⬩Fremdvertraut⬩

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Diese Geschichte ist im Rahmen der Weihnachtlichen Schreibchallenge der KuhleKathiisten entstanden. Man konnte aus mehreren Prompts, Bildern und Lieder auswählen und dazu eine Geschichte schreiben. Ich habe mich für dieses Lied entschieden:

[Hier müsste ein GIF oder Video sein. Aktualisiere jetzt die App, um es zu sehen.]

⬥ 3489 Wörter ⬥

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Der Schnee knirschte unter dem Gewicht seines Körpers, als er den Hügel hinaufstieg. Die Rufe der Eulen in der Nacht klangen wie eine Warnung, die er nicht verstand. Die Dunkelheit umarmte ihn wie ein alter Freund, Schneeflocken tanzten in der frostklirrenden Luft. Aber ihm war nicht kalt. Obwohl seine Lippen so blau wie Wasser und seine Wangen so rot wie Feuer waren. Doch er fühlte die Kälte nicht. Nicht seit dem Tag, als er sie verloren hatte. Er suchte seit jenem Tag im Dezember nach ihnen. Nach einem Zeichen. Nach einem Weihnachtswunder, das in all den Hunderten von Jahren nie gekommen war. Nach seinen Erinnerungen.

Unzusammenhängende Fetzen streiften des Öfteren seine Gedanken, doch er wusste nichts damit anzufangen.

Milchige Glasmurmeln.
Blutrote Lippen.
Schwarze Augen hinter einem Tränenschleier.

Und immer wieder dieses Pochen in seinem Kopf,
peng,
peng,
peng,
wie eine rasende Kugel zerschlug es seinen Verstand. In diesen Zeiten fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und er widmete sich ganz seiner Aufgabe. Ignorierte die Erinnerungsfetzen. Ignorierte die Tatsache, dass er nicht wusste, wer er war. Ignorierte das stetige Flehen seines Herzens, dessen Ursprung er nicht herausfinden konnte. Seine Aufgabe. Diese würde ihm für immer bleiben.

Unbewusst fuhr er sich übers Gesicht, entfernte verirrte Schneeflocken, die auf seiner kalten Haut nicht schmolzen. Er müsste bald sein Ziel erreicht haben. Seit einigen Tagen hatte er das Gerücht gehört, dass es hier oben auf der Lichtung spuken würde. Der dichte Schnee lag schwer auf den kahlen Ästen der Laubbäume. Wie furchterregende Krallen schienen sie nach ihm zu greifen, strichen hungrig über seine Schulter, als er unter ihnen vorbeiging. Doch die Ewigkeit hatte all seine Ängste vernichtet. Was sie allerdings nicht zerstören konnte, war die Einsamkeit in seinem flehenden Herzen. Als rastloser Reisender hatte er keine Freunde, lohnten sich keine längeren Bekanntschaften. Er war ständig unterwegs, auf der Suche nach verlorenen Seelen, die seine Hilfe benötigten. Seine Aufgabe.

Ein Ast knarrte und er blieb stehen. Sah hinauf. In all dem hellen Schnee sah er trotz der Finsternis der Nacht eine Eule. Sie hatte sich gerade gesetzt, weißer Puder rieselte auf ihn hinab. Sie starrte. Nicht auf ihn hinab. Ihre orangegelbe Augen blickten auf einen Punkt hinter ihm und er wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Eule öffnete ihren Schnabel, stieß einen lauten Ruf aus, ehe sie ihre Flügel ausbreitete und davonflog. Ängstlich. Sich in Sicherheit bringend.
Sie war hier.
Die verlorene Seele.

Der Mann drehte sich um. Erst sah er nichts, doch dann erkannte er das bläuliche Schimmern. Versteckt hinter dem Gefängnis der zahlreichen Bäume. Er trat näher, ließ den leuchtenden Punkt nicht aus den Augen. Sie waren immer so verschreckt. So zweifelnd. So allein. Er wollte sie nicht ängstigen. Nur helfen. Jemand musste diesen armen Geistern zeigen, wie sie ihren Frieden finden konnten.

Peng.

Er stolperte. Das Licht flackerte. Er griff sich an seine pochenden Schläfen. Es war kein Schmerz, nicht so, wie ihn Menschen kannten, viel mehr war es wie ein Ruf. Eine Aufforderung, welcher er nicht Folge leisten konnte. Er wusste nicht, was von ihm verlangt wurde. Woran er sich erinnern sollte. Er kannte nur seine Aufgabe und dieser musste er sich jetzt widmen, ehe das Licht gänzlich in der Dunkelheit verschwand.

Das Dröhnen ignorierend schritt er weiter voraus. Das Flackern hatte aufgehört, es strahlte eine enorme Energie aus, sodass es ihn blendete. Er kniff seine Augen ein wenig zusammen. Eisiger Wind wirbelte seine schwarzen Haare auf, je näher er der Geistergestalt kam. Das war neu, gestand er sich ein. In all den Jahrhunderten hatte er keine Probleme damit gehabt, zu den Seelen zu gelangen. Er hatte schon die ein oder andere verschreckt, vor allem zu Beginn seiner Tätigkeit, aber keine Seele hatte ihn so vehement von sich weggeschickt. Doch er ließ sich davon nicht beirren. Egal wie stark der Wind ihn wegdrängte, er kämpfte dagegen an.

„Nein", flüsterte der Wind in seine Ohren.
Peng, schrie es in seinem Kopf.

Erneut stolperte er, der kalte Sog beförderte ihn zu Boden. Seine behandschuhten Hände versanken im Schnee, als er für einen kurzen Augenblick milchige Murmeln zu sehen glaubte. Er blinzelte. Nichts. Er strich über die Schneedecke. Da war rein gar nichts. Der wirbelnde Schnee im aufkommenden Sturm ließ ihn bloß Trugbilder sehen. Er rappelte sich auf, kümmerte sich nicht darum, das Weiß von seinem schwarzen Mantel abzustreichen, marschierte stattdessen gegen den Wind auf das Leuchten zu.

„Bleib", flehte der Wind. „Er ist wieder da. Er wird dir wehtun."

Scharlachrote Farbe überzog wie ein Schleier seine Sicht. Der Mann schüttelte den Kopf, versuchte, das Trugbild wegzubekommen. Wie Blut rann die Farbe unaufhörlich über seine Augen, er spürte die Hitze, die von ihr ausging.
Er bekam sie nicht weg.
Nicht weg.
Nicht weg.
Es brannte, es dröhnte, es pochte in seinem Kopf.

„Geh zurück."

Doch der Mann dachte nicht daran, jetzt umzukehren. Er hatte nur eine Aufgabe. Nur eine. Ein weiteres Mal fiel er zu Boden. Seine Hände formten eine Schale, gefüllt mit Schnee. Notgedrungen rieb er sich mit dem kühlen Weiß die Hitze von seinen Augen. Und es schien zu helfen. Die scharlachrote Farbe verschwand, er konnte wieder sehen, wenn es auch noch überall schmerzte.

Wie war das möglich? Er konnte keine Schmerzen spüren. Warum nun? Er richtete sich wieder auf. Das bläuliche Leuchten war noch nicht verschwunden, doch nun pulsierte es, als hätte es Angst. Angst vor ihm? Oder war da noch etwas anderes? Was hatte der Wind ihm zugeflüstert? Er wird dir wehtun. Ist dieser mysteriöse Er für seine momentanen Schmerzen verantwortlich oder die verlorene Seele? Ihm blieb nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden. Er musste zur Geistergestalt gelangen. Es waren nur mehr ein paar Schritte.

„Es ist derselbe Tag im Dezember. Du darfst dich nicht erinnern. Geh! Es ist zu deiner eigenen Sicherheit." Dieses Mal verzichtete die Seele auf einen weiteren Sturmangriff. Gab sie auf? War sie es leid, ihre letzte Energie für einen hoffnungslosen Fall zu verschwenden? Der Mann war nun nah genug, um die Gestalt zu erkennen. Ein kleines Mädchen in zerlumpten Kleidern. Sein Körper viel zu mager. Seine Augen viel zu erwachsen. Er brauchte nicht zu fragen, um zu wissen, dass es in den kalten Straßen der Stadt verhungert war.

„Was hält dich zurück?", fragte er stattdessen. Seine Augen brannten wieder wie Feuer und er war versucht, eine weitere Ladung Schnee daraufzulegen. Auch das stetige
peng,
peng,
peng,
ignorierte er, so gut er es eben konnte.

„Ich will dich warnen. Er kommt. Er wird dir wehtun", flüsterte es. Seine Stimme ein Echo in seinem Kopf, getragen vom Wind.

„Wer wird mir wehtun?"

„Lebe weiter in Unwissenheit als in Trauer zu sterben."

„Wovon redest du?", hakte er nach, verwirrt über die kryptischen Worte des Mädchens.

„Nein. Es ist zu spät", murmelte es kopfschüttelnd. „Zu spät." Um die beiden herum wirbelte der Schnee wie in einem Tornado, sie im Inneren des Auges. Der Mann sah um sich, doch erkannte er nicht, weswegen es schon zu spät sein sollte. Zu spät für was? Wer auch immer dieser Er war, wer auch immer kommen sollte, er sah nichts. Nur den Wind im Schnee wie ein silberner Sturm in der Dunkelheit der Nacht.
Und... Nein. Er blinzelte mehrmals. Er musste sich geirrt haben. Der Schnee hatte sich nicht blutrot gefärbt. Das Geistermädchen musste für die Sinnestäuschungen verantwortlich sein.

„Siehst du es denn nicht?", fragte es. „Du weinst. Du fängst an, dich zu erinnern." Hilflos wischte es ihm die Tränen von den Wangen. Erst jetzt bemerkte er die warme Flüssigkeit auf seiner Haut. Wie konnte er nicht mitbekommen haben, dass er weinte?

„Mein Mädchen. Es ist Zeit, zu gehen."

Der Mann hörte die fremde und doch so vertraute Stimme, doch sah er ihren Ursprung nicht. Das Mädchen legte seine Hände aufs Gesicht, seine Schultern hoben und senkten sich unrhythmisch, als würde es weinen. Plötzlich tauchte eine Gestalt hinter dem Geisterwesen auf, seine Hand auf die Schulter des weinenden Mädchens gelegt.

„Wer bist du?", fragte der Mann.

„Du kennst mich. Ich hab dir nur deine Erinnerungen an mich genommen." Er lächelte ihn an. Fast glaubte der Mann, eine Entschuldigung in seinen Worten zu hören, doch er musste sich getäuscht haben.

„Warum?", wollte er von dem Fremden wissen.

„Nein", murmelte das Mädchen hinter vorgehaltenen Händen. Seine Stimme war dumpf, traurig, verloren. Mit mitleidigen Augen blickte der Fremde auf den Geist hinab.

„Es ist Zeit. Er darf wieder gehen. Ich habe ihn zu lange alleine gelassen."

„Aber er wird sich wieder erinnern. Es wird ihn umbringen."

„Mein Mädchen, er ist doch schon tot. Es wird Zeit, dass er zu ihnen geht."

Der Mann ohne Erinnerungen tat sich schwer, dem Gespräch zu folgen. Scheinbar redeten sie über ihn, aber er wusste nicht, was sie mit ihren Worten zu sagen versuchten.
Peng.
Peng.
Peng.
Die Schüsse drangen an seine Ohren. Laut. Schreiend. Viel stärker als zu irgendeiner anderen Zeit. Er hielt sich die Ohren zu, doch der Ursprung des Geräusches war in seinem Kopf und davor konnte er sich nicht verschließen.

„Komm, mein Mädchen. Er wird seinen Frieden finden und du auch." Der Mann sah, wie das Mädchen zögerlich die ausgestreckte Hand des Fremden annahm. Dann starrten ihn seine tiefschwarzen Augen an. Erschrocken wich er zurück. Es wirkte, als hätte der Fremde keine Seele, als wäre sein Körper leer. Außerdem fiel ihm auf, dass er trotz des hellen Leuchtens des Mädchens, keinen Schatten warf. Weiter. Er ging weiter zurück. Weg von dieser Gestalt, die er scheinbar kannte. Doch weit kam er nicht. Sein Rücken prallte gegen einen dicken Baumstamm. Von Schnee beladene Äste krochen zu ihm herab und hielten ihn mit ihren Krallen an den Armen fest. Er versuchte, sich zu wehren, kämpfte gegen die kalten Klauen an. Der Fremde stand vor ihm, neben ihm das Mädchen, als wäre er keinen Schritt weitergekommen. Panisch wand er sich im Griff der Bäume, die unter jeder Bewegung nur fester zudrückten.

„Beruhige dich und erinnere dich", hauchte der Fremde und legte eine Hand auf seine Wange. Das Mädchen schüttelte besorgt den Kopf.

„Nein!", schrie es. „Die Trauer, sie schmerzt. Mein Herz... tu ihm das nicht an!"

Unter der fremdvertrauten Berührung verlor er jegliche Angst. Obwohl sich wieder ein blutroter Schleier über seine Sinne legte, geriet er nicht in Panik. Er schloss seine Augen. Das Rot verdichtete sich zu einem Schwarz, ehe es sich wie ein Vorhang öffnete und der Mann hinter geschlossenen Lidern eine Szene betrachtete.

Schnee tänzelte um den kleinen Jungen herum, doch es kümmerte ihn nicht. Vertieft war er in sein Spiel, kniete auf dem geebneten Boden im windgeschützten Hof. Der Tag vor Weihnachten neigte sich dem Ende zu, bald war es Zeit, ins Haus zu gehen. Der Junge hielt mehrere milchige Murmeln in der Hand, bemerkte nicht, dass seine Eltern in einiger Entfernung über ihn redeten.

„Müssen wir ihn fortschicken?", fragte die Mutter heute schon zum dritten Male und zog ihren Schal enger um den Hals.

„Dort ist er sicher", beteuerte der Vater abermals und zog seine Frau in eine Umarmung.

„Er ist am sichersten bei uns", widersprach sie ihm vehement, wenn auch leise, damit ihr Sohn sie nicht verstehen konnte.

Der Vater schüttelte traurig den Kopf. Es war alles seine Schuld, das wusste er nur zu gut. Nur seinetwegen schwebten sowohl sein Sohn als auch seine Frau in großer Gefahr. Und das nur, weil er sich einmal von den falschen Leuten Geld geliehen hatte. Oh wie gierig er gewesen war. Oh wie falsch er gelegen hatte. Doch nun war es zu spät. Er hatte das Geld nicht, dass er seinen Gönnern schuldete. Deswegen mussten sie ihren Sohn wegschicken. Zu einer entfernten Cousine in einem anderen Land. Damit sie ihn nicht finden konnten. Und seine Frau? Wie konnte er seine Frau vor seinen Fehlern beschützen? Er sah ihr in die Augen. In ihre wunderschönen meeresblauen Augen. Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. „Es wird alles gut, ich finde eine Lösung", murmelte er gelogene Worte in ihre Haare.

„Aber...", begann sie, endete allerdings abrupt. Sie zog sich aus seiner Umarmung, ihre Bewegungen hektisch, panisch. „Wo ist er?", schrie sie. Der Vater folgte ihrem Blick und erkannte, wen sie zu erblicken versuchte. Glasmurmeln lagen verlassen auf dem Kies, eine hauchzarte Schneeschicht lag über ihnen. Er rief seinen Namen. Einmal. Zweimal. Zehnmal. Doch es kam keine Antwort.

„Wo ist er?", schrie sie ihn erneut an.

„Er kann noch nicht weit sein", mutmaßte er. Er sah noch seine Fußabdrücke. Erkannte er jetzt aber auch, dass dort noch Weitere waren. Größere. Sie mussten von einem Mann sein. Sein Sohn wurde doch nicht ...? Nun kroch auch in ihm die Panik wie ein hungriges Tier hoch. Zerfleischte sein Herz, zerschnitt seinen Verstand. Mit schnellen Schritten folgte er den fremden Fußspuren, hörte hinter sich das Klacken der Stöckelschuhe seiner Frau. Sofort blieb er stehen und wandte sich zu ihr zu. „Nein! Du bleibst hier. Geh ins Haus und versteck dich, ich hole ihn!"

„Vergiss es! Ich werde dich nicht allein nach ihm suchen lassen und ich werde garantiert nicht untätig im Haus auf dich warten!" Ihre Stimme war scharf, duldete keinen Widerspruch. Oh er wollte ihr widersprechen. Wollte sie in Sicherheit wissen. Doch wenn ihr Sohn in seiner Gegenwart auf seinem Anwesen entführt wurde, wo waren sie dann überhaupt noch sicher? Wie konnte er so dumm sein und nicht mitbekommen, wie vor seinen Augen sein Fleisch und Blut gestohlen wurde? Hatte er nicht geschrien? Nach seinen Eltern? Nach Hilfe?

Somit folgten sie gemeinsam den Spuren. Es schienen Stunden zu vergehen, doch es war noch nicht dunkel geworden. Sein Verstand spielte ihm einen Streich. So glaubte er auch, der laute Knall existierte nur in seinem Kopf. Doch als seine Frau neben ihm stolperte, dröhnte es in seinen Ohren noch immer nach. Wie ein unnachgiebiges Echo, das ihn verhöhnte. Er drehte sich zu ihr. Er war zu langsam, konnte nur zusehen, wie sie fiel. Mit viel zu großer Verzögerung fiel auch er auf die Knie, umarmte seine Frau.

„Nein. Nein. Nein", murmelte er, drückte seine Frau fest an sich. Suchte ihren Körper nach einer Wunde ab, die er auch schnell fand. Blut sickerte durch ihr hellblaues Kleid. Benetzte seine kalten Hände, tropfte auf den schneebedeckten Boden. Sein Blick haschte zu ihren Mördern. Zwei Männer, schwarze Mäntel, groß und muskulös und in ihren Händen ... sein Sohn.

„Lasst ihn gehen!", rief er den Tränen nahe.

„Hast du unser Geld?", fragte der Linke. Er antwortete nicht. Nein, hatte er nicht. Er hatte nicht mal einen Groschen bei sich. Der Rechte zog den Jungen fester zu sich. Sein Sohn wimmerte, Tränen rannten ihm über die Wangen.

„Lasst ihn gehen. Nehmt mich stattdessen"; flehte er.

„Wieso sollten wir dich mitnehmen? Wie kämen wir dann an unser Geld?", spottete der Linke wieder.

„Ich habe nichts, bitte zeigt Gnade. Ich werde das Geld schon irgendwie auftreiben, gebt mir nur mehr Zeit", bettelte er.

„Zeit hattest du genug." Der Rechte hielt seine Waffe in die Höhe, mit welcher er auch schon seine Frau erschossen haben musste. „Du glaubst wohl noch immer nicht, wie ernst wir unsere Angelegenheiten nehmen." Ohne zu zögern, richtete er die Waffe auf die Schläfe des Jungen. Dieser weinte nun bitterlich, schluchzend bebte sein ganzer Körper.

„Va-ter", flehte er.

„Nein!"; schrie dieser. Ein weiterer Knall drohte sein Trommelfell zu zerstören. Leblos sank der Körper des Jungen zu Boden. Der Vater konnte kaum noch etwas hinter dem Tränenschleier erkennen, doch hörte er, wie die zwei Männer auf ihn zukamen. Einer davon packte ihn am Kragen, zog ihn gewaltsam hoch.

„Wir werden alle finden, die du liebst. Wir werden alle finden, mit denen du auch nur ein Wort wechselst und sie töten. So lange, bis wir unser Geld wieder haben. Hast du uns verstanden?", knurrte der Mann. Der Vater nickte notgedrungen und er wurde fallen gelassen. Hart landete er auf dem steinernen Boden.

„Beeil dich lieber, sonst werden noch sehr viel mehr dem Beispiel deiner Familie folgen." Mit diesen Worten wurde er alleine in der leeren Gasse zurückgelassen. Auf allen vieren kroch er auf seinen Sohn zu. Fühlte seinen Puls. Seine Haut war bereits jetzt schon viel zu kalt, passte sich dem Schnee unter ihm an. Tränen landeten auf den blutenden Wangen des Jungen. Blut. So viel Blut. Überall. Sein blondes Haar rot gefärbt. Verloren legte er seine Hände auf das Gesicht seines Jungen. Streichelte ihm übers Haar, übers Gesicht, murmelte Worte der Entschuldigung. Suchte nach einem Lebenszeichen. Doch es war alles zu spät. Seine Augen leer, seine Lippen blutrot. Er hatte sie alle verloren. Für immer. Seine Schuld. Seine Schuld. Seine Schuld!

„Lass sie gehen." Eine fremde Stimme drang an sein Ohr, doch er verstand die Worte nicht. Er hielt seinen Sohn fester in seinen Armen. Er wollte nicht loslassen. Wollte sie nicht gehen lassen. Konnte nicht.

„Sie können nicht gehen, solange du sie festhältst", fuhr der Fremde fort. Jemand berührte ihn an seiner Schulter. Er schüttelte die Hand nicht ab, denn auf seltsame Weise spendete sie Trost. Seine Tränen mochten dennoch nicht versiegen.

„Ich kann ihnen den Frieden zeigen, aber dafür musst du loslassen."

„Ich kann nicht", murmelte er. „Ich kann nicht."

„Es ist schwer, ich weiß. Aber es muss sein."

„Nein!", schrie er verzweifelt. „Es ist alles meine Schuld! Ich kann sie nicht gehen lassen. Ich muss das wieder gutmachen. Ich kann das! Ich kann das rückgängig machen, ich muss nur...". Ja, was? Er konnte keine Menschenseele wieder zum Leben erwecken. Was versuchte er sich einzureden? Er war nutzlos. Er war eine Schande. Es war alles seine Schuld.

„Ich kann es erträglicher machen."

Die Gedanken des Vaters hörten auf zu rasen, langsam drehten sie sich nur mehr um einen Satz. Ich kann es erträglicher machen. Ich kann es erträglicher machen. Ich kann es erträglicher machen.

„Wie?", hauchte er seine Frage.

„Es gibt aber eine Bedingung", warf der Fremde ein.

„Egal. Egal, was es ist. Mach es erträglicher!", flehte der Vater, sein Herz bereits in tausend Teile zerbrochen. Wie könnte es jemals wieder erträglicher werden? Er wandte sich dem Fremden zu. Sah hindurch seiner Tränen sein Gesicht. Unscheinbar, traurig. Schwarze Augen.

„Du wirst vergessen", sprach der Fremde und berührte seine Wange. „Und meinen Platz einnehmen."

Benommen öffnete der Mann wieder seine Augen. Heiße Tränen rannen über seine eisigen Wangen. Verschwommen sah er das zerknirschte Gesicht des Geistermädchens.

„Ich wollte dich davor warnen. Erinnerungen sind schmerzhaft. Zu vergessen ist erträglicher", flüsterte das Mädchen.

„Aber keine dauerhafte Lösung, mein Mädchen. Auch du wirst deine Trauer besiegen können", prophezeite der Fremde.

„Warum?", hauchte der Mann, welcher nun endlich das Flehen seines Herzens verstand. Seine Frau. Sein Sohn. Es wollte nicht vergessen. Und dennoch hatte er es dazu gezwungen. All die vielen Jahre. „Wie?", fragte er weiter.

„Nun. Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen. Doch ich hoffe, du verstehst. Ich bin wie du. Einst nur ein Mensch, verflucht mit der Ewigkeit. Kein Leben, keine Liebe, keine Hoffnung. Ich wollte fühlen. Wenn auch nur für kurze Zeit."

„Was willst du damit sagen?" Die Krallen der Bäume lösten sich. Langsam bekam der Mann wieder Gefühl in seine Arme. Er streckte sich, schritt von dem Baum weg, der ihn gefangen gehalten hatte.

„Ich habe deinen Platz eingenommen und du meinen. Ich wollte ein Mensch sein, ich wollte fühlen. Doch die Ewigkeit bin ich dennoch nicht losgeworden. Werde ich wohl auch nie."

„Und was bist du? Was ... bin ich?"

„Oh, als ob du das nicht schon längst wüsstest", der Fremde lächelte ihn an.

„Der ... Tod?", hauchte der Mann.

„Ach, mach dich nicht lächerlich. Der Tod hat mich verflucht, ja. Doch ich bin bloß ein Geist, dem es unmöglich ist, Frieden zu finden. Aber du wirst deinen bald finden." Die schwarzen Augen des Fremden musterten ihn. Der Mann sah an sich herab. Etwas stimmte nicht. Aber was? Wind blies um seine Ohren, doch er spürte die Kälte nicht mehr. Schneeflocken fielen hinab, doch sie landeten nicht auf seiner Haut. Sie glitten hindurch. Er blickte zu dem Mädchen. Auch durch sie tanzten die Schneeflocken, doch sie war ein Geist.

Bedeutete das?

„Wieso wurdest du verflucht?", wollte er wissen.

„Das ist eine längere Geschichte. Aber nun ist es Zeit. Sollen wir gehen?", fragte der Fremde die beiden. Das Mädchen nahm seine Hand. Er spürte nichts.

„Ich bin tot?", fragte er.

„Natürlich bist du das. Aber ich habe ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich. Auch als kleine Wiedergutmachung, dass ich dir meine Aufgabe für so viele Jahre aufgebürdet habe." Der Fremde deutete in den tiefen Wald. Ein schwaches, weißes Leuchten flimmerte in der Ferne. Der Mann kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Er ging näher, das Mädchen folgte ihm.

Und dann erkannte er und er lief los, das Mädchen blieb zurück, blickte ihn bittersüß nach. Hunderte Jahre war er rastlos umhergeirrt. Verloren ohne jegliche Erinnerungen an den Grund für seine Aufgabe. Doch nun hatte er sein Ziel erreicht. Er war nicht mehr ohne sein Selbst. Er wusste, was seine Erinnerungsfetzen zu bedeuten hatten, er wusste, wer er war. Und als er seine Frau und seinen Sohn in die Arme schloss, wusste er, dass alles vergessen war. Er nicht mehr alleine war. Er endlich seinen Frieden finden konnte.

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