19 - Nicht jede Seele ist verloren

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Chester und ich kennen uns noch aus der High School. Da er damals übergewichtig war und die Hautkrankheit Schuppenflechte hatte, wurde er schnell zum Außenseiter auserkoren. Seine Super-Mario-Shirts und seine Begeisterung für das Ballett Schwanensee haben leider nur dafür gesorgt, dass er immer mehr zum Gespött der Schule wurde.

Kinder können grausam sein. Jugendliche genauso!

Ich gebe zu, dass ich anfangs tatenlos dabei zugesehen habe, wie Chester geärgert wurde. Erst nach ungefähr drei Wochen habe ich mich in der Pause zu ihm gesetzt, damit er nicht allein war.

Seit ich denken kann, hasse ich Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Deshalb war es mir auch so wichtig, Chester ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln.

Wir haben jeden Tag unsere Pausen zusammen verbracht und manchmal nach der Schule gemeinsam gelernt. Auch wenn wir uns immer nur über oberflächliche und belanglose Themen unterhalten haben, mochte ich ihn sehr gern.

Er war ein Freund, der immer für mich da war. Egal wann und worum es ging. Auf Chester war Verlass!

Nach sechs Monaten, passend zum neuen Schulhalbjahr, ist er plötzlich spurlos verschwunden. Ohne sich von mir oder jemand anderem zu verabschieden.

Einige Schüler meinten, er sei in einem Abnehm-Camp, andere haben behauptet, er sei gestorben, und wiederum andere haben das Gerücht verbreitet, er und seine Eltern seien umgezogen.

Bis heute weiß ich nicht, was mit ihm passiert ist.

Ob sich meine Ungewissheit gleich legen wird? Ich hoffe es!

Einerseits ist es schön, Chester wiederzusehen, aber andererseits fühlt sich seine Nähe auch komisch an, weil wir so lange keinen Kontakt mehr zueinander hatten.

Damals waren wir 13 Jahre alt. Heute sind wir 21.

„Kannst du dir denn nicht denken, warum ich hier bin?", reißt mich Chester aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Seine blauen Augen blitzen gefährlich und jagen mir eine Gänsehaut über die Wirbelsäule.

Ich schlucke schwer. „Du ... Du bist gestorben?", lasse ich meine Aussage wie eine Frage klingen.

„Ja", bestätigt Chester. Er streckt seine Hand nach mir aus und sagt: „Komm mit. Dann erzähle ich dir alles ganz in Ruhe."

Sofort türmt sich ein innerer Zwiespalt in mir auf. Eigentlich wollte ich nach einem Fluchtweg aus der Hölle suchen, aber es interessiert mich natürlich auch brennend, warum Chester hier gelandet ist.

Trotz der ganzen Schikanen war er immer ein guter Mensch mit einem guten Herzen.

Ich seufze und entscheide mich dann dafür, Chesters Geschichte eine Chance zu geben. Er führt mich zu einem Tisch, der direkt an einer Fensterfront steht, und zieht mir netterweise den Sessel zurück. Als ich mich hingesetzt habe, schiebt er mich wieder vorsichtig an den Tisch.

„Danke", nuschele ich mit glühenden Wangen.

Chester lächelt. Binnen eines einzigen Herzschlages fällt es allerdings in sich zusammen und wird durch einen leidenden Ausdruck ersetzt.

„Ich wollte damals nicht einfach verschwinden, ohne mich von dir zu verabschieden, Hails", beginnt er mit Tränen in den Augen zu sagen. „Meine Eltern haben mir aber keine Wahl gelassen. Sie haben mich auf ein Internat nach Deutschland geschickt. Für einen Neuanfang."

Mein Herz wird schwer wie Blei. Es hat mehrere Wochen gedauert, bis ich Chesters Verschwinden verarbeitet habe. Eine kurze Nachricht oder ein Telefonat hätten gereicht, aber beides wurde mir verwehrt.

„Ich habe diesen Neuanfang sehr ernstgenommen", spricht mein Gegenüber mit kratziger Stimme weiter. „Ich habe abgenommen und angefangen, mich für die Dinge zu interessieren, die die coolen Kids mögen. Fußball, Partys, Alkohol, Drogen, schnelle Autos, Frauen ..."

Das klingt überhaupt nicht nach dem Chester, den ich kannte.

„Es war ein tolles Gefühl, endlich dazuzugehören." Eine einzelne Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und kullert verloren über seine Wange. „Leider habe ich aber nicht gemerkt, wie ich mich selbst immer verloren habe."

Intuitiv greife ich nach Chesters Hand, die auf dem Tisch liegt, und drücke sie aufmunternd. Dass ihn dieses Gespräch enorm viel Kraft kostet, ist nicht zu übersehen.

„Ich bin an die falschen Leute geraten und habe mich mit der Zeit in mehreren, illegalen Sachen verstrickt. Ich habe an Autorennen teilgenommen, mich einer Bande angeschlossen, die alte Menschen ausgeraubt hat und war gewalttätig."

Was?! Ich kann nicht glauben, was ich da gerade höre.

„Vor zwei Jahren bin ich gestorben", fährt Chester fort. „Ich hatte kein Geld mehr und habe auf der Straße gelebt und mit Drogen gedealt. In einer kalten Winternacht wurde ich brutal niedergestochen. Dann bin ich hier gelandet. In der Hölle. Um für all meine Sünden und Straftaten zu büßen."

Immer mehr Tränen kullern über Chesters Wangen. Er sieht nicht nur verletzt aus, sondern scheint es zutiefst zu bedauern, welche Wendung sein Leben genommen hat.

Nur schade, dass es jetzt zu spät ist, denn sein Leben kann ihm niemand zurückgeben. Auch keine Einsicht und Reue.

„Ich ...", stammele ich überfordert, „ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Chester." Ein großer Kloß bildet sich in meinem Hals und erschwert mir das Atmen. „Es tut mir unfassbar leid, was dir passiert ist!"

Chester lächelt traurig. „Du kannst nichts dafür, Hailee." Dieses Mal ist er derjenige, der meine Hand drückt. „Du warst meine einzige, echte Freundin. Ich habe oft an dich gedacht. Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich dich nicht verlassen hätte ..."

Mein Herz verwandelt sich zu einem Klumpen aus Stahl und mein Magen zieht sich unangenehm zusammen.

„Wir können die Vergangenheit leider nicht ändern, Chester", murmele ich leise, „aber es ist stark von dir, dass du dein Leben reflektiert und deine Fehler eingesehen hast. Das kann nicht jeder!"

Wieder lächelt mein Gegenüber traurig. „Die Hölle hat mir dabei geholfen, meine Augen zu öffnen", behauptet er. „Ich fühle mich dafür bereit, durch das Tor der Transformation zu gehen und in den Himmel aufzusteigen. Tief in meinem Inneren bin ich noch immer der gute Mensch, den du damals in mir gesehen hast."

Wow. Seine Worte berühren meine Seele und zaubern mir brennende Glasperlen in die Augen.

Ich würde es mir wirklich wünschen, dass Chester in den Himmel aufsteigt. Er hat es verdient, an einem Ort zu sein, an dem er wertgeschätzt und akzeptiert wird. Außerdem scheint es, als würde er seine Sünden zutiefst bereuen.

„Vorher gibt es aber noch eine Sache, die ich dir unbedingt sagen muss."

Chesters Blick ist so intensiv und stechend, dass mein Herz für einen Schlag aussetzt. Er umfasst meine Hände mit seinen zittrigen Fingern und lächelt mich unter Tränen an: „Danke, Hailee! Dafür, dass du damals an mich geglaubt hast und für mich da warst! Nur deinetwegen habe ich mich in der Hölle meinen Dämonen gestellt und versucht, mich zu ändern. Für dich! Also danke!"

Ich bin sprachlos und überrumpelt, denn mit so einer emotionalen Offenbarung habe ich nicht gerechnet.

Es macht mich stolz, Chester inspiriert zu haben, ein besserer Mensch zu werden.

Ob Lucifer Recht hatte und ich es schaffen kann, den toten Seelen in der Hölle Hoffnung zu spenden?

„Darf ich dich einmal umarmen, Chester?", frage ich ihn schüchtern.

„Natürlich!"

Wir stehen gleichzeitig von unseren Sesseln auf und klammern uns wie zwei Ertrinkende aneinander fest. Es tut unheimlich gut, nach so vielen Jahren wieder das vertraute Gefühl seiner Nähe zu spüren.

Auch wenn ich es nicht wusste, habe ich ihm durch eine schwere Zeit geholfen. Und das bedeutet mir unheimlich viel!

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