08 - Sankt Nikolaus

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Ein Geheimnis verbirgt sich hinter unserer guten alten Lene, das kein kleines Kind des Dorfes kennt. Wenn zweimal im Jahr Schafschur ist, wird der größte Anteil Wolle der kleinen Dorfherde dem Lehnsherrn abgegeben, verkauft oder zu Kleidung für uns versponnen und verwebt. Aber die minderwertige Wolle, die zu nichts anderem taugt, das verspinnt die fleißige Lene jahrein jahraus zu Garn und nadelbindet daraus für jedes Kind im Dorf ein Paar feste, warme Strümpfe. Diese Strümpfe bekommen dann die Kinder in der Nacht nach dem Fest des heiligen Nikolaus. Das ganze Jahr spinnt und nadelbindet sie, damit alle Kinder im kommenden Winter warme Füße in ihren Holzklompen haben.

Wie jedes Jahr zwei Tage vor Nikolaus lässt sich die Lene dann von Klaas durchs Dorf helfen und besucht alle Familien. Meine beiden Großen lässt sie bald im Pfarrhaus. Der Pastor Johann Crüger und seine Frau Birgitta haben Kinder im gleichen Alter, so dass Susanna und Jakob gleich mit Cristoff und Evchen im Spiel versinken. So bekommen sie gar nicht mit, dass die ersten zwei Paar Strümpfe in Birgittas Schürze wandern. Im Laufe des Vormittags arbeiten sich Klaas und Lene auf der Kirchseite die Straße entlang und lassen überall die Strümpfe da. Schließlich kommen sie auch bei mir auf der Mühlenseite an.
Klaas bringt die Lene zu mir rein und macht sich dann auf den Weg, die Strümpfe für Mathis und Laurenz auf den Hügel zur Mühle zu tragen. Der ist zu steil für die Lene. Die beiden großen Jungs der Müllersfamilie wissen längst, dass die Gaben nicht vom Nikolaus sondern von der Lene kommen. Aber dieses Jahr gab es genug Wolle, und die Jungs sind so sehr gewachsen, dass sie es sich nicht hat nehmen lassen, auch den beiden nochmal je ein Paar zu arbeiten. Mit einem Augenzwinkern steckt er Britt ein kleines Bündel zu, und die Jungs fangen an zu strahlen. Vor allen den Großen zwicken die alten Strümpfe doch inzwischen sehr.

Bei mir kommt derweil Hannes die Leiter runtergekrabbelt. Alle anderen heimlichen Unterstützer hat er ja in den letzten Tagen kennengelernt. Aber nun sieht er endlich auch die Lene und bedankt sich sehr höflich und ehrlich bei ihr, da ihre Kräuterkunde mit geholfen hat, dass er noch am Leben ist. Sehr aufmerksam begutachtet Lene die größere Wunde, übergibt mir weitere Kräuter und verbindet Arm und Schulter wieder. Hannes hat bei der Untersuchung etwas die Zähne zusammen gebissen, aber als der Verband wieder sitzt, lächelt er schon wieder freundlich.
„Was denkt Ihr, Frau Lene, wann ich den Arm wieder brauchen kann? Wenn ich seh, wie Frau Adam den ganzen Tag schuftet und werkelt, möchte ich so gerne helfen. Ich langweile mich auf dem Dachboden halb zu Tode."
Die Lene wiegt bedächtig den Kopf.
„Ich verstehe Eure Ungeduld. Und es wird auch nicht mehr aufreißen und zu bluten beginnen. Aber die Muskeln wollen in Ruhe heilen. Es könnte sonst sein, dass der Arm nie wieder so stark wird wie zuvor. Und ich denke, dass es Euer Schwertarm ist. Da solltet Ihr noch eine Woche zuwarten."
Seufzend wuschelt sich Hannes mit der gesunden Hand durch die Haare und fährt sich dann übers Gesicht, als wolle er die Ungeduld fortwischen. Ich habe diese Geste schon öfter bei ihm beobachtet.
Bei seinem komisch verzweifelten Blick muss ich mir immer das Lachen verkneifen.
„Hannes, ich glaube, ich habe dennoch eine gute Nachricht für Euch. Denn die Nikolausstrümpfe für meine Kinder müssen ja nach dem Füllen übermorgen in der Nacht zurück zur Lene, da meine Kinder dort schlafen. Und auch der blinde Jasper bekommt jedes Jahr ein Paar. Wenn wir das mitten in der Nacht machen, könnt Ihr mich dabei begleiten und etwas Nachtluft in Freiheit schnuppern. Was denkt ihr?"
Sofort hellt sich seine Miene auf, und er macht ein Freundentänzchen um mein Herdfeuer herum.
„Freiheit!"

Lene und ich müssen sehr lachen. Aber doch auch wieder bremsen.
„Ach, Hannes. Dann muss ich Euch wohl an die Leine legen, damit Ihr mir nicht übermütig werdet! Haltet bloß stille! Zur Belohnung gibt's dann auch noch einen Besuch bei Hurtig."
Hannes reißt bei dem Wort 'Leine' die Augen auf und steht mit einem Mal stockstill da. Mit theatralisch trauriger Miene lässt er sich wieder neben Lene auf die Bank am Tisch plumpsen.
„Dann bin ich wohl das Rapunzel aus dem Märchen, das aus seinem Dachbodenturm nicht entkommen kann!"
Wir lachen ihn nun tüchtig aus. Und ich kann mir nicht verkneifen, ihn noch ein bisschen zu ärgern.
„Zu einer echten Rapunzel dauert es aber noch ein paar Monate bis Jahre. Euer Haar ist zwar gewachsen und wuschelig. Aber bis ich an Eurem Zopf auf den Dachboden klettern kann, glauben meine Kinder nicht mehr an den Nikolaus. Wollt Ihr wirklich sooo lange da oben hocken?"
Hannes reißt die Augen noch weiter auf und schüttelt so heftig den Kopf, dass seine dunklen Locken nur so fliegen. Und weil wir ihn schon wieder auslachen, krabbelt er beleidigt die Leiter wieder hinauf und legt sich schmollend ins Stroh. Lene gibt mir mit einem Augenzwinkern das Bündel mit Strümpfen, und dann macht sie sich mit dem Klaas auf den Rückweg, um auch auf der anderen Dorfseite die Strümpfe zu verteilen.

Am Dienstag Nachmittag kommt mein kleiner Jakob auf dem Heimweg vom Müller zur Lene in meine Hütte geschossen und ist ganz aufgeregt. Ich bin grade dabei, frische Buttermilch anzusetzen, als ich meinen Großen plötzlich an der Schürze hängen habe.
„Frau Mutter, Frau Mutter! Morgen Nacht kommt der heilige Nikolaus. Ich freu mich schon so. Was er mir wohl diesmal in die Strümpf steckt!"
Ich lasse ab von meiner Milch und hocke mich neben Jakob hin.
„Wer weiß, was der Nikolaus diesmal für die braven Kinder mitbringt! Ich weiß nur, dass mein Jakob und meine Susanna ganz, ganz brave Kinder waren in diesem Jahr. Ihr habt mir immer so tapfer geholfen, wenn ich allein nicht zurande kam mit dem ganz kleinen Peterchen. Ihr werdet gewiss nicht vom schwarzen Piet die Rute bekommen. Und wenn er Zweifel hat, werd ichs ihm schon sagen!"
Jakob atmet feste aus, strahlt mich an und legt seine dünnen Arme um meinen Hals. Viele Eltern nutzen den Nikolaus, um ihre Kinder das Fürchten zu lehren. Aber das finde ich grausam. Sie sollen helfen und gehorchen, weil sie Achtung haben. Nicht aus Furcht! Ich nehme Jakob fest in die Arme.
„Lauf! Die Lene wartet sicher schon. Es wird auch bald dunkel."
Mein Herz wird warm, als ich sehe, wie erleichtert und fröhlich Jakob wieder aus der Türe auf die Dorfstraße flitzt. Ganz hibbelig und vorfreudig läuft er im Zickzack um die Pfützen herum und winkt mir noch einmal zu.
Dann zucke ich etwas zusammen, als direkt über mir die Stimme von Hannes erklingt, der bei Besuch doch eigentlich ganz versteckt bleiben soll.
„Was tut denn der Nikolaus so in die Strümpfe?"
Vorwurfsvoll schaue ich zu ihm hinauf, aber er zwinkert meine Bedenken sogleich weg.
„Am Waldrand stehen viele Haselsträucher. Und zu den Nüssen stecken wir den Kindern noch Hutzeln in die Strümpfe. Getrocknete Apfelschnitze, Pflaumen und Birnen lieben alle Kinder."
Auf einmal klingt Hannes ganz zaghaft und zögerlich.
„Darf ... darf ich die Strümpfe mal sehen?"
Da es mir im Grunde egal ist, wann ich die Strümpfe für die Kinder fülle, winke ich ihn herunter an den Tisch. Dann greife ich die Dose mit dem Dörrobst und das Säckchen mit den Nüssen.

Als ich grade Hannes bitten will, mir einen Strumpf aufzuhalten, damit ich die Nüsse hineinrutschen lassen kann, sehe ich seinen abwesenden Blick. Er hält die kleinen Socken in der Hand, fühlt das raue Garn und versucht so verzweifelt, irgendetwas zu fühlen oder zu erinnern, dass es mir in der Seele weh tut.
„Hannes?"
Er schreckt auf, und sein Blick kommt von sehr, sehr weit her.
„Hannes, vielleicht kann ich Euch ein kleines bisschen helfen. Ihr seht so ratlos aus und traurig."
Er löst seine Augen von der Handarbeit und richtet sie auf mich.
„Denn wenn Ihr Euch nicht an solche Socken erinnern könnt, muss das nicht heißen, dass Ihr die Erinnerung an solche Dinge verloren habt. Es kann auch einfach heißen, dass Ihr in Eurem früheren Leben solche Strümpfe weder selbst getragen noch irgendwie gekannt habt."
Ich bin mir sogar absolut sicher, dass ihm so etwas noch nie begegnet ist. Aber wenn ich ihm das sage, glaubt er mir wieder nicht.
Ich versuche es trotzdem.
„Ich glaube nicht, dass Ihr Euer Gedächtnis vollständig verloren habt. Es fehlen nur die Erinnerungen an das, was Euer Leben oder Euer Schicksal bedeutsam gemacht hat. Ihr könnt immer noch lesen und schreiben. Ihr erinnert Namen und zum Beispiel Euer Pferd. Ich glaube einfach, dass Ihr früher mit grober, bäuerlicher Kleidung, mit hölzernem Essgeschirr, mit einer Strohschütte als Bett nicht in Berührung gekommen seid. Und das heißt: in der Hinsicht ist Euer Gedächtnis vollkommen in Ordnung."

Etwas Hoffnung breitet sich aus in seinem Gesicht. Doch dann greift er sich plötzlich wieder an die Schläfen und kneift die Augen zu. Tausend Gefühle jagen über sein Gesicht, sein Atem stockt, Tränen laufen ihm über die Wangen. Vorsichtig lege ich ihm eine Hand auf den Arm.
„Hannes? Kann ich euch helfen?"
Ein tiefes Stöhnen entringt sich seiner Brust.
„Das ... Bild. Ich will das nicht! Nein!"
Sein Leid tut mir in der Seele weh. Ich rutsche neben Hannes auf die Bank und nehme ihn einfach lange in den Arm, bis er wieder ruhiger atmet.
„Das..."
Er schnieft und will schon die Finger nutzen. Aber ich reiche ihm einen Lappen, und er schneuzt sich. Stockend beginnt er zu erzählen.
„Ich habe vier Kinderbeine von einem Himmelbett baumeln sehen. Die Kinder ziehen sich grade feine lange Strümpfe an. Sie kichern, und das sind glaube ich die Kinderstimmen von Hannes und Ludo. Plötzlich sagt eine fremde Stimme: 'eure Mutter ist tot.' Die Jungen liegen sich weinend in den Armen, und dann springt Hannes auf und davon."
Schon wieder ist er auf der Flucht!
Stumm schüttelt er den Kopf.

Dann holt er tief Luft, wischt die erneuten Tränen fort und wechselt schnell das Thema.
„Wie füllt Ihr die Socken nun, Frau Adam?"
Ich kann nur akzeptieren, dass er nicht mehr darüber reden will. Also zeige ich ihm, wie ich immer zwei Socken ineinander stülpe. Er hält mir eine Doppelsocke offen entgegen, so dass ich die Spitze mit Haselnüssen füllen kann. Dann wickeln wir je ein paar Trockenfrüchte in einen kleinen Lappen, damit die Strümpfe nicht klebrig werden, und stecken diese kleinen Bündel in die Strümpfe hinein. Er hält mir diese Päckchen hin, während ich sie jeweils mit einem Rest bunten Wollfadens zubinde. Dann verstaue ich die Päckchen unter meiner Kleidung in meinem Kasten. Als ich mich umdrehe, ist Hannes bereits die Leiter nach oben verschwunden. Und ich weiß, dass er nun dort oben liegt und seine Tränen vor mir verbirgt.

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Als der Mittwoch anbricht, summt das ganze Dorf vor lauter Aufregung. Die Kinder sind heute kaum zu bändigen, und die Mütter und Mägde haben allerlei auszuhalten deswegen. Manche Kinder sind heute sehr schweigsam, schleichen mit schlechtem Gewissen umher, sind besonders anstellig und fürchten sich vor der Rute. Andere sehnen sich in seliger Vorfreude nach der besonderen Überraschung, flitzen pausenlos durch die Dielen und Ställe, machen alle Tiere wuschig und sind überhaupt nicht in der Lage, zuzuhören und mitzuhelfen. Die Älteren dagegen freuen sich schlicht auf ein Paar neuer heiler, passender Strümpfe und etwas Naschwerk.
Wie in jedem Jahr lässt sich der blinde Jasper am Nachmittag in die Kirche bringen und erzählt dort den versammelten Kindern die Geschichten vom heiligen Nikolaus, der Bischof im fernen Myra war und so oft im Namen Gottes und zum Wohle der Menschen wundersame Dinge bewirkt hat. Unsere Kinder wissen, was es heißt, arm zu sein. Auch sie sehnen sich nach einem, der ihnen Gutes zum Leben gibt. Und so lauschen sie andächtig, sind beschäftigt, und die Mütter atmen eine Weile auf, weil die kleinen Unruhestifter aus dem Haus sind. Jasper ist ein wundervoller Erzähler, er malt Bilder mit Worten, direkt aus seinem Herzen heraus.

Als es zur Abendstunde läutet, schickt er die Kinder wieder nach Hause. Sie können vor Aufregung kaum essen, werden wieder quengelig und werden bald ins Bett gesteckt. Natürlich nehmen sie sich alle vor, ganz bestimmt nicht einzuschlafen, damit sie den Nikolaus diesmal auch wirklich nicht verpassen. Und doch liegt bald schon das ganze Dorf in tiefer Ruh. Erleichterte Eltern schließen die Tür zur Kammer und hängen die gefüllten Strümpfe davor oder stecken sie in die bereitgestellten Holzklompen am Hauseingang. Dann schlafen sie auch, denn die Kinder werden diese Nacht recht früh beenden.
Hannes ist seit gestern Mittag sehr schweigsam. Aber im Laufe des Tages wächst auch bei ihm die Aufregung, weil er sich so sehr freut, endlich mal aus dem Haus zu kommen, ein paar Schritte gehen zu können, das Dorf zu sehen und seinen Hurtig besuchen zu dürfen. Erst schrote ich das Getreide für den Brei für morgen. Dann sitzen wir abends gemeinsam beim Herdfeuer, ich sticke fleißig und Hannes liest mir aus dem Gebetbuch vor. Manchmal unterhalten wir uns darüber, was uns dieses oder jenes Gebet bedeutet, was wir glauben. Und so warten wir die Zeit ab, bis wir losgehen können.

Nachdem ich spät zur Nacht das Peterchen noch einmal genährt habe, ziehen wir beide uns ganz warm an, denn es ist inzwischen noch kälter geworden. Wahrscheinlich gibt es heute Nacht Frost. Ich greife die drei gefüllten Sockenpaare aus dem Kasten, Hannes steigt in seine feinen Stiefel, legt sich den dunklen Mantel um – und dann schauen wir vorsichtig zur Tür hinaus. Der Himmel ist bedeckt, der Mond kaum zu finden, ich ahne mehr, als dass ich weiß, wo es die Dorfstraße entlang geht. Aber das ist heute genau gut so, denn Hannes darf besser nicht gesehen werden.
Jeder im Dorf weiß, dass ich spät noch zur Lene laufe, um die Strümpfe für meine Kinder dort abzuliefern. Und so schert es keinen, dass die Hunde anschlagen.
"Es ist ja nur die Anna."
Hannes streckt sich, zieht tief die frische Nachtluft ein und wartet kurz auf mich, denn erst klemme ich die Strümpfe für Jasper an dessen Türgriff. Natürlich hat die Lene auch an ihn gedacht. Ich schleiche mich zurück und winke Hannes aus dem Haus. Dann gehen wir los. Wir schweigen, konzentrieren uns darauf, die Spiegelung der Wolken in den Pfützen zu sehen und drumrum zu laufen, damit wir keine nassen Füße bekommen. Immer wieder schaue ich verstohlen zu Hannes hin, denn erst jetzt, wo er so aufrecht und befreit neben mir herläuft, erkenne ich, wie groß er tatsächlich ist. Beim Jungbauern Klaas nickt Hannes mir kurz zu, biegt ab und kratzt wie verabredet leise an der Tür, während ich weiter zur Lene gehe und die gefüllten Socken für meine Kinder bei ihr abgebe. Dann schleiche ich mich schnell hintenrum direkt in Klaasens Stall.

Als ich die Tür öffne, sind Klaas und Hannes bereits bei der Pferdebox angekommen, und Hannes ist zu seinem großen Braunen hineingegangen. Ich kriege grade noch mit, wie aus dem misstrauischen Schnuppern von Hurtig die reine Pferdefreude wird. Das Tier entspannt sich sichtlich, drängt sich an Hannes und stupst ihn mit seinem samtweichen Maul an. Hannes strahlt und reagiert intuitiv. Er umfasst den Hals des großen Tieres und vergräbt sein Gesicht in der Mähne. Er murmelt sanfte Worte und krault Hurtig an einer bestimmten Stelle am Bauch, was das Tier offensichtlich zu genießen scheint.
Schmunzelnd lassen Klaas und ich den glücklichen Mann allein und gehen vor zur Diele.
„Klaas, warst du heute Nacht schon mit Hurtig auf der Almende?"
Klaas schüttelt den Kopf.
„Ich hab mir gedacht, dass Hannes vielleicht mit mir gehen und dann von dort gleich zu dir nach Hause laufen möchte. Denn allzu lang darfst du ja nicht warten, bis du durchs Dorf zurück läufst."
Ich verstehe sofort, was er meint.
„Das ist wirklich eine gute Idee! Da wird Hannes sich sehr freuen. Wie findet er dann hintenrum den Weg zu mir?"
Klaas winkt ab.
„Das wird schon, ich helfe ihm dazu."
Nun geht er zurück in die Pferdebox, umwickelt gemeinsam mit Hannes die Hufe des Pferdes, und ich verabschiede mich von den beiden. Sie schleichen hinten über den kleinen Küchengarten raus Richtung Almende und Wald, während ich leise zurück zur Dorfstraße gehe und mich direkt auf den Weg nach Hause mache. Wieder schlagen die Hunde an, wieder tanze ich um die Pfützen drumrum. Ich fühle mich leicht und zufrieden. Zu Hause nutze ich die Zeit und fülle schnell noch die Socken, die Lene für Hannes gestrickt hat.
Er wird Augen machen! Damit hat er sicher nicht gerechnet.

Erst nach einer ganzen Weile trifft Hannes wieder bei mir ein, und sein Gesicht strahlt wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Man sieht ihm an, dass die kalte Nachtluft und die Bewegung ihm gut getan haben. Aber vor allem die Begegnung mit seinem geliebten Hurtig war seiner Seele eine Wohltat. Er schleicht zur hinteren Tür, in meine Kate, kommt mit schnellen Schritten auf mich zu und nimmt mich überschwänglich in die Arme vor Glück. Ich zucke zusammen bei dieser ungewohnten Nähe zu einem fremden Mann.
Kurz danach gibt er einen seltsamen Laut von sich, fährt weg von mir und fängt an zu stottern.
„Verzeiht, Frau Adam. Wie ungehörig! Es ... tut mir so leid. Ich wollte nicht ... Vergebt mir. Ich ..."
Ich bin recht erschrocken bei diesem plötzlichen „Überfall", aber seine Verwirrung und Verlegenheit, sein hilfloses Stottern sind so unschuldig und ehrlich, dass ich ihn nur noch auslachen kann.
„Seid still, Hannes. Das waren genug Entschuldigungen. Es ist doch nichts passiert, als dass Ihr Euch unbändig freut. Und das ist wunderbar! Geht schlafen und vergesst es. Träumt lieber einen schönen Traum von einem Ritt mit Hurtig durch lichte Wälder, zusammen mit Freunden. Gute Nacht!"
Immer noch verlegen krabbelt er die Leiter hinauf. Bald schon höre ich das Stroh rascheln und weiß, dass er heute Nacht gut schlafen wird. Ich nehme die Leiter ab wie jede Nacht, lege sie auf den Boden und binde ans obere Ende seine gefüllten Strümpfe. Dann stelle ich die Leiter wieder auf und lehne sie an die Wand. Ich bin gespannt, was er wohl morgen früh sagen wird, wenn er heruntersteigen will und die Strümpfe entdeckt. Ich hab mich sehr gefreut, dass die Lene für ihn noch genug Wolle gehabt hat. Dann gehe auch ich endlich ins Bett.

Aber ich liege noch eine ganze Weile wach, starre an die dunkle Decke und lausche in mich hinein. Ich bin seit ein paar Tagen nicht mehr sooo sehr müde. Ich weiß wohl, dass es daran liegt, dass ich im Moment ohne Jakob und Susanna so viel Ruhe habe. Aber ich belüge mich nicht selbst. Ich weiß auch, dass meine gehobene Stimmung mit daran liegt, dass ich Hannes bei mir habe. Das Rätsel um seinen Namen und seine Herkunft beflügelt meinen hungrigen Geist, der Erfolg seiner Heilung macht mich glücklich. Ich genieße es, dass ich interessante Gespräche führe, hofiert werde. Er ist das erwachsene Gegenüber, das ich schon so lange nicht mehr um mich gehabt habe. Er ist klug und interessiert und ...
Und ich sollte dringend aufhören, seine Anwesenheit so sehr zu genießen, denn er findet hoffentlich ganz bald sein Gedächtnis vollständig wieder und kehrt zurück in sein eigenes Leben, das so weit von dem meinen entfernt ist, dass wir uns nie wieder sehen werden!
Mit dem Gedanken an sein herrlich verblüfftes Gesicht beim Anblick seiner eigenen Strümpfe schlafe auch ich dann endlich ein.

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Lange, bevor es draußen hell wird, hört man aus den Häusern des Dorfes das Juchzen der Kinder, die zwar den Nikolaus schon wieder verpasst, aber nun ihre Strümpfe an Kammertüren und Bettpfosten, in Holzklompen oder Körbchen vor der Türe gefunden haben. Den Frühstücksbrei wird wohl so manches Kind heute nicht brauchen, weil es sich nicht verkneifen kann, sofort von den süßen Hutzeln zu naschen.
Ich darf dagegen ausschlafen, wenn man mal vom Peterchen absieht. Die Dämmerung ist schon fast rum, als ich wach werde, das Eis auf der Wassertonne aufschlage, damit ich mich ein wenig waschen kann, und das Herdfeuer anfache, um uns einen Kräutertee zu kochen. Ich zerstoße eine Hand voll Nüsse und koche sie mit dem seit gestern Abend gequollenen Schrot und ein paar klein geschnittenen Dörrpflaumen auf. Dann gehe ich zu Zick und Zack, um sie zu melken. Das Krüglein fürs Peterchen stelle ich beiseite. Den Rest stelle ich zusammen mit der Milch der letzten drei Tage auf den Herd, um einen kleinen Käse anzusetzen, denn die Sommervorräte schrumpfen merklich. Die ganze Zeit summe ich eine fröhliche Morgenmelodie vor mich hin.

Da poltert es oben, Hannes gähnt laut und ausgiebig. Ich fülle den Tee in zwei große Becher und stelle zwei Holzschüsselchen mit dem Brei dazu. Ich weiß selbst nicht, warum ich heute morgen so zufrieden und guter Laune bin. An dem ausreichenden Schlaf kann es nicht liegen. Eher schon an dem schönen späten Abend, als ich Hannes so glücklich erlebt habe. Aber ich mag das gar nicht zerdenken, ich genieße es lieber und summe weiter mein Lied. Als ich grade den Tisch für uns beide gedeckt habe, höre ich oben die Schritte von Hannes. Also stelle ich ihm die Leiter an die Luke und freue mich diebisch auf seine Reaktion. Bald danach höre ich ihn oben ein „guten Morgen" murmeln. Seine Füße erscheinen auf der Leiter, dann seine Beine, noch eine Sprosse weiter – dann bleibt er stehen.
„Äh."
Stille. Ich verkneife mir ein Kichern.
„Frau Adam? Was ..."
Ich kümmere mich ganz ungerührt weiter um die erhitzte Milch auf dem Feuer.
„Guten Morgen, Hannes. Habt ihr gut geschlafen?"
„Die sind ja riesig! ... Äh, ja, danke! ... Sind die ..."
Nun muss ich doch lachen. Ich drehe mich zu ihm um und freue mich an seinem verwirrten Gesicht.
„Der kalte Sommer hat uns die Ernte geschmälert. Aber den Schafen hat er mehr Wolle wachsen lassen. Die Lene hatte noch Zeit und Garn. Ja, das sind Eure, Hannes."
Er nestelt die Strümpfe von der Leiter und rutscht fast die letzten Sprossen herunter. Strahlend wie ein Kind hockt er sich an den Tisch und streift sich die Wollsocken über.
Bevor ich mit dem Käse weiter mache, setze auch ich mich auf die Bank, wir sprechen unser Dankgebet, verspeisen beide genüsslich den Brei und wärmen unsere Hände und Bäuche an dem heißen Tee. Lang darf Hannes aber nicht unten bleiben.
„Ich weiß nicht, ob die Kinder nicht vielleicht kommen werden, um ihre Gaben vorzuzeigen. Ihr solltet bald wieder nach oben gehen, Hannes."
Er nickt, spült schnell seine Schüssel und Löffel mit etwas Wasser aus der Tonne, räumt beides zurück aufs Brett an der Wand und steigt die Leiter wieder hinauf. Und das ist keine Minute zu früh.

„Guten Morgen, Mutter!"
Plötzlich knallt die Tür der Hütte auf.
Wir müssen wieder vorsichtiger sein. Gut, dass ich das geahnt hab!
Der Jakob kommt mit glänzenden Augen, dampfendem Atem und freudigem Strahlen herein geschossen. Er ist völlig außer Atem. Er muss durchs ganze Dorf gerannt sein!
„Frau Mutter! Der Nikolaus hat mir die Strümpf gebracht. Mit Nüssen drin. Und Hutzeln!"
Ich knie mich zu ihm hin und bewundere seine Füße, die er mir – auf dem Hosenboden sitzend – stolz entgegen streckt. Ich zupfe an der Hacke, an der Spitze, kitzele seine Zehen und lobe die Strümpfe gebührend.
„Die Nüss und Hutzeln will ich mir einteilen, jeden Tag nur eins, dann hab ich ganz lang davon. Und schau, der Nikolaus kann recht fein arbeiten. Er hat sogar verschiedene Wolle genommen, dass die Strümpf geringelt sind. Meine Füße sind sooo warm darin! Und Susannas Str..."
„Ich will selbst erzählen!"
In dem Moment kommt auch Susanna zur Tür herein. Die beiden müssen der Lene ausgebüchst sein, und meine Kleine hat einfach länger gebraucht für den langen Weg durchs Dorf. Sie schlingt ihre dünnen Ärmchen um meinen Hals, schiebt sich auf meinen Schoß und hält nun auch ihre Füßchen hoch.
„Mutter, schau, ich hab Punkte auf den Strümpf, die sehen aus wie Herzen!"
Ihre kleinen Finger zeigen auf die einzelnen Maschen, die Lene mit dunkleren Wollresten aufgestickt hat.
Ach, du liebe Lene! Hast du es dir wieder nicht nehmen lassen, jedes Paar ein kleines bisschen anders zu arbeiten. Weißt du eigentlich, wieviel Glück du in die Herzen unserer Kinder zauberst? Bis auf deine Bienen und deine Kräuterkunde kannst du nicht mehr viel arbeiten, aber das ganze Dorf hat Glück von dir!
„Wir haben sooo gestaunt. Und Mutter, die Lene hat sich grad so sehr gefreut wie wir! Sie weiß auch nicht, wie der Nikolaus ins Haus kommen konnte. Sie hat alles abgeriegelt am Abend!"

Die Freude sprudelt nur so heraus aus meinen Kindern. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Hannes aus dem Dunkel zu uns herunter lunzt. Ich schüttele den Kopf und vertreibe ihn damit wieder. Aber lange halte ich das auch nicht mehr aus. Ich will ihn da runter und meine Kinder recht bald wieder bei mir haben.
„Ich freu mich auch ganz dolle mit euch. Aber sagt mal - weiß denn die Lene, wo ihr hingesaust seid?"
Die Kinder senken den Blick bei meiner mahnenden Frage. Sogleich springen sie auf, schlüpfen wieder in ihre Holzklompen und laufen zur Tür. Der Jakob ruft noch was, dann sind sie verschwunden.

Ich stehe in der offenen Türe und sehe ihnen nach. Ich schließe sie erst wieder, als ich leise Hannes fragende Stimme höre.
„Frau Adam? Ist das das Glück, Kinder zu haben?"
Noch ganz verzaubert nicke ich und kümmere mich mit einem Seufzer der Sehnsucht wieder um meinen Käse. Der hat nun inzwischen mit Lab gekocht und kann umgefüllt und ausgepresst werden. Die Molke fange ich in einer breiten Schale auf.
„Mal ist es Schmerz, mal Angst oder Zorn. Aber oft genug ist es dieses Glück, ja. Und ich fühle übergroße Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, der mir diese Sonnenscheine geschenkt hat. Ich würde alles für sie tun!"
 
Hannes liegt mal wieder bäuchlings vor der Bodenluke und schaut zu mir herunter. Aber seine Augen gehen in weite Ferne.
„Ob ich wohl auch Kinder habe? Die mich so lieben, wie diese ihre Mutter lieben? Die beiden sind wundervoll. Ich kann eure Liebe verstehen. Ich ... ich möchte nicht länger hier versteckt sein. Und ich sehe doch, wie sehr Ihr die Kleinen vermisst! Könntet Ihr recht bald ein Treffen beim Vogt zu später Stunde vereinbaren, damit wir planen können, wie ich hier herunter kommen kann? Bis zur Weihnacht müssen die Kinder wieder hier sein können!"
Ich halte einen Moment inne in meinen Bewegungen. Aber ich wehre mich nicht, spricht er mir doch zu sehr aus der Seele.
„Ich will es gern versuchen, Hannes."

Den Rest des Tages sind wir beide sehr schweigsam. Ich nutze die Ausreißerei meiner Kinder, um zur Lene zu gehen. Ich tue so, als wäre ich besorgt und wolle nach dem Rechten sehen. Dabei zwinkern wir uns zu. Ich warne sie schonmal vor, dass der Klaas sie nach dem Einschlafen der Kinder holen könnte. Auf dem Rückweg halte ich mit dem Klaas ein Schwätzchen, der grade seinen Esel die letzten Grashalme draußen fressen lässt. Dann schaue ich beim Vogt rein. Und schließlich erwische ich Irmel am Brunnen und kann mit ihr reden, während wir auf dem Weg nach Hause sind. Eine Weile danach kriegt der kleine Jasper nebenan Besuch von seinem Freund, dem Siegfried Drebber, und die Jungs gehen wie so oft zum blinden Jasper, um von ihm das Schnitzen zu lernen. Ich sehe das und muss schmunzeln. Der Siegfried wird spätestens jetzt auch eingeweiht sein. Und nun wissen alle Verbündeten Bescheid. Vielleicht wird es schon heute Abend was mit dem Treffen.
Nach dem Mittag legt Hannes sich für eine Weile hin, während ich schon wieder am Herd sitze und sticke, damit ich auch ja rechtzeitig fertig werde. Der kleine Jasper steckt irgendwann auf dem Weg nach Hause den Kopf durch meine Türe und sagt nur schnell:"Heute Abend! Klaas holt euch."
Ich informiere den Hannes, dass die Botschaft im Dorf rum ist, und Klaas uns holen wird. Bis dahin warten wir einfach ab.

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3.12.2021

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