Ruck auf.
Dann erstarrte er.
Vollkommen.
Sein Herz, sein Kopf, sein Dasein legten sich auf Eis.

Da lag eine Frau quer über dem Fahrersitz und hatte sich so tief gebeugt, um bloß nicht durch die Fensterscheiben gesehen zu werden.
Es war eine zierliche und kleine Frau in einem weinroten Rock und dunkelblauer Bluse, die sich luftig um ihren Körper legte.
Sie hatte strohblondes, nahezu goldgelocktes Haar. Ihre Augen waren zugekniffen, als könne sie sich damit verstecken.

Als könne sie sich damit vor ihm verstecken.

Charles Blut rauschte scheinbar verkehrtherum durch seinen Körper.
Augenblicklich durchflossen ihn all die Erinnerungen, die mit den Jahren verblasst, aber niemals vergangen waren, und ordneten sich erneut in seinem Bewusstsein auf.

Urplötzlich fiel es ihm wieder ein, welche Temperatur ihre Haut hatte, wie sich die raue Tinte des Tattoos anfühlte, dass sie an ihrem inneren linken Oberschenkel hatte.
Charles wusste, wie knotig und gleichzeitig weich sich ihr Haar anfühlte, welche eisblaue Farbe ihre zusammengekniffenen Augen hatten, wie uneben sich die Narbe einer kleinen Verbrennung am rechten Handgelenk anfühlte und wie perfekt ihre roten Wangen in seine Hände passten.
Er kannte diese Frau besser, als irgendeine andere.
Zumindest ... hatte er das immer gedacht.

»Versteckst du dich etwa vor mir?«, fragte Charles schockiert und wusste noch immer nicht, was er denken sollte.

All die Jahre ... all die verstrichenen Tage ... all die verlorenen Monate ...
Er schluckte schwer. Konnte den Blick nicht abwenden.
Plötzlich war das Gefühl wieder da.
Das Gefühl sie an sich zu reißen und nie wieder loszulassen.

Scheiße!

Lila öffnete die Augen. Sie hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, hatte ihn geahnt und sich erschrocken, als ihre Vermutung sich bestätigt hatte.
Jetzt saß sie in der Klemme.
Und zwar so richtig.

Er war nah!
Und er roch so wie damals.
Und er ging so wie damals.
Und er sprach so wie damals.
Und er sah noch besser aus als damals!

Scheiße!

Wieso war sie in diese Situation geraten?
Weshalb hatte sie dieses Treffen nahezu herausgefordert und war Willow abholen kommen?
Eine kleine Lüge und Willow wäre von ihrem Freund gebracht worden – ohne Charles!

Jetzt hatte er sie erwischt.
Und er war es wirklich!
Gott er war es wirklich!

Blende ihn aus.
Sieh ihm nicht in die Augen.
Vergiss ihn!
Vergiss ihn!
Du kennst ihn nicht!
Du kennst ihn nicht!

»Mich ... mich verstecken? Warum ... sollte ich mich vor Ihnen ver-verstecken?«, stotterte sie und richtete sich hektisch auf, während sie ihre knittrige Bluse glatt strich und es mied, Charles direkt anzusehen.

Bloß nicht in diese Augen.

»Ich habe nur ein kleines Nickerchen gehalten, aus dem Sie mich geweckt haben! Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht!«

Himmel war das lächerlich.
Sie empfand es selbst als solches. Niemand, der ihre Geschichte kannte, würde ihr glauben, sie hätte diesen Mann vergessen.
Eingeschlossen Charles selbst. Er stieß ein verächtliches Schnauben aus.

Wollte sie ihn auf den Arm nehmen?
Als hätte sie ihn vergessen!
Und siezte sie ihn etwa?
Nach all den Jahren.
Nach allem, was zwischen ihnen passiert war.

»Willst du mich veraschen? Lilian?«, entfuhr es ihm und beinahe hätte er sie am Arm gepackt und aus dem dunklen Auto hinaus ins direkte Licht der Laternen getrieben.
Wie konnte sie es wagen?
Und warum sah sie ihm nicht ins Gesicht?
Blickte bloß starr auf das Lenkrad des Autos.
Wollte sie das Spielchen so treiben?
War er ihr so egal?

»Ich heiße nicht Lilian!«, meckerte sie zurück und war zugleich zusammengezuckt, als er sie bei ihrem vollen Namen genannt hatte.

Mist. Mist. Mist.

Wieso bekam sie ausgerechnet jetzt eine Gänsehaut?
Er konnte doch nicht immer noch diese Wirkung auf sie haben.

»Wenn Sie mich also bitte in Ruhe lassen würden. Ich bin nicht die Person, die Sie glauben, zu kennen. Sie müssen mich verwechseln!«, behauptete Lila und schluckte ihre Emotionen hinunter, um möglichst kalt zu klingen.

Sie hasste sich.
Alles in ihr zitterte und fühlte sich in diesem Moment schwach.
Sie hasste es, zu lügen.
Sie hasste es, ihn anzulügen.

Aber wieso konnte er nicht einfach aus dem Weg gehen?
Wo blieb überhaupt Willow?
Lila wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden!
Das hätte alles nicht passieren dürfen! Er hätte sie nicht sehen dürfen!
Sie hatte ihn doch niemals wiedersehen wollen!
Um es ihnen beiden einfacher zu machen!

Verdammt!

Sie konnte dieser Diskussion nicht lange standhalten.

Willow? Wo bleibst du?

»Ist es wirklich das, was du willst? Bist du deshalb hergekommen? Um mir zu sagen, dass ich dich nicht kennen würde? Nach allem, was geschehen ist?«, fragte er plötzlich unglaublich ruhig. Seine Stimmlage verändert, bitter, aber ernster und durchtriebener denn je.

Lila schluckte.
Nicht hingucken.
Nicht hingucken.
Nicht hingucken.

Charles schnaubte.
Dann packte er die Taschen in seiner Hand, lief auf den Kofferraum des Autos zu, verstaute alles darin und lief zurück zur offenen Fahrertür.

»Sieh mich an!«, forderte er laut.
Er wollte, dass sie ihm das ins Gesicht sagte.
Wenn dies ihre erste und letzte Begegnung sein würde, wenn Lilian sich das wünschte, dann sollte sie ihn von Auge zu Auge abservieren.

Brich mir das verdammte Herz, Baby! Aber mach es vernünftig!

Unscheinbar schüttelte Lila mit dem Kopf.
Nein, das ging nicht.
Das konnte sie nicht.
Denn wenn sie das tat, dann ...

Forsch und doch so behutsam, wie er immer gewesen war, wenn es um sie gegangen war, streckte Charles die Finger nach ihrem Gesicht aus und drehte Lilas Kopf in seine Richtung.
Sie wehrte sich nicht.
Seine Berührung löschte das Feuer des Widerstands in ihrer Brust.
Sie hatte gewusst, ihm nicht widerstehen zu können.
War sie deshalb hergekommen? Um ihn wiederzusehen?
Um ihn noch einmal berühren zu können?
Das konnte doch nicht ...

Und dann traf Blau auf Blau.
Das dunkle, ruhige, einvernehmliche Blau, auf das helle, warme, seichte Blau.

Und alles katapultierte Lila zurück zu dem Moment, vor genau fünf Jahren, an dem sie sich zum ersten Mal so intensiv angesehen hatten.
An dem sich ihr Herz dazu entschlossen hatte, sich niemals noch einmal zu verlieben. An dem es beschlossen hatte, ihm zu gehören.

Charles beugte sich zu ihr hinunter.
Und dann war er ihr so nah, wie seit Jahren nicht mehr. Und ihre Sinne spielten verrückter, als jemals zuvor.

Bescheuertes Herz!

»Sieh mir in die Augen und sag mir, dass ich mich täusche! Dass du nicht Lilian bist. Dass du nicht das Mädchen bist, das mir in der schönsten Zeit meines Lebens zur Seite stand. Dass nicht du es bist, der ich mein verlorenes Herz verdanke

Sie schluckte.
In ihren Augen brannten sich Tränen an die Oberfläche.

Charlie. Mein Charlie.
Nein!
Nicht mein Charlie.
Niemals.
Reiß dich zusammen!

»Ich bin ni-...«

»Lila!«

Willows Stimme ließ sie zusammenfahren und aus der Trance treten, in die sie mit Charles gefallen war.
Dieser Mann hatte schon immer einen siebten Sinn in ihr aktiviert, der sie alles andere hatte ausblenden lassen.

Ruckartig riss sie sich von ihm los.
Trieb einen Abstand zwischen sie beide, den sich Charles niemals gewünscht hatte.
Auch damals nicht.

Ihre Blicke trennten sich.
Lila wandte ihre Augen ab.
Und es war, als würde sie abermals ihre gesamte Gestalt von ihm abwenden.
Das Lächeln, das sie aufsetzte, war gefälscht.

»Hey!«, grüßte sie Willow und versuchte sich am Riemen zu reißen, als ihre beste Freundin mit Wesley im Arm über die Straße in ihre Richtung kam.
Nichts ahnend, was zuvor zwischen Charles und ihr vorgefallen war.

»Wie geht es dir?«, fragte Willow, als sie bei ihrer Freundin ankam und sie in ihre Arme zog.
»Hat Heaver dir Ärger gemacht?«

Wie aufs Stichwort trampelte ein weißer Koloss wild geworden über die Mittelkonsole des Autos und sprang vom Rücksitz auf den Vordersitz, um durch die offene Tür nach draußen zu gelangen und im nächsten Moment den Mann mit den dunklen Locken zu überrumpeln, der sich grinsend mit Heaver auf den Asphalt sinken ließ.

Lachend löste sich Willow von Lila und sah auf ihren Freund und ihre Ziege hinunter.
Kaum zu glauben, dass diese beiden Puzzlestücke sich zu Anfang so auf den Keks gegangen waren und Wesley Heaver nicht hatte ausstehen können.
Diese Zeiten waren Geschichte ...

»Hey! Hey! Ich hab dich doch auch vermisst, du nerviges Etwas«, lachte Wesley und versuchte Heaver irgendwie unter Kontrolle zu bringen, als sie ihn aus lauter Freude und Schabernack ansprang und umsprang und seine neuen Schuhe besprang.

»Nein. Sie hat mir keinen Ärger gemacht. Sie war ganz brav, auch wenn sie ein wenig Fernweh hatte. Ihr solltet sie nächstes Mal besser mitnehmen«, beruhigte Lila ihre Freundin und lächelte ebenfalls amüsiert, während sie zugleich zittrige Glieder bekam. Charles hatte sein Blick bis jetzt nicht von ihr abwenden können.

»Ja. Vielleicht hättest du sie nicht verlassen sollen«, meldete sich Charles leise und verbittert aus dem Hintergrund und schien diese Worte bewusst nur an sie formuliert zu haben.
Lilas stechendes Herz bekam einen weiteren Riss.

Ich muss hier weg. Ich ersticke!

Was hatte sie sich nur gedacht?
Dass alles von damals bis heute verschwunden war?
Dass sie alles überwunden hatte?
Dass sie beide sich wie normale Bekannte treffen konnten?

Wie absurd!
Sie würden niemals Bekannte sein!
Konnten es nicht.
Nie wieder.
Denn sie waren von Beginn an immer mehr gewesen.

»Wir sollten los!«, schluckte Lila ihre Fassungslosigkeit hinunter und versuchte ihre Kontrolle zurück zu erlangen.
»Es ist schon reichlich spät und dunkel und ...«

Sie erstarrte, als eine einvernehmliche Gestalt sich dicht hinter sie stellte, während Willow sich wehmütig von ihr abwandte und Wesley ein letztes Mal verabschiedete.
Die beiden küssten sich hingebungsvoll. Wesley grinste in den Kuss hinein, während Heaver seine Hände ableckte.
Alle drei knieten sie am Boden.
Glichen der glücklichsten Familie überhaupt.

Die Kluft in Lilas Herz wurde größer.
Ihre Lippen bebten.
Charles brach ihr das Herz.

»Das hätten wir sein können.«

Riss es aus ihrer Brust.

»Aber du hast uns einfach aufgegeben!«

Schmiss es achtlos vor ihre Füße.

Und trampelte im Vorbeigehen darüber, als er sich ohne ein weiteres Wort abwandte, Willow kurz und knapp verabschiedete und dann wieder in dem Hochhaus verschwand, aus dem er gekommen war.

Das hätten wir sein können, Lilian. Glücklich.

———————-

Wer hätte das gedacht?
Wer hätte es kommen sehen?
Und wie findet ihr es?
Seid ehrlich!

Liebe Grüße!

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