1.2. - Ein nächtliches Grollen

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Eine Schlacht ohne General ist verloren. Er überblickt das Spielfeld, kennt die Stärken und Schwächen seiner Streitkräfte und hat immer eine Überraschung in der Hinterhand. Es braucht einen flexibelen Geist, um ein guter Stratege zu werden.

Einiir Collard, Dekan der weißen Hallen

Die Holzschere stand für Veränderung. Ob zum Guten oder zum Schlechten lag alleine in ihrer Hand.

Sh'Kara Darben strich mit ihren Fingern zart über das gehärtete Material, bis zu einer kreisrunden Vertiefung, die direkt über der Achsverbindung lag. Darin hatte der Handwerker vor langer Zeit die Zeichen für Schärfe und Stabilität mit fünf Strichen zu einer Rune verbunden. Es war das Abschiedsgeschenk ihrer Schwester Pr'Sabah. Das Alter hatte die Schere kaum berührt, lediglich die Griffe waren glatt und abgenutzt. Ihre Schwester nutzte längst neue und bessere Werkzeuge, die sie für das Schneiderhandwerk benötigte. Doch diese hier war ihre erste gewesen. Etwas Besonderes.

Ein schriller Ton riss Sh'Kara aus ihren Gedanken. Ein Greifvogel, der sich allmählich aus seinem Nest wagte, um die bald einsetzende Dämmerung zur Jagd zu nutzen, kreiste über dem See. Sheena, die Hauptsonne hatte der Kornkammer heute heiße, fast wüstenähnliche Temperaturen beschert. Es war ein Glück gewesen, dass die Straße an dem Gewässer vorbei geführt hatte. Das Bad war jedenfalls nötig gewesen, auch wenn sie schon wieder schwitzte.

Die beiden Sonnen würden nicht mehr lange für Tageslicht sorgen, es waren vielleicht noch drei Fäden bis zur Dämmerung. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Sh'Kara beugte sich über die Wasseroberfläche und studierte das Bild, das zurückgeworfen wurde. Rotblonde Haare hingen nach dem Waschen in glatten Strähnen an ihrem Hals hinab. Normalerweise trug sie zwei Zöpfe, die eine traditionelle Botschaft enthielten: unverheiratet und ein Kind der Kornkammer.

Eindrücke waren wichtig. Wieder griff sie nach dem Kamm, der neben ihr im Gras lag. Sie bestimmten, wie man behandelt wurde. Mit langsamen Bewegungen fuhr sie ein letztes Mal durch die Längen. Es war nicht so, dass sie ihre Haare nicht mochte, ganz im Gegenteil. Ein Teil von ihr liebte die aufwendigen Zöpfe, die Kornkronen und im Allgemeinen die Traditionen, für die ihre Heimat neben Brot und Bier berühmt war. Es war ein schönes Gefühl, wenn die Haare in Kränzen um ihren Kopf lagen, während die eingeflochtenen Bänder ihre Schultern kitzelten. Doch man sollte mehr in ihr sehen, als ein Mädchen, das backen und tanzen konnte.

Pr'Sabah hatte es verstanden. Die Eltern hätte ihre Einstellung traurig gemacht, daher schwieg Sh'Kara, packte die Schere ein und verließ mit bunten Bändern im Haar ihr Heimatdorf. Ihre Familie sollte den Eindruck bewahren, das jüngste Mitglied würde sich an der Akademie nicht verändern.

Doch sie wollte diesen Stillstand nicht. Kurze Haare würden am Ehesten für einen Neuanfang stehen. Aber ohne Erfahrung wäre das eine mehr als schlechte Idee. Eine misslungene Frisur wollte sie lieber nicht riskieren.

Sh'Kara lehnte sich soweit zurück, dass sie sich gerade noch in der Spiegelung des Wassers erkennen konnte. Schnitt für Schnitt führte sie die Schere durch ihre Haare, folgte so gut sie konnte der Linie ihrer Schlüsselbeine. Strähne um Strähne fiel ins Wasser und umgaben ihren sitzenden Körper wie Sonnenstrahlen. Als sie fertig war, berührte die kleinere Sonne Medina bereits den Horizont. Dort, irgendwo hinter den Getreidehügeln lag Sh'Karas Ziel. Die Weiße Insel.

Es wurde Zeit für den Dämmerungsgruß. Sorgfältig sammelte sie die Locken aus dem See, dann kontrollierte sie ihre Erscheinung. Natürlich war der Schnitt nicht ohne Kanten, aber er war in Ordnung. Die rotblonde Masse war nun auf jeden Fall leichter. Ihre kornblumenblauen Augen leuchteten zufrieden und wurden nur von der Reisemarke überstrahlt, die vorige Woche auf ihrer Stirn aufgetaucht war. Das Zeichen der Göttin Iyane. Es rief die magiebegabten Talener kurz vor der Volljährigkeit zur Akademie, wo sie lernen sollten, ihr Potential zu entfalten.

Sh'Kara packte ihre Werkzeuge und die Strähnen ein, bevor sie ihren Rückweg ins Lager antrat. Der kleine See war fast vollständig von Schilf umgeben. Rechts von ihr standen ein paar Laubbäume und umgaben eine Höhle, die wohl Tieren als Unterschlupf diente. Wilder Hafer hatte sich bis zum Ufer ausgebreitet und sie versuchte ihre Schritte so zu setzen, dass möglichst wenig Halme umknickten.

Der stilisierte Stern über ihren Augen hatte niemanden überrascht. Es war schon seit ihrer Kindheit deutlich geworden, dass aus ihr ein Empathist werden würde. Der Sandluchs, der ihre ersten Gehversuche überwacht hatte, war ein klarer Hinweis gewesen. Misha war seitdem ein fester Bestandteil in ihrem Leben, ein Freund, dem sie all ihre Gedanken anvertrauen konnte.

Der Luchs lag neben der Feuerstelle und putze sich das beigefarbene Fell, während er mit dem Schwanz ein paar Stechkäfer verjagte. Nervige kleine Biester.

Heute Nacht vermisste sie ein Dach über dem Kopf, vor allem ein Bett mit Vorhang, um Insekten auszusperren. Es war einer dieser Tage gewesen, die auf das Gemüt schlugen, und die man am besten in der Nähe einer steifen Brise verbrachte. Sh'Kara lächelte wehmütig. In diesem Moment vermisste sie das Meer. Ihr Heimatdorf Grest lag an der Küste, genau an der Stelle, wo die blaue Hölle in das Wildermeer überging. Dort sorgte eine ständiger Wind für Abkühlung, zur Not sprang man einfach in das kalte Wasser. Natürlich nur, wenn man nicht allzu zart besaitet war. Hier gab es kein Meer in der Nähe. Nur den kleinen See, der Sh'Kara dazu gebracht hatte, die kleine Senke neben zwei Bäumen als Lagerplatz auszuwählen. Kaum größer als ein Tümpel. Sein warmes Wasser mit dem Wildermeer zu vergleichen, hieß frisches Gras gegen Heu zu setzen. Es erfrischte nicht. Doch wenigstens hielt es ihr für eine gewisse Zeit Käfer vom Leib.

«Was meinst du, besser?», fragte Sh'Kara und schüttelte ihren Kopf.

Misha blinzelte nur, dann legte er seinen Kopf auf die Pfoten und schloß die Augen.

Es hieß, ausgebildete Empathisten könnten mit ihren Vertrauten eine tiefe Verbindung eingehen, so dass eine richtige Kommunikation möglich wurde. Es wäre schön, wenn sie einmal Antworten von ihm erhalten würde.

Mit routinierten Handgriffen richtete Sh'Kara ihren Schlafplatz ein und packte einige Vorräte aus. Sie hatte auf eine genauere Untersuchung des Platzes verzichtet und verdrängte nun ihr schlechtes Gewissen. Es war ja nur eine Ausnahme. Ihr Körper juckte von den Einstichen, sie war müde und es war immer noch heiß. Drückend und unfassbar heiß. Wie schafften es die Menschen hier im Inland bloß zu überleben?

Sie schlug nach einem Stechkäfer, der sich gerade auf ihrem Arm niederlassen wollte. Vielleicht lebte hier in der Gegend auch einfach niemand. Morgen würde sie wieder auf die Einhaltung der Reiseregeln achten. Ein ungesicherter Lagerplatz barg Gefahren und Sh'Kara wollte nicht leichtsinnig sein. Aber hier gab es keine Menschen und, abgesehen von Insekten, auch keine Räuber. Was konnte ihr hier also gefährlich werden?

Das Knurren ihres Magens riss Misha aus seinem Nickerchen. Er blinzelte zweimal, dann hob er die Lefzen zu einem Grinsen. Die frische Luft und das Bad hatten sie hungrig wie einen Bären gemacht. Ein Bär, dem jemand den Wintervorrat geklaut hatte.

Während er mit den Zähnen an einer Pfote knabberte, warf der Luchs zunächst ihr und anschließend dem Himmel einen prüfenden Blick zu.

«Du meinst, anstatt in der Gegend herumzustarren, sollte ich besser dafür sorgen, dass meine Haare langsam trocknen, richtig?» Misha antwortete, indem er einmal nieste, was sie als Zustimmung wertete.

Leise summend sammelte Sh'Kara einige trockene Äste vom Boden auf, schichtete sie zusammen und entfernte den dichten Moosboden um die Feuerstelle herum. Sie holte einen Glutstein und Zunder aus der kleinen Seitentasche ihres Rucksacks und entfachte ein Feuer. Als Sheena schließlich hinter dem Horizont verschwand und die Felder in kupfernes Licht tauchte, war sie fertig für den Dämmerungsgruß. Sie pfiff jene Melodie, die ihre Vorfahren schon genutzt hatten, um die Göttin zu ehren. Als nächstes warf sie weißen Salbei in das Feuer. Rauch zog über die Lichtung und verbreitete den würzigen Geruch von brennenden Kräutern.

«Shi tamo, Iyane.» Mit geschlossenen Augen dankte Sh'Kara der Göttin für die Magie, die in ihr wohnte und bat um einen weiteren glücklichen Tag. «Mea Sheena a shin klates.» Der Rauch legte sich wie ein schützender Nebel über den Lagerplatz. Das vertraute Ritual entspannte sie.

Trockenfrüchte, Brot und Rauchwurst stellten Sh'Karas Abendessen dar. Der Luchs beobachtete sie neugierig, seine rosafarbene Nase zuckte. «Magst du auch ein Stück Wurst?» Sie schnitt eine Scheibe ab und bot sie Misha an. Ihr Freund legte seinen Kopf zur Seite, als würde er darüber nachdenken, bevor er sich entschloß, die Gabe anzunehmen. Während er bedächtig kaute, zuckten seine Ohren erfreut. Schlauer Kerl. Sie lächelte ihm zu und begann, mit dem Kamm ihre restlichen Locken zu entwirren. Die Temperaturen fielen schnell, doch das Feuer spendete eine angenehme Wärme. «Es ist alles so anders, nicht wahr? Mein ganzes Leben habe ich auf diese Reise gewartet und nun ist es doch nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.» Als Antwort nickte der Luchs erhaben. Entgegen der Erwartungen, die man gemeinhin an katzenartige Geschöpfe hatte, war Misha nicht unbedingt ein Ausbund an Zärtlichkeit.

Seufzend holte sie ihre Schlafrolle und kuschelte sich neben den knisternden Flammen in eine kleine Erdmulde. Wenig später schmiegte sich der kräftige Katzenkörper auf ihre vom Feuer abgewandte Seite, wie ein heißer Stein, der an kalten Tagen in die Betten gelegt wurde. Als aus seiner Kehle ein beruhigendes Schnurren aufstieg, fielen ihr die Augen zu.

Mitten in der Nacht riss ein schrilles Kreischen Sh'Kara aus ihren Träumen. Es war unmöglich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein Angriff? Ihr Herz pochte laut in den Ohren, flüsterte von Gefahr und Bedrohung. Konzentriere dich! Wer mit fünf jüngeren Brüdern aufgewachsen war, dürfte sich von Überraschungen nicht lähmen lassen.

Überall um sie herum knackte es. Etwas Schweres polterte neben ihr zu Boden. Der Untergrund vibrierte. Ihr Feuer war längst erloschen, das Licht der Zwillingsmonde nur schwach. Der Lärm hinderte sie am Nachdenken.

Wer griff sie an? War das Magie?

Der dunkle Körper entpuppte sich als abgebrochener Ast. Endlich fanden ihre suchenden Finger einen Stein. Der Angreifer würde sich noch wundern, hilflos war sie nicht. Sh'Kara hob ihre Hände zu Verteidigung, dann richtete sie sich auf.

Wind brauste über ihre Mulde und warf sie beinahe um. Ihre Sinne gewöhnten sich allmählich an den Tumult.

Ein Sturm?

Ein weiteres Krachen. Instinktiv sprang Sh'Kara zur Seite. Aus der Mulde, mitten in das Chaos des Sturms. Los, tue etwas!

Lauf.

Sh'Kara verschloss ihre Ohren vor dem Heulen. Mit ihrem ganzen Gewicht stemmte sie sich gegen den Wind. Es war unmöglich, etwas zu erkennen. Wo war nur Misha? Schritt auf Schritt suchte sie sich einen Weg. Irgendwo musste es doch Deckung geben. Blätter flogen um sie herum. Ihr Fuß blieb an einem Stein hängen. Sh'Kara stolperte, fing sich und kämpfte weiter. Ihrem Instinkt folgend wankte sie auf den See zu.

War da nicht eine Höhle?

Der Wind griff sie immer wieder aus verschiedenen Richtungen an. Sie schwankte mehr als dass sie lief. Aber sie kam voran.

Ein mächtiges Grollen ertönte. Ihr Körper vibrierte. Sturmgeister ritten auf Donner und Hall, um ihre Opfer zu quälen. Mythos oder Wahrheit? Ein Blitz zerriss den Nachthimmel. Die Helligkeit blendete sie. Ihr Fuß traf auf etwas Hartes, knickte um und brachte Sh'Kara zu Fall. Hinter ihr ging ein Baum in Flammen auf. Die Getreidehalme peitschten ihre Beine, als sie sich aufrichtete, um weiter zu humpeln. Endlich erreichte sie ihr Ziel. Das Wasser wirkte beinahe so wild wie die blaue Hölle selbst. Der Wind trieb die Wellen ans Ufer. Wo war nur die Höhle? Ihre Füße versanken im Sand, jeder Schritt war ein Gewaltakt. Dann berührten ihre ausgestreckten Hände harten Stein.

Endlich. Vor dem Eingang hielt sie inne. Alleine eine Höhle zu betreten war gefährlich. Vielleicht lebte hier etwas, das nur auf sie wartete. Ob der Schutz der Reisemarke eher bei dem Gewitter oder einem Monster funktionierte, wusste sie nicht. Hätte sie doch nur mehr Sorgfalt walten lassen und die Reiseregeln beachtet.

Dumm.

Ein weiteres Grollen nahm ihr die Entscheidung ab. Eine bekannte Gefahr war immer schlimmer als eine Möglichkeit. Mit dem Stein in der erhobenen Hand betrat sie die Höhle.

Mit jedem Schritt, den sich Sh'Kara weiter ins Innere der Höhle wagte, wurde es leiser. Das Tosen des Sturms verblasste, bis es ihr Herzschlag war, der alles überdeckte. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Der Eingang der Höhle war schmal, doch bald gingen die Wände auseinander. In der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre anderen Sinne. Sollte sie hier warten, oder die Höhle zumindest notdurftig untersuchen?

Vor ihr klackte es. Ein schwer zu beschreibendes Geräusch, als ob ein spitzer Gegenstand auf harten Stein traf. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sich etwas auf sie zubewegte, doch sie spürte keine Gefahr. Sh'Kara legte den Kopf schief, fokussierte sich alleine auf ihr Gehör. Es erinnerte sie an Pr'Sabahs Holznadeln, wenn sie hinunterfielen. Ein vertrauter Klang, den sie mit etwas ganz Anderem in Verbindung brachte. «Misha», flüsterte sie. Ein fellbedeckter Körper strich um ihre Beine. Auch wenn es ihr zuvor nicht aufgefallen war, aber Sh'Kara fühlte sich erst jetzt wieder vollständig. Ihre Beine zitterten vor Erleichterung. Iyane sei Dank.

Das Mädchen bückte sich, um ihr Gesicht im warmen Fell zu vergraben. Misha war dem Sturm offenbar unverletzt entkommen. Mit ein paar keckernden Lauten versuchte er, ihr etwas mitzuteilen, doch wie so oft verstand sie ihn nicht. Es hätte Sorge oder auch ein Bericht seiner Erlebnisse sein können. Als sie nicht reagierte, umfasst er sanft ihr Handgelenk mit seinem Kiefer und führte sie. Ihre Finger ertasteten Leinenstoff, Leder und Holzschnallen. Ihr Rucksack! Hatte er ihn etwa den ganzen Weg bis zur Höhle getragen? Sh'Kara durchsuchte ihre Habseligkeiten, bis sie einen runden, etwa handtellergroßen Stein fanden. Auf seiner Oberfläche spürte sie eine Rune und blies über die Vertiefung. Der Glimmstein erhellte sich langsam, sandte eine Welle aus Licht nach der nächsten in die Finsternis. Schließlich konnte sie wieder Einzelheiten ihrer Umgebung erkennen. Der Steinboden, die niedrige Decke. Der Luchs, der erhaben neben ihrem Rucksack thronte. Es dauerte einen Moment, bis sie die Puzzleteile zusammengesetzt hatte.

Misha musterte sie mit aufreizender Selbstzufriedenheit. Kein Härchen seines Pelzes schien am falschen Platz zu liegen. Als ob er schon vor Ausbruch des Sturms Schutz gesucht hätte. Um sie den Elementen zu überlassen.

«Iyaa! Spinnst du?», schrie sie und warf den Glimmstein auf den Boden. Laut klappernd traf beinahe ihren Fuß. Der Stein verlor immer mehr Leuchtkraft, bis er nur noch die Stärke von ein paar Funken enthielt. Iyaa, jetzt hatte sie auch noch die Rune beschädigt.

Mishas Ohren zuckten vorwurfsvoll, vermutlich eher aufgrund ihrer Lautstärke als der Ausdrucksweise oder dem Verlust des Glimmsteins. «Hättest du mich nicht wecken können? Ich wurde fast von einem Baum erschlagen!» Es kostete sie sehr viel Energie, um ihre Stimme zu dämpfen. Misha zwinkerte unbeeindruckt, seine Mimik war in der Dunkelheit der Höhle kaum zu deuten. Verärgert kniff sie ihre Augen zusammen. Was sollte das? Warum tat er ihr das an?

Sie blendete ihre Wut und ihre Enttäuschung aus, verschob die Emotionen an einen Ort, an dem ihr Urteilsvermögen nicht mehr beeinträchtigt werden würde. Tief durchatmen. Konzentration.

«War das ein Test? Eine Lektion?»

Misha schien zu nicken. Der Drang ihm den Hals umzudrehen war übermächtig, wenn auch wenig erfolgversprechend. Sie atmete ein weiteres Mal tief ein. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Misha immer einen Grund für sein Verhalten hatte.

Vor vielen Jahren hatte ihre Tante, Tia Alvares, erklärt, dass Luchse ihren Nachwuchs durch das Erleben eigener Erfahrungen erzogen. Lernen durch Schmerz.

«Du hast vermutet, dass ich zu dieser Höhle kommen würde», mutmaßte sie. Die Anspannung verließ ihren Körper und sie setzte sich auf den Boden. Sie spürte Moos unter ihrem Hintern. Weich und frisch. Offenbar hatte jemand hier ein Lager bereitet. Jemand mit Puschelohren. Doch wie hatte er es wissen können? Sh'Kara wusste es nicht. War es Glück oder Planung gewesen?

Misha musterte sie prüfend, als ob er noch etwas von ihr erwarten würde.

Sh'Kara starrte zurück, dann hob sie den Glimmstein auf. Eine winzige Ecke am Rande der Rune fehlte. Sie würde ihn bald zu einem Reparateur bringen müssen, doch für den Moment sollte es gehen. Mit dem Licht auf der Handfläche untersuchte sie ihre Umgebung. Die Höhle war klein und verfügte nur über einen Eingang. Selbstredend war sie leer, was Sh'Kara aber nicht überraschte. Sturm hin oder her, wer teilte schon seine Höhle mit einem Luchs? Vor allem einem, der aufgrund einer empathischen Bindung größer und schlauer als seine Artgenossen war und dem selbst Waldlöwen nicht gefährlich werden konnten. In diesem Fall wäre wohl der Sturm selbst das kleinere Übel gewesen. Sie kehrte zu Misha zurück und setzte sich auf das Moos. Immer wieder glitten ihre Finger über die glatte Oberfläche des Glimmsteines.

«Ging es dir darum, dass ich die Umgebung nicht untersucht oder die Anzeichen des Sturms übersehen habe?» Misha kuschelte sich zu ihr und nieste in ihr Ohr. «Also beides», übersetzte Sh'Kara. Natürlich.

Der warme Körper an ihrer Seite entspannte sie. Wie spät mochte es wohl sein? Müdigkeit überrollte sie, wie eine riesige Welle aus dem Endlosen Meer. Das Adrenalin hatte sie längst verlassen, nun verschwand auch das letzte bisschen Wut, das sie wach gehalten hatte. Sein Herzschlag klang ruhig und stetig. Dank des Mooses lag sie nicht auf dem harten Stein und ihr Kopf ruhte sich an Mishas Flanke. Er hielt still und erlaubte ihr, in als Kissen zu missbrauchen. Sie erkannte die Fürsorge, mit der ihr Luchs gehandelt hatte. Auch wenn seine Lektion nicht ihren Geschmack traf. Er fing wieder an zu schnurren, tief und vibrierend. Es gelang ihr nicht, gegen die Schwere in ihren Gliedern anzukämpfen. Es sprach wohl nichts dagegen, sich einen Moment auszuruhen. «Danke für das Moos», murmelte sie noch, bevor der Schlaf sie wieder zu sich holte.

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