... und Zweifel

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„Ich habe begriffen, dass ihr vier Dörfer die Frau Großmutter im Wechsel aufsucht – das ist doch richtig?"

Piroska nickte. „Alle zwei Wochen ist ein anderes Dorf dran. Wir haben selbst kaum genug zum Leben, für ein Dorf wäre das zuviel."

„Wieviel kann man brauchen, um eine einzelne Person mit durchzubringen? Wobei ich denke, würdet ihr sie in einem eurer Dörfer aufnehmen, bräuchte sie auch weniger. Und die anderen drei Dörfer können ja trotzdem regelmäßig etwas zu Essen vorbeischicken."

Das entbehrte nicht der Logik, musste Piroska zugeben. Eine Antwort wusste sie allerdings auch auf diese Frage nicht.

„Dann sagt ihr selbst, der Wald ist gefährlich, nicht wahr?"

Piroska nickte. „Als Kinder durften wir niemals hineingehen."

„Und ihr habt euch daran gehalten?" Ylvigurs Tonfall entnahm sie, dass er jedenfalls sich nicht von derartigen Verboten hätte abhalten lassen.

„Naja – schon. Ich glaube, das war das einzige Verbot, das wir befolgt haben."

Sein Lachen war voll Fröhlichkeit und seine Miene zeigte sein Verständnis für Piroskas Aussage. „Und ich nehme an, deine Eltern haben ebenso sehr geflucht wie meine, wenn sie euch erwischt haben, wie ihr die anderen Verbote umgangen seid."

„Vermutlich." Piroska schmunzelte. Sie hatte sich schon gedacht, dass Ylvigur auch kein braves Kind gewesen war.

„Was genau fürchtet ihr eigentlich im Wald?"

„Willst du mir sagen, hier gibt es keine Gefahren?"

„Doch, natürlich. Aber es ist halb so schlimm, wenn man sie kennt und weiß, wie man mit ihnen umgehen muss. Ich bin hier aufgewachsen, daher kann ich auch allein durch den Wald streifen. Du aber weißt nichts vom Leben hier."

„Das stimmt. Und wir Kinder erfuhren auch sehr wenig. Meine Eltern erzählten uns was von Ogern und Waldschraten. Aber die gibt es ja gar nicht. Und Ameisenlöwen auch nicht."

„Ameisenlöwen? Natürlich gibt's die!"

Piroska erschrak. „Können die mich fressen?"

Ylvigur betrachtete sie übertrieben genau. „Hm, ein bisschen größer als eine Ameise bist du ja, ich würde also sagen, eher nein." Daraufhin bekam er tatsächlich einen Tritt gegen das Schienbein. Piroska konnte mit allem aufziehen, nur nicht mit ihrer nicht vorhandenen Größe.

Lachend fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was man dir über Ameisenlöwen erzählt hat, aber es sind Insekten, etwa anderthalb Zentimeter groß. Die können dir nichts tun."

„Katinka meinte immer, sie würde riesige Gruben graben und dort die Unvorsichtigen fangen und essen."

„Das stimmt. Riesig allerdings nur aus der Sicht einer Ameise."

„Sie dachte wohl, das würde uns zuverlässiger vom Wald fernhalten als die ganz reale Warnung vor Wildschweinen und Wölfen. Kriszta und ich lieben Tiere, wir hätten wahrscheinlich versucht, die Wildschweine zu streicheln und die Wölfe hinter den Ohren zu kraulen."

Ylvigurs Augen funkelten vor Lachen. „Keine schlechte Idee. Manche Wölfe würden es sicher genießen, von dir gestreichelt und gekrault zu werden – an welcher Körperstelle auch immer!"

„Du glaubst das nicht? Ich bin mir nicht mal sicher, dass ich das heute nicht auch versuchen würde. Wenn mich der Fuchs vorhin hätte näherkommen lassen, hätte ich wohl gehofft, dass er sich anfassen lässt und ein Wolf ist eben nur etwas größer. Nur dass ich jetzt erwachsen bin und weiß, dass ein Wolf mich angreifen und fressen würde."

„Sieh dich nur vor, sonst wirst du möglicherweise noch beim Wort genommen", warnte Ylvigur mit schelmischen Grinsen. „Aber um das mal klarzustellen: Deine Eltern wissen, dass der Wald gefährlich ist, auch wenn sie unrecht haben, was die Wölfe anbetrifft. Wildschweine sind allerdings nicht gerade harmlos, ich bin auch schon ein paarmal gerade eben noch rechtzeitig auf einen Baum geklettert, wenn ich einer Bache mit Frischlingen begegnet bin. Ganz davon abgesehen, dass sich hier immer mehr Gesindel herumtreibt – menschliches Gesindel wohl gemerkt."

„Die Wegelagerer, ja. Aber die vergreifen sich laut meiner Mutter nicht an einem Mädchen, welches keine Reichtümer bei sich trägt." Dass ihr da gewisse Zweifel gekommen waren, verschwieg sie. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob Ylvigur nicht doch zu den Hünenwaldräubern gehörte.

„Ein Mädchen, welches keine Schätze bei sich trägt? Gibt es so eins überhaupt? Du gehörst jedenfalls nicht dazu!"

„Oh!" Piroska wurde zu ihrem Ärger erneut rot; sie wusste durchaus, wie Ylvigur das gemeint hatte. Ob er vielleicht auch auf ihre „Schätze" aus war? Plötzlich bekam sie Angst, er würde hinterher eine Entlohnung für seine Begleitung fordern.

„Haben denn deine Eltern keine Angst, dass dir etwas zustößt?" fragte Ylvigur unbeirrt weiter.

„Schon. Aber die Frau Großmutter braucht doch ihre Vorräte."

„Du sagtest, deine Freundin kam nicht zurück? Ist sie die einzige?"

„Nein", gab Piroska zu. „Es verschwinden immer wieder Mädchen im Wald, aus allen vier Dörfern."

„Und ihr schickt unverdrossen weiter kleine Mädchen mit Kiepe und Joch los? Ist eure Frau Großmutter so wichtig, dass ihr die eurer Meinung nach von Wölfen zerrissenen Mädchen als Kollateralschaden in Kauf nehmt?"

„Das – das klingt sehr hart."

„Stimmt. Aber so sehe ich das als Außenstehender."

„Es ist ja nur – ich muss eben auf dem Weg bleiben. Das haben sie mir alle extra eingeschärft. Die Verschwundenen haben das wohl nicht beachtet."

„Es ist ganz sicher keine gute Idee, sich mitten durchs Unterholz zu schlagen, hier verirrt man sich sehr leicht.", stimmte er zu. „Aber was bringt dich auf den Gedanken, dass du auf dem Weg vor Überfällen sicherer wärst?"

„Naja – die Wölfe sind ja nur im Wald."

„Wissen eure Wölfe das auch, dass sie nur reißen dürfen, was sich außerhalb des Weges befindet?"

„Sei nicht so sarkastisch."

„Bin ich gar nicht. Ich will nur wissen, wie ihr euch das vorstellt. Es wäre etwas anderes, wenn der Weg gut bewacht wäre. Aber die Soldaten der Fürstin patrouillieren nicht ständig den gesamten Weg ab und so viele Wachstationen gibt es auch nicht."

Piroska dachte nach. „Vielleicht haben die Wölfe aber gelernt, dass der Weg gefährlich für sie ist, weil sie dort den Soldaten begegnet sind und meiden ihn darum?"

„So dumm sind Wölfe nicht, dass sie den Weg selbst für die Gefahr halten anstatt der Menschen, die sich drauf aufhalten. Allerdings pflegen Wölfe den Menschen eher auszuweichen. Ob sie diese nun auf dem Weg antreffen oder im Unterholz."

„Meintest du darum, die Wölfe seien keine Gefahr?"

„Auch, ja. Hier ist seit Jahrhunderten kein Mensch mehr durch einen Wolf ums Leben gekommen."

Piroska fragte sich, wie sich Ylvigur da so sicher sein konnte, bohrte aber sicherheitshalber nicht nach. Das hätte nur zu einer weiteren endlosen Diskussion geführt. Soweit konnte sie ihren seltsamen Begleiter inzwischen einschätzen.

„Woher weißt du eigentlich, dass die Verschwundenen vom Weg abgewichen sind?"

„Nun ja – diejenigen, die dann den nächsten Gang getan haben, hätten doch auf dem Weg zumindest Spuren finden müssen. Keine Leiche natürlich, die hätten ja die Wölfe gefressen, aber Blutspuren, Kleiderfetzen, Reste der Kiepe und der nicht essbaren Dinge darin." Piroska war sehr stolz auf ihre Schlussfolgerung. Und Ylvigur schien der gleichen Meinung zu sein. „Wenn sie von Tieren getötet worden sind, ganz sicher. In zwei Wochen werden nicht alle Spuren ausgelöscht worden sein. Ganz davon abgesehen hätten sie von den Wachsoldaten oder anderen Reisenden gefunden werden müssen. Das muss aber nicht bedeuten, dass die Mädchen von den Wegen abgegangen sind."

„Ich weiß es ja auch nicht", Piroska seufzte. „Und ehrlich gesagt, ich würde da auch gerne nachforschen."

„Das ist die nächste Frage: Warum hat das noch niemand in eurem Dorf getan? Ihr sagt einfach, das waren eben die Wölfe, schicken wir halt eine andere hin, vielleicht erwischen die Wölfe ja nicht alle."

In Ylvigurs Worten hörte sich das wirklich sonderbar an, fand Piroska. Bisher hatte sie keine Zweifel gehabt, dass die Dorfbewohner taten, was in ihrer Macht stand, aber diese drängenden Fragen verwirrten sie immer mehr. Und so antwortete sie brav mit den Narrativen, die man ihr seit der Kindheit eingebläut hatte:

„Dazu fehlt uns einfach die Zeit. Wir sind auf jede Arbeitskraft angewiesen. Darum durfte mich mein Freund Marian ja auch nicht begleiten; unser Jäger brauchte ihn."

„Du hast einen Freund, der dich einfach gehen lässt? Mir hätten die Alten viel erzählen können; ich wäre trotzdem mitgegangen."

„Bist du jetzt ja auch. Aber nein, Marian ist nicht SO ein Freund."

„Ach so." Das klang irgendwie erleichtert, obwohl Piroska nicht klar war, warum es Ylvigur kümmern sollte.

„Ach ja, noch eine Frage ..." begann er.

„Gehen dir die Fragen eigentlich nie aus?", unterbrach sie ihn. Er lachte leise. „Das hat mich mein Vater auch oft gefragt. Ich fürchte, nein. Aber sag mir doch trotzdem bitte, warum wir mitten im Sommer Decken und Wolle liefern. Eine könnte ich ja verstehen, als besonderes Geschenk, aber du sagtest, es sind noch mehr?"

Das hatte Piroska ihre Mutter auch gefragt, als diese mit dem Deckenstapel angekommen war. „Die Frau Großmutter fühlt sich seit einigen Tagen nicht ganz wohl", erklärte sie. „Und wenn man krank ist, tun ein paar zusätzliche Decken gut." Wenigstens eine Frage, auf die sie eine gute Antwort hatte.

Da hatte sie sich allerdings getäuscht. Ylvigur blickte sie verdutzt an. „Woher wisst ihr, dass die Frau Großmutter krank ist? Könnt ihr hellsehen?"

„Wieso?"

„Du sagtest, seit einigen Tagen. Der letzte Kontakt mit ihr war aber doch vor zwei Wochen und bis dahin kann sie schon längst wieder genesen sein. Also woher wisst ihr, dass sie gerade jetzt Decken braucht?"

Piroska klappte der Mund auf. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich genauer an die Worte der Mutter zu erinnern.

In diesem Moment hallte ein langgezogenes Heulen durch den Wald.

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