1.1. - Ein verschleierter Blick

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Triskali ist mehr als nur ein Spiel. Seit Jahrhunderten ranken sich Geschichten um die unterschiedlichen Spielfiguren: Die Legende vom Trommler. Rat und Rufer. Der Schmuggler im Nebel. Ich kenne sie alle, denn die Figuren helfen mir, meine Träume zu deuten.

Seit ein paar Jahren gilt Triskali nicht mehr als bloße Kunstform, nutzt es nun auch das einfache Volk zur Ablenkung. Sie nennen es Spinne. Die Gelehrten und Gebildeten blicken hochnäsig auf die Spinner hinab, doch auch sie spielen nicht das echte Triskali. Denn nur, wer das Feld in Gänze überblicken kann, wer in der Lage ist, seine Streitkräfte frei auszuwählen und alle Figuren kennt, der meistert das Spiel der Götter. Es gibt noch sieben Köpfe, die dazu fähig sind. Einer sitzt auf meinen Schultern.

Einiir Collard, Dekan der Weißen Hallen

Jede Vision kündigte sich anders an. Manche kamen auf leisen Sohlen zu ihm, andere mit der Macht eines Sommergewitters. Diesmal war es ein Kichern, das ihn zu sich rief. Der Dekan legte seinen Kopf schief, um der undeutlichen Stimme in seinem Inneren zu lauschen. Nach und nach verstummten die Studenten. Alles trat in den Hintergrund, als er die Augen schloß, um sich besser zu konzentrieren.

«Ist das eine Vision?», flüsterte jemand. Dekan Collard sperrte die Stimme aus, ignorierte sie, wie das Summen einer Fliege. Dann senkte er seine Barrieren. Bilder flossen über ihn hinweg, umspülten ihn und die Kraft der Eindrücke brachte ihn ins Wanken. Er umklammerte das Pult, schuf eine Verbindung in die Realität, die ihn erdete.

«Was sollen wir tun?» Eine weitere Fliege.

Ein dunkelhäutiges Mädchen saß auf einem Hocker. Keine Bornexerin, dazu war ihr Haar zu hell. Ein Mischlingskind? Sie spielte mit einer Puppe, legte sie in eine Kiste und deckte sie zu. Dann summte sie eine Melodie, die er nicht kannte. Tief und beruhigend, doch mit einem traurig anmutenden Tonfolge. Ein Schlaflied? Der Raum, in dem sie sich befand, war einfach möbliert. Ein kleines Tischchen, ein Schrank, ein Bett. Der einzige Schmuck war ein bunter Vorhang, der sich im Wind blähte.

«Still jetzt.» Diese Stimme wurde von einem Licht begleitet, ein Glühwürmchen, das durch seine Gedanken flatterte. Auch wenn es ihn noch so sehr drängte, diesem Sprecher ein Gesicht zuordnen, war es wichtiger, an der Vision festzuhalten. Für alles andere gab es später noch Zeit. Hoffte er zumindest.

Das Mädchen veränderte sich, ein anderes Kleid, ein geflochtener Zopf. Braune Strähnen flatterten um ihr schmales Gesicht herum. Aus dem Raum wurde ein blühender Garten mit Pflanzen, die er noch nie gesehen hatte. Er versuchte sie sich einzuprägen. Ein violetter Knospenreigen. Eine Blume mit rotem Farbverlauf, die zu den Spitzen hin immer heller wurde. Ein Strauch mit blassgrünen Beeren.

Als er die Augen öffnete, waren die Studenten fort. Mit den Händen umklammerte er noch immer die Platte des Pultes. Seine Knöchel waren vor Anstrengung ganz weiß. Er ließ los, lockerte seine Finger und griff unbewusst nach seiner Pfeife.

«Das ist eine schlechte Angewohnheit, Einiir.» Die tiefe Stimme kam aus Richtung Tür. Dort lehnte Karamo an einem der Pulte. Er wirkte ein wenig verloren in dem großen Raum, der ansonsten Platz für mehr als dreißig Studenten bot. «Abgesehen davon hat es der Dekan verboten, in den Lehrräumen zu rauchen.»

Einiir seufzte, während er die Pfeife stecken ließ und selbst auf der Tischplatte Platz nahm. Mit dieser Regel hatte er dem Druck der Belegschaft nachgegeben. Etwas, das ihm jetzt auf die Füße zu fallen schien. «Die Studenten?»

«Einer kam zu mir. Ich habe sie mit einem Auftrag in die Bibliothek geschickt.»

«Und sie sind gegangen? Obwohl du gar nicht ihr Dozent bist?»

In Karamos mandelförmigen Augen glomm ein warmer Lichtfunke. «Schafe sind meist froh, wenn sie etwas zu tun haben. Das lenkt sie vom Wolf ab.»

Einiir musste grinsen. «Das macht nicht einmal Sinn, alter Freund.» Dann besann er sich wieder auf die Vision. «Hast du Zeit? Wir müssen reden.»

Karamo erhob sich und wandte sich der Tür zu. In vielen Dingen glich er einem Talener, am ehesten einem Chanorer. Sein Haar hatte die Farbe von rotem Herbstlaub, die Haut gebräunt. Wobei er diese Begriffe weit dehnte. Karamo verfügte eher über Rinde, die seinen Körper wie einen schützenden Panzer umgab. Nur dünner und weniger steif, als es zu erwarten wäre. Auf den zweiten Blick wurde deutlich, dass durch Karamos Adern kein Blut fließen konnte. Zumindest kein rotes. Seinen Gliedmaßen fehlte einfach die Weichheit, die den Menschen innewohnte. Alles war an ihm war, fast hölzern. «In weiser Voraussicht habe ich meine Studenten ebenfalls einen Arbeitsauftrag erteilt», erklärte der Gurin.

Sie verließen das Zimmer und wanderten durch den offenen Säulengang. Lichtstrahlen tanzten über den weißen Boden und ließen die im Stein eingeschlossenen Kristalle glitzern. Karamo schwieg, während Einiir seine Gedanken sammelte. Ohne sich über ihr Ziel austauschen zu müssen, wandten sie sich den Gärten zu.

Die Strandbeerenbüsche am Rande der Wiesen standen in voller Blüte. Gelbe Farbkleckse, die das Weiß ihrer Umgebung durchbrachen. Der Duft erinnerte ihn an Majin, das Land seiner Geburt. Doch hier drückte ihn die Süße in der Luft nicht nieder, sondern erfreute einfach nur sein Herz. Er atmete tief ein.

Es war merkwürdig. Er hatte nie eine tiefe Bindung zu der Insel im Süden entwickelt. Aber er vermisste den Geruch. Alles dort war intensiver, das Gute wie das Schlechte. Von den verschiedenen Farben ganz zu schweigen. Am Meisten fehlte ihm das traditionelle Essen, das hauptsächlich aus Kofiwurzeln, Manimilch und Hochseefischen bestand. Karamo teilte diese Sehnsucht. Manchmal wurde sein Ausdruck ganz weich, wenn er von seiner Vergangenheit sprach. Auch er war auf Talens Weißer Insel gestrandet, fern von L'Aiden Ers. Ohne die anderen Gurins, die seine Familie darstellten. Ein ähnliches Schicksal, das zwei Fremde zu Freunden gemacht hatte.

Die beiden Männer gingen Seite an Seite an den Schul- und Wohngebäuden vorbei, bis sie den Fuß eines Hügels erreichten, der vollständig mit Yanisheide überzogen war. Die Pflanze hatte angefangen, sich den Trampelpfad zurückzuholen, der in einer graden Linie hinauf führte. Die kleinen Blätter raschelten, als ob die Wanderer durch frisch gefallenen Schnee stapften. Oben thronte die Sternwarte, ein kuppelförmiger Bau von deren Beobachtungsturm man an guten Tagen die ganze Insel überblicken konnte. Das Observatorium verfügte über einen Vorplatz, auf dem er manchmal Vorträge über Gestirne und Sternenregen hielt. Ansonsten war dieser Bereich jedoch für Besucher geschlossen.

Einiir blieb stehen, hielt sein Gesicht der entgegen und streckte sich. Einer Eingebung folgend trat er nicht ins Innere des Kuppelbaus, sondern ging zu einer Mauernische, an der ein dreieckiger Tisch stand. Normalerweise trafen sich hier Karamo, Einiir und ab und an der Chronist auf eine Partie Triskali. Er zögerte. Vielleicht konnten ihm die Spielfiguren helfen, um seine Vision einem Außenstehenden zu erklären.

Ohne eine Miene zu verziehen, nahm sein Freund an einer Seite Platz. Die Spielfläche des Tisches glich einem Spinnennetz, das an drei Ecken befestigt war. Immer wieder kreuzten sich die Linien und boten den Spielern Platz für den Zug der Figuren. Die Ränder des Tisches waren farblich gekennzeichnet, so dass sich vor jedem Spieler eine andere Ausgangssituation ergab. Karamo fühlte sich im Wald am Wohlsten, er selbst bevorzugte das Meer.

Im Fuß des Tisches befand sich eine Lade, in der er die verschiedenen Figurensets lagerte. Eine Rune aus drei gekreuzten Strichen am Holz schützte sie vor der Witterung. Nachdem Karamo als erster seine Seite gewählt hatte, oblag es nun ihm, seine Ausrichtung als erstes zu beanspruchen. Er rief sich die Vision vor Augen. Wer war dieses Mädchen? Seine Finger griffen nach der grünen Schatulle.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne, schenkte ihnen eine Atempause von der Hitze. «Die Schule?», grummelte Karamo mit Blick auf seine Wahl. «Bevor ich dich kannte, habe ich mir Seher immer mythischer vorgestellt. In dieser Hinsicht bist du eine Enttäuschung.»

Einiir zuckte bloß mit den Schultern. Seine Finger fuhren über die Figuren, erkundeten alle Details ihrer Beschaffenheit. Sie waren aus glattem Holz, der Fuß mit einem grünen Band umwickelt, das direkt über der Runenaussparung prangte.

Die Hände seines Freundes wanderten über die verbliebenen Kästchen, zögerten und griffen dann nach dem violett eingefasstem Behältnis.

«Lass uns spielen», murmelte Einiir und wählte seine Figuren aus. Fünfzehn, so forderten es die Regeln. Jede für sich alleine genommen schwach, doch gemeinsam eine Macht, die etwas verändern konnte. Adelige, Rat und Lehrer wirkten vertraut, doch andere erschienen wie leere Hüllen. Unbesetzt. Sie bezogen Position, dann lehnte sich Einiir zurück, um sich endlich die Pfeife anzuzünden. Hoffentlich erwischte ihn niemand.

Karamo schien seine Gedanken zu erraten. «Nur zu. Dein Ruf eilt dir voraus. Niemand wird uns hier stören.»

Belustigt sog Einiir den hellen Nebel ein. «Verbreite ich denn Angst und Schrecken?»

«Respekt, Einiir.» Karamo machte seinen ersten Zug, indem er den Hüter versetzte. «Auch das kann eine Waffe sein, wenn man ihn zu nutzen weiß.»

Das Netz zog ihn in seinen Bann. Ihre Figuren kämpften, flohen und starben. Schließlich war es Einiirs General, dem es gelang, die Krone in Besitz zu nehmen. Karamo veränderte den Standort seines Hüters, bereitete sich auf einen weiteren Zusammenstoß vor. Das Spiel war erst gewonnen, wenn die Krone die eigenen Mauern erreichte.

Einiir wollte reagieren, doch etwas störte ihn. Keine Vision, mehr eine Ahnung. Mit den Fingerspitzen berührte er den Kopf des Generals, doch nichts passierte.

Es wurde Zeit, seinen Freund einzuweihen. Nur gemeinsam konnte er etwas verändern. Es fiel ihm unerwartet schwer, die richtigen Worte zu finden. Die Pfeife war längst erkaltet und die Nachmittagssonne blendete ihn. Wie lange hatten sie gespielt? Sein Magen knurrte vernehmlich und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

«Bist du bereit zu reden?», fragte Karamo.

Vom Schulgelände her ertönte eine Glocke, die den Unterricht beendete. Studenten strömten aus den Gebäuden heraus, manche eilten zur Bibliothek, andere nahmen gemeinsam auf der Wiese Platz. «Ob man uns vermisst hat?»

Karamo zuckte mit den Schultern, eine Geste die in L'Eiden Ers mehr für Ungeduld als Desinteresse stand. «Ich habe den Studenten, der mich fand, zu deinem Sekretär geschickt.» Damit war das Problem für seinen Freund geklärt, wahrscheinlich sogar zu Recht.

Der Wind frischte auf und brachte kühlere Seeluft zu ihnen. Ohne den Blick von den Studenten abzuwenden, suchte Einiir weiter nach Worten. «In letzter Zeit häufen sich meine Visionen. Sie waren noch niemals so stark. Unkontrolliert.» Eine Böe fuhr zwischen sie und zerrte an seinen Haaren. Dunkle Strähnen flatterten um sein Gesicht herum. «Ein Schatten erhebt sich. Ich sehe vieles, doch erkenne ich wenig.»

Karamos Stimme offenbarte keine Emotionen. «So werden wir kämpfen, wie wir es immer tun.»

Der Wind fuhr zwischen die Heide und hüllte den Hügel in einen Blätterregen. Die Studenten flüchteten und liefen in Richtung der Unterkünfte. Ihr Schicksal lastete schwer auf seiner Seele. Sie waren mehr als Triskalifiguren. «Wenn wir kämpfen, werden wir sterben. Einer nach dem Anderen.»

Die Figuren wackelten. Eine von ihnen, der Weise mit dem violetten Band, fiel um und rollte über die Zugfäden hinweg. Er stoppte erst durch einen Zusammenstoß mit Einiirs Seher.

«Du hast mehr gesehen», sagte Karamo. «Sonst würden wir nicht hier sitzen.»

So schnell wie er gekommen war, drehte der Wind auch wieder, wirbelte über das Meer in Richtung Chanor. Auf seinem Weg schüttelte er die Baumkronen. Einiir räusperte sich. Die meisten Bilder waren düster gewesen, ohne Hoffnung. Andere, so wie die von vorhin, schienen einen Ausweg zu bieten, auch wenn er ihn noch nicht vollständig erkennen konnte. «Noch können wir es schaffen, unsere Lücken zu füllen. Die zu finden, die wir brauchen.»

«Du sprichst von Auserwählten?»

«Davon halte ich nichts.» Einiir schüttelte seinen Kopf. «Positionen sollten von denen besetzt werden, die die besten Fähigkeiten dafür besitzen, nicht von jenen, bei deren Geburt ein Vogel dreimal übers Haus geflogen ist.»

Die Glocke erklang erneut und rief die Studenten zum Abendmahl.

Einiir beobachtete wieder die dahineilenden jungen Menschen, in denen so viel Potential steckte. «Uns fehlt ein Anführer, ein Diplomat, ein General und ein Spion.»

Beinahe konnte er Karamos kritischen Blick auf sich fühlen. «Wenn nicht ich der Spion bin, wo siehst du mich dann?», fragte er schließlich.

«Noch sehe ich zu viele Möglichkeiten. Mentor, Wissender, Hüter. Das ruht alles in dir.» Karamo schwieg, so dass Einiir erneut das Wort ergriff. «Also, wirst du mir helfen?»

«Natürlich. Was soll ich tun?»

«Übernimm meine Klasse für eine Woche. Ich werde reisen müssen. Bis die neuen Studenten eintreffen, bin ich wieder zurück.»

Karamo fuhr sich über die Borke an seinem Unterarm. «Dir ist klar, dass ich Kriegsgeschichte und nicht Sternenkunde unterrichte?»

«Dir wird bestimmt was einfallen. Denk mal an das Sternbild des Kranichs oder der Legende. Dort oben wird mehr Vergangenheit als Zukunft gezeigt. Und bei meiner Rückkehr...» Seine Finger strichen über den Körper des Wissenden. Er bewegte die Figur um seinen General zu schützen.

«Und bei deiner Rückkehr?» Karamo beugte sich vor und studierte das geänderte Spielfeld.

Die Dämmerung setzte ein und aus der Heide erhoben sich vereinzelt winzige Leuchtkörper.

«Dann suchen wir uns unsere Glühkäfer unter den neuen Studenten zusammen.»

Karamo strich mit der Hand über sein Kinn. «Die Neuzugänge? Wäre es nicht schlauer zwischen denen zu suchen, die schon ein paar Jahre bei uns sind?»

«Nein. Wir brauchen unverfälschte Geister. Die Ausbildung muss ganz anders erfolgen. Direkter. Und vor allem viel intensiver.»

«Und der Eidbund?», fragte Karamo, bevor er seine Figur des Rufers versetzte.

Einiir blickte in den Himmel, suchte zwischen den fernen Sternen nach dem einen, der ihm Hoffnung versprach. «Der Eidbund wird kämpfen und brechen. Nichts wird bleiben, wie es ist.»

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