07 - Das Gebetbuch

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Das lange Jahr neigt sich dem Ende zu. Das Dorf versammelt sich zum festlichen Advents-Gottesdienst in der Kirche. Und mein Gast bedauert, dass er nicht mitgehen kann. Es macht ihn so kribbelig, eingesperrt zu sein. Er möchte so gerne teilhaben am Dorfleben. Er ist offensichtlich ein sehr geselliger Mensch, der Gemeinschaft genießt. Als ich mich fertig mache für den Kirchgang, muss ich ihm versprechen, dass wir uns bald etwas einfallen lassen, wie wir ihn „legal" ins Dorf bekommen, ohne dass er entdeckt wird.
„Ich werde mir jedenfalls mal die Haare und den Bart weiter wachsen lassen. Und die niedrige Decke hier oben macht es mir leicht, mir eine krumme Haltung und eine schiefe Gangart zuzulegen."
Seine Augen blitzen fröhlich, sein verschmitztes Gesicht lächelt durch die Bodenluke zu mir herunter, und ich bin mal wieder froh, dass er mit seinem Gedächtnis nicht auch seinen Humor verloren hat. Nachdem ich also Hannes sein Frühstück nach oben gebracht und mich warm angezogen habe, ziehe ich alleine los zur Kirche, nur den Tragkasten mit dem Peterchen unterm Arm, und verspreche Hannes, dass ich ihm hinterher alles erzähle und mit ihm ein, zwei Lieder singe.

Kaum betrete ich die Kirche, kommen Jakob und die kleine Susanna auf ihren kurzen Beinchen auf mich zugelaufen. Ich spüre, dass die Kinder anfangen, mich zu vermissen. Vor allem Susanna braucht es eigentlich noch viel zu sehr, bei mir zu sein. Also gebe ich meinen Peter, der friedlich in seinem Tragekasten schläft, ab an Irmel und hebe Susanna auf meinen Schoß. Sie kann schon fein reden und plappert gleich drauflos, welche Geschichte die Lene ihr gestern zum Einschlafen erzählt hat. Aber als der Pfarrer aus der Sakristei kommt und wir den ersten Gesang anstimmen, wird sie schnell still und lehnt sich einfach in meine Arme.

Mit großen Augen betrachten die Kinder des Dorfes die mit Tannengrün geschmückte Kirche und den Stern. Der hölzerne, gezackte Festbote ist wie ein Prophet für die Kinder. Er wird immer erst neben dem Altar von der Decke gehängt, wenn die Kinder tags zuvor fertig sind mit dem Schmücken der Kirche. So sehen sie ihn vorher nicht und haben immer noch etwas, worauf sie sich freuen können. Feierlich stimmen wir das „Nun komm der Heiden Heiland" von Luther an.
Der Pfarrer spricht die Eingangsworte, und dann wendet er sich direkt an die vielen Kinder.
„Wisst ihr noch, was wir vor ein paar Tagen besprochen haben? Heute ist es endlich so weit! Heute beginnt der Advent, die Zeit, in der wir auf die Geburt unseres Heilands warten. Ich habe wohl gemerkt, wie ungeduldig ihr seid. Und darum habe ich euch versprochen, dass ihr an den Kerzen sehen könnt, wie lange es noch dauert."
Er zündet die erste Kerze auf dem Altar an und dreht sich wieder zur Gemeinde.
„Nächsten Sonntag werde ich zwei Kerzen anzünden. Danach drei Kerzen. Und wenn ich die Vierte anmache, dann ist Weihnachten da!"
Glücklich glänzen die Gesichter der Kinder. Nun kann der Gottesdienst seinen Lauf nehmen. Innig betet das ganze Dorf, dass wir gemeinsam den Winter überstehen mögen, dass der Herr gnädig mit uns sein und uns bewahren möge. Und jeder hier weiß, woran alle anderen denken. Die beschlagnahmte Sau.

Nach dem feierlichen Auszug aus der Kirche strebe ich zum Vogt, um ihm von der neuesten Entwicklung zu berichten. Gleichzeitig sehe ich, wie der kleine Jasper den blinden Jasper an der Hand nimmt, und dann steuern die beiden ebenfalls den Vogt an. Kurz darauf finden wir uns in der Küche von der Lene wieder, die nämlich den Klaas und mich zum 1. Advent zum Mittagessen eingeladen hat. Der Vogt stößt auch dazu, der kleine Jasper lenkt Jakob und Susanna ab.
Und dann kann der blinde Jasper nicht mehr an sich halten.
„Vogt Drebber! Die Knechte des Steuereintreibers gestern – zwei waren bei mir drin. Und der eine hatte eine Stimme ..."
Gespannt sehen wir ihn alle an, denn Jaspers Gabe, Stimmen wieder zu erkennen, ist beeindruckend.
„... wie einer der Männer, die in der Sturmnacht nach dem Fremden gesucht haben!"
Ich zucke zusammen.
Das ist unfassbar! Warum sucht ein Knecht unseres Lehnsverwalters – oder seines Steuereintreibers – nach unserem heimlichen Gast?
Klaas und die Lene machen große Augen.
Der Drebber kratzt sich verwirrt den Bart.
„Oh Herr! Ich bin das Spekulieren und Herumraten sooo leid! Wer ist dieser Mann??? Und warum suchen ihn alle, aber keiner gibt es zu?"
Wir wissen keine Antwort.
Ich spüre, wie schwer ihm die Verantwortung für das fremde Leben, aber auch für die Menschen in diesem Dorf auf seinen Schultern lasten.

„Ich habe Neues zu berichten, da mein Gast nun seit Dienstag eigentlich immer den ganzen Tag wach ist. Er ist sehr unruhig, fühlt sich eingesperrt und will da raus. Gleichwohl ist völlig klar, dass er hier im Dorf bleiben möchte. Seine Sehnsucht ist, dass er eine legale Möglichkeit findet, von den Verfolgern unentdeckt und doch offen hier leben zu können. Er fragt mir Löcher in den Bauch, versucht, mir zu helfen, verlangt nach Arbeit, obwohl er das mit der Verletzung noch gar nicht kann."
Eigentlich freuen sich alle, dass er so gut zu Wege ist. Aber als ich ihnen erzähle, wie wütend er über den Steuereintreiber war, dass er ein neues Schwein bezahlen will, wie ich ihm an der Nasenspitze angesehen habe, dass er das selbst in die Hand nehmen will, schauen mich die anderen groß an.
Klaas findet als erster die Worte wieder.
„Das heißt, er hat seine Kleidung und diesen prallen Beutel gesehen und weiß immer noch nicht, wer er ist?"
Ich nicke.
„Er ist so durcheinander. Er will alles wissen über das Dorf, unser Leben, unsere Arbeit, hat aber keine Ahnung davon. Er fühlt sich einfach, will nicht 'Hoher Herr' genannt werden, sieht seine feine Kleidung – und schleudert sie in die Ecke, weil sie nicht in sein momentanes Bild von sich selbst passt. Er verliert bald die Sprache ob seines Reichtums, und das einzige, was sein Hirn ausspuckt, ist die Idee, dass ER ja dann wohl der Wegelagerer war."
Alle schütteln den Kopf.
„Aber er will uns mit dem Geld helfen? Merkt er selbst nicht, wie sehr er zu entscheiden und zu befehlen gewohnt ist???"

Ich schüttele den Kopf.
„Offensichtlich nicht. Wir sollten anfangen zu überlegen, wie wir ihn da oben runter kriegen. Sonst dreht er durch. Er hat mich sogar vorgestern um etwas zu lesen gebeten."
Wir reden lange hin und her und kommen schließlich auf die Idee, dass er – sobald er wieder recht bei Kräften ist – doch heimlich in den Wald gehen und dann am hellichten Tage, als Wanderbursche gekleidet, auftauchen könne. Er könne im Dorf als Knecht anheuern und wäre dann ganz legal hier. Er könne am Dorfleben teilhaben und mit in die Kirche gehen. Bliebe das Problem, dass um die Jahreszeit keine Knechte zu wandern pflegen, dass um die Jahreszeit kein Dörfler einen neuen Knecht und weiteren Esser brauchen kann – und dass er bei den nächsten Steuerheimsuchungen nicht als Dorfbewohner auftauchen dürfte, weil er erkannt werden könnte. Und dann müssten wir doch dem ganzen Dorf erklären, warum wir so viel Geferz um einen dahergelaufenen Knecht machen.
Der Vogt wiegt nachdenklich den Kopf.
„So weit hergeholt ist das nicht. Jeder Mensch weiß, dass ein Hof von einer Frau allein bewirtschaftet werden kann. Aber jeder hier weiß auch, dass ein Knecht bei dir, Anna, ab der Frühjahrsfeldarbeit das ganze Dorf entlasten würde. Und wenn jetzt einer daher käme, wäre das eine Gelegenheit, die wir ergreifen und allen anderen auch so verkaufen könnten. Bleibt das Problem, dass dieser Knecht des Steuereintreibers ihn erkennen könnte als den, den er vor ein paar Wochen noch ermorden sollte. Und dass dieser Mensch so nah aus dem Umfeld unseres Verwalters kommt, behagt mir überhaupt nicht."
Seufzend vertagen wir das Problem. Aber jedem ist klar, dass wir damit nicht mehr lange warten dürfen. Und zu lange dürfen wir heute auch nicht mehr beieinander hocken. Also gehen die Jaspers und der Vogt nach Hause.
Der alte Jasper bekommt das Schmunzeln und sagt zum Abschied leise:"Wenn er denn als Wanderbursche hier auftaucht, könnte er ja mit einem Schwein auf Wanderschaft sein ..."

Wir anderen essen nun die köstliche Suppe mit dem frischen Brot, die die Lene uns zubereitet hat. Sie weiß selbst aus Wasser noch mit Kräutern ein schmackhaftes Essen zu zaubern. Zwischendurch hat das Peterchen sein Teil gefordert, und nun ist Susanna auf meinem Schoß eingeschlafen. Ich bringe es kaum übers Herz, sie zu wecken und hier zu lassen. Also schicke ich meinen Jakob nach Hause, er soll ganz sorgfältig das Bündel aus meiner Kiste holen und unterwegs ja nichts fallen lassen. Freudig flitzt er davon und kommt nach einer Viertelstunde wieder mit dem roten Wams, dem gelben Garn und meinem kleinen Nadelbündel. Wir Frauen genießen es zu schwatzen, die Kinder genießen es, um uns herum mit Steinchen und Stöckchen zu spielen, und meine Hände säumen fleißig mit Nadel und Faden die Schlitze am feinen Wams des Verwalters. Mir ist bewusst, dass ich Hannes damit lange alleine lasse. Aber gleichzeitig genieße ich die Gesellschaft von Lene und den Anblick meiner fröhlich spielenden Kinder.
Als die Dämmerung einsetzt, verabschiede ich mich von der Lene, die meine Anwesenheit auch genossen hat, und den Kindern, die nun müde gespielt sind. Ich schnüre sorgfältig mein Bündel und strebe nach Hause. Hannes wartet.

Nachdem ich nun fast den ganzen Tag fort gewesen bin, empfängt Hannes mich mit Freude und Erleichterung. Ich habe ihm den Rest der Suppe von Lene mitgebracht, die er begierig löffelt. Ich selbst esse dann etwas Brot, wir trinken beide Buttermilch, die ich aus der Ziegenmilch gewinne. Während ich die Hühner füttere, die Ziegen melke und die Milch zur Weiterverarbeitung beiseite stelle, den Hafer für den Frühstücksbrei schrote und einweiche, hockt sich Hannes auf meine Pritsche, mit meinem Gebetbuch in den großen, feingliedrigen Händen, und schaut mir bei der Arbeit zu. Ich sehe an seinen Augen, dass er schon wieder am liebsten mittun möchte, aber nicht weiß, wie. Noch kann er den rechten Arm nicht benutzen. Jede Bewegung schmerzt in der Wunde. Und in der Seele auch.

„Frau Adam ... Ich ... habe wieder geträumt."
Schnell schaue ich ihn an und mustere sein Gesicht.
„Was war es diesmal, Hannes?"
Er lächelt in sich hinein.
„Es ... war eigentlich ein schöner Traum. Viel farbiger und leichter. Ich nehme jetzt mal an, dass ich Hannes bin, auch wenn ich wieder kein Gesicht hatte. Und Ludo auch nicht. Aber er war da. Wir waren in einem Garten mit einer hohen Mauer. Eine strenge Stimme hat uns ermahnt, wir sollten uns benehmen. Aber kurz danach sind wir kichernd in ein Gebüsch gekrochen und durch eine Tür in der Mauer entwischt. Wir sind irgendwie unter die Erde und von dort in den Keller eines nahen Hauses gegangen. Mehr hab ich nicht gesehen, aber das Haus ansich hat sich gut angefühlt. Dann war alles schwarz. Und zum Schluss habe ich kurz gesehen, wie ein sehr fein gekleideter junger Mann an einem großen Fenster steht und ins Weite starrt. Seine Hand war richtig in den Vorhang gekrallt. Aber er hatte nur traurige Augen, den Rest vom Gesicht konnte ich nicht erkennen."

Kurz lacht er auf.
„Ich scheine mein ganzes Leben lang immer auf der Flucht gewesen zu sein."
Ich hocke mich mit meinem Stickzeug in der Hand auf den Schemel an der Feuerstelle, damit ich Licht habe. Auf seine letzte Bemerkung gehe ich lieber nicht ein.
„Das ist doch eine ganze Menge, Hannes. Was denkt ihr selbst zu diesen beiden Momenten?"
Er zögert.
„Ich denke, dass Ludo und ich zusammen gehören. Und dass wir gut miteinander waren. Und der traurige Mann ... Ich fühle, dass das nicht ich bin."
Eine ganze Weile schweigt er.
„Vielleicht ist es Ludo, und er sucht nach mir."
Endlich! Es fügen sich Teile zueinander, und es sind schöne dabei.

Im nächsten Moment erwischt er mich jedoch ganz kalt.
„Was erinnert Ihr aus Eurer ganz frühen Jugend? Wart Ihr schon immer im Waisenhaus?"
Ich zucke zusammen. Fast hätte ich mich mit der Sticknadel gestochen.
Warum trifft mich das so? Ich lebe schon immer damit, hatte schon immer meinen Frieden damit. Und auf einmal bringen mich Hannes Fragen so sehr durcheinander, ich kann gar nicht sagen, wie.
Aus lauter Verunsicherung schweige ich, bis Hannes sich einen Ruck gibt.
„Frau Adam? Darf ich Euch etwas fragen?"
Seine Frage kommt vorsichtig und unsicher. Ich schaue ihn erwartungsvoll an, und ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Was denn, Hannes?"
Er zögert noch einen Moment.
„Ist es Euch unangenehm, wenn ich nach dem Leben im Dorf und nach Eurem Leben frage? Manchmal antwortet Ihr einfach, aber dann beim nächsten Mal wieder wirkt Ihr, als wolltet Ihr die Worte nicht aussprechen sondern am liebsten runterschlucken. Es ist wie bei einer Schnecke, der man auf die Fühler haut."
Schnell senke ich den Blick auf meine Hände, sortiere die Stickarbeit und beginne einen neuen Saum.
Was soll ich darauf denn antworten? Es ist einfach sehr ungewohnt für mich. Und Fragen nach meiner Herkunft empfinde ich als unangenehm. Oder wollte er eigentlich etwas ganz anderes fragen?
„Wisst Ihr, Hannes, ich bin es nicht gewohnt, dass jemand nach mir fragt, dass jemand wissen will, wer ich bin, dass es irgendjemand kümmert, wo ich herkomme oder hin will. Ich weiß, wie ich heiße, was ich kann und dass meine drei Kinder das Wichtigste auf der Welt sind für mich. Mehr interessiert doch nicht. Das ... das verwirrt mich einfach."

Aufmerksam hat Hannes mir zugehört. Nun schüttelt er den Kopf.
„Frau Adam, darf ich mit Eurer Erlaubnis sagen, dass das Unsinn ist?"
Verblüfft fliegt mein Kopf hoch.
„Ihr seid nicht unwichtig. Für mich seid Ihr zum Beispiel der Grund, dass ich überhaupt noch lebe. Ihr und Euer zugiger Dachboden seid im Moment meine ganze Welt. Und darüber hinaus seid Ihr eine wirklich arme, verwitwete, unfreie Bauersfrau, die aber lesen kann, ein teures Buch besitzt, eine Ausbildung als Feinstickerin hat. Eine einfache Frau, die durchscheinen lässt, dass sie sich mit den Höflichkeitsformen und Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft auskennt. Eine zierliche Frau, die es mutig mit vier fremden Kerlen aufnimmt, die das Leben ihrer Kinder, das Leben eines jeden Wesens über den Hunger, über den Hass, über den Verrat und die Unmenschlichkeit stellt. Ihr habt Rückgrat, Ihr habt Anmut und Erziehung, Ihr strahlt Hoffnung aus, wo alles verloren scheint. Und so jemand soll unwichtig sein? Das soll mich nicht neugierig machen dürfen? Diese Welt bräuchte noch viel, viel mehr Anna Adams, nicht nur die eine."
Irgendwann habe ich meine Stickerei sinken lassen und nur noch ins Feuer gestarrt, habe schließlich die Hände vors Gesicht geschlagen, weil ich den Blick seiner freundlichen Augen nicht mehr ausgehalten habe.

Noch nie in meinem Leben hat mich jemand so angesehen, hat so viel in mir gesehen. Ich erkenne mich in seinen Worten kaum wieder. Meine Ziehmutter im Waisenhaus, die Freifrau von Lenthe, hat mich mit so viel Wissen, Anstand und Herz erzogen, dass ich das alles nun mal weiß. Aber ihre Nachfolgerin hat mich kaltherzig als Magd hier aufs Dorf geschoben, mein Jakob hat nach dem Tod seiner Frau getrauert und mich dann geheiratet. Er war immer anständig zu mir, er war ein Mensch, der mit Humor und Zuversicht das Leben angepackt und die Menschen um sich herum wertgeschätzt hat. Mir ging es gut mit ihm. Aber dennoch war ich nur eine unfreie Bauersfrau. Und nicht dieses Wunderwesen, von dem Hannes zu reden scheint. 

Hannes wartet ab, gibt mir Zeit, fragt dann schließlich weiter, ganz leise.
„Bin ich Euch zu nahe getreten? Das war nicht meine Absicht."
Lange ist es still in meiner kleinen Kate. Hannes wartet bange auf eine Antwort, ich lausche in mich hinein. Da taucht ein Lied aus meiner Seele auf, dass mich Gott ganz nahe fühlen lässt. Ich beginne „Nun komm der Heiden Heiland" zu singen, das alte Adventslied von Martin Luther, das wir auch heute Morgen schon in der Kirche angestimmt haben. Mein seltsamer Gast schließt lauschend die Augen und summt nach einer Weile leise mit.
Als das Lied verklungen ist, habe ich wieder den Mut, ihn anzusehen.
„Nein, Hannes, Ihr seid mir nicht zu nahe getreten. Es ist einfach, als sprächet Ihr von einer anderen Person, nicht von mir. Soviel Wertschätzung ist seltsam fremd und ungewohnt. Ich danke Euch."
Wie beschämt senkt er den Kopf. Dabei fällt sein Blick auf das Gebetbuch in seiner Hand. Er schlägt es auf und blättert darin, bleibt bei einer Seite stehen und liest leise. Er trägt Luthers Abendsegen vor, und ich spreche auswendig mit.

Ich danke dir, mein himmlischer Vater,
durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn,
dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast,
und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde,
wo ich Unrecht getan habe,
und mich diese Nacht auch gnädiglich behüten.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele
und alles in deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir,
dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist!
Amen.

Eine ganze Weile ist es still, während ich Stich um Stich an den Schlitzen des feinen Wamses entlang säume und Hannes mit geschlossenen Augen auf der Pritsche hockt. Er sieht aus, als lausche er in sich hinein. Minuten vergehen, bis er die Augen wieder öffnet, seufzt und leise den Kopf schüttelt.
„Ich versuche alles, wirklich alles, ob auf irgendetwas hier eine Antwort in meinem Kopf auftaucht. Sei es die Einrichtung dieser Hütte, seien es Eure Erzählungen vom Dorfleben, seien es meine Kleidung, die ich mit geschlossenen Augen durch meine Hände gleiten lasse auf der Suche nach einem Gefühl oder irgendeiner Erinnerung. Geräusche, Gerüche. Aber da ist nur Leere. Es ist, als riefe ich Worte und Bilder in eine große leere Höhle, und es hallte kein Echo von den Wänden wider."
Ach, wenn ich ihm doch helfen könnte! 
Seine verloren gegangene Seele irrt umher und wartet darauf, wieder gefunden zu werden.
„Mir ist, als bliebe mir tatsächlich nichts anderes übrig als genau das: Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Mein verlorenes Leben, mein verwirrter Geist, meine umherirrende Seele liegen in Gottes Hand. ... Und Ihr seid mein Engel, der mir Obdach gibt, bis sich alles wieder zusammen fügt."
Ich weiß schon wieder nicht, wo ich hinsehen soll.

Sein Engel ... seltsame Idee. Ich tue doch nur, was getan werden muss. Oder?
„Ich denke, es ist Zeit zu schlafen."
Um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Worte berührt haben, packe ich sorgfältig meine Stickarbeit zusammen und verwahre sie in meinem Kasten. Wieder etwas gefasster wende ich mich ihm zu, lächele ihn an und wünsche ihm eine gute Nacht. Hannes steigt die Leiter hinauf. An den Geräuschen kann ich hören, dass auch er sich zur Ruhe bettet. Meine Pritsche kommt mir ohne die Kinder so leer vor. Ich nähre noch einmal das Peterchen. Und dann liege ich noch eine Weile wach im Dunklen.
Sein Engel ...

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1.12.2021

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