20 - innere Not

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Di. 2.1. a.d. 1571

Das neue Jahr ist angebrochen. Der Winter hält das ganze Land in seinen eisigen Klauen. Noch reichen die Vorräte, es gibt genug Futter für all unser Vieh, alle im Dorf sind gesund. Hat mal einer einen Schnupfen, wird sogleich die Lene geholt und bringt die richtigen Kräuter mit. Ich danke Gott täglich für die Bewahrung auf der Reise und für das Leben meiner kleinen Tochter. Ich bete um Vergebung für die Hartherzigkeit des Verwalters und für unsere Blindheit für die Gefahr, in die wir die Kinder gebracht haben. Ich danke für den Wirt in Gieboldehusen und den Bauern in Rhumaspring. Und ich bitte darum, dass wir beiden Männern recht bald ihr Eigentum zurückbringen und uns gebührend bedanken können.
Jorge heizt recht gut ein, damit meine klamme Kate bald wieder etwas Wärme hat, und am nächsten Morgen ziehe ich mit meinen Kindern und meinem Knecht Hannes zurück in die Adamskate. Erneut richten wir uns ein. Da finden die Kinder die selbstgefertigten Sterne auf dem Tisch.
„Mutter, die haben wir ja ganz vergessen!"
Ich überlege schnell.
„Nein, Jakob. Die haben wir nicht vergessen. Wir mussten uns nur erst ums Sannchen kümmern. Und die Weihnachtszeit ist ja auch noch nicht vorbei. Erst Anfang Februar ists vorbei, und bis dahin sind es noch fünf Wochen. Komm, wir stellen den großen Stern vors Haus!"
Und so schmücken wir nun endlich unsere Haustür, stellen den großen Stern vor die Hecke und suchen allerlei schöne Plätze, wo wir im Haus die kleinen Sterne aufhängen können. Bald schon baumeln sie von der Wand, von Hannes Bodenleiter, von der Decke, an der Tür zum Verschlag von Zick und Zack und an vielerlei anderen Stellen im Haus. Wir haben etwas Mühe, den Großen klar zu machen, dass es keine gute Idee ist, die Sterne in Reichweite von Ziegen aufzuhängen, sonst wären nun auch welche bei Zick und Zack drinnen. Aber schließlich sehen die Kinder doch ein, dass die Sterne dort nicht lange leben würden.

Endlich fühlt sich das Leben sorglos an. Allerdings nicht für lange Zeit. Denn nun naht der erste Samstag des Januar. Wir haben keine Ahnung, ob der Steuereintreiber es schaffen wird, bei diesen Straßenverhältnissen in die Dörfer zu kommen und die üblichen Steuern einzutreiben. Aber uns wird allmählich bewusst, dass wir uns nun etwas einfallen lassen müssen, wie wir Hannes als neuen Knecht im Dorf präsentieren können, ohne dass jemand ahnt, wie er in Wahrheit zu uns gekommen ist. Denn immer noch wissen wir nicht, wer er eigentlich ist, woher er in Wahrheit stammt und wer ihm nach dem Leben getrachtet hat. Die Bedrohung, der Bedroher ist irgendwo da draußen. Und er scheint etwas mit dem Steuereintreiber zu tun zu haben, denn der blinde Jasper hat ja die Stimme des einen Knechtes wiedererkannt. Wieder geht unser Vogt durchs Dorf, entscheidet, wer den Steuersätzen gemäß was zu geben hat, und lässt alles ins entsprechende Haus bringen.

Anschließend aber treffen wir uns mal wieder mit den Verbündeten an meiner langen Tafel bei einem Becher heißem Tee. Die Kinder sind bei Irmel. In meiner Diele sitzen der Vogt Drebber, Jorge und Jasper Krumm, der blinde Jasper, Jungbauer Klaas Rand, die alte Lene, Pastor Johann Crüger, Oswald Ferz, Hannes und ich. Brot, Käse und warmes Bier stehen auf dem Tisch.
Der Vogt fasst zusammen, was wir wissen.
„Hannes kam Mitte November zu uns, wurde mitten in der Nacht im Wald überfall'n und schwer verwundet. Kurz darauf suchten vier Männer nach ihm. Als er aus dem Fieber aufwachte, träumte er von sich als Hannes, von einem Ludo, den er für seinen Bruder hält, von seinem Peerd Hurtig, auf dem er öfter ritt. Er träumte vom Tod seiner Mudder, von zwei Jungen, die an einem Grab standen. Hurtig, die Kleidung und der volle Beutel lassen darauf schließen, dass Hannes aus gutem Hause stammt, vielleicht sogar von Adel ist. Als kurz darauf mal wieder der Steuereintreiber dat Dorp heimsuchte, erkannte Jasper die Stimme eines der Knechte als die Stimme einer der Männer aus der Nacht des Überfalls wieder. Nun frage ich als erstes Euch, Hannes, ob Ihr inzwischen mal wedder was geträumt habt."
Aber Hannes schüttelt den Kopf.
„Seit ich offiziell Knecht des Pastors bin und in der Adamskate wohne, habe ich nichts mehr geträumt außer einmal kurz vor unserer Fahrt nach Gieboldehusen. Aber das hattet Ihr bereits in Eurer Aufzählung erwähnt. Ich bin hier glücklich, ich liebe diese drei Kinder von ganzem, ganzem Herzen, ich bin Teil der Dorfgemeinschaft geworden, ich baue mir ein neues Leben auf. Krumm laufen, dumm kucken, lahm sprechen und Dialekt radebrechen wird mir allmählich zur zweiten Natur. Und in mir drin fragt es immer seltener nach dem alten Leben, das sich vor mir selbst verborgen hält."

Der Vogt lächelt.
„Dat iss schön, Hannes. Ihr seid auch sehr willkommen hier. Aber es is auch unangenehm. Denn es fühlt sich für mich immer noch falsch an, Euch von Eurem früheren Leben fernzuhalt'n. Was auch immer es war – ich hielte es immer noch für weitaus besser, Ihr wüsstet doch, zwischen welchen beiden Leben Ihr Euch da eigentlich entscheidet. Wie auch immer – für dat Dorp seid Ihr der Knecht des Pastors. Auch für den Steuereintreiber solltet Ihr der Knecht des Pastors sein, weil dat für uns alle am wenigsten Schwierigkeiten bringt. Da stellt sich mir die Frage, ob Ihr nicht zumindest für die Wahrnehmung des Steuereintreibers auch beim Pastor wohn'n solltet."
Johann Crüger schaltet sich nun ein.
„Meine Frau und ich haben gestern Abend auch darüber nachgedacht. Die Stimmung im Dorf ist sehr für Euch, Hannes. Alle mögen Euch. Ihr habt in der kurzen Zeit bereits zwei Männer vor einem Sturz bewahrt, Frau Adam und die Kinder heil durch den Schneesturm nach Haus gebracht und nächtelang die fiebernde Susanna spazieren getragen, weil sie es bei niemand außer Euch und Anna ausgehalten hat. Ihr habt Männer wie Frauen hinter Euch. Wir werden also keine Schwierigkeiten haben, dass alle helfen, Euch hier leben zu lassen. Dennoch muss das alles hier für den Steuereintreiber vernünftig und schlüssig aussehen. Darum hat meine Frau vorgeschlagen, nun doch die Dachkammer für Euch herzurichten. Die ist aber eigentlich so unzumutbar, dass Ihr dort natürlich nicht wohnen werdet. Wir wollen nur den Schein wahren können, falls jemand Euren Wohnort wird sehen wollen."

Hannes war bei der Erwähnung der Dachkammer zusammengezuckt, hat sich dann aber gleich wieder entspannt.
Ich glaube ihm nicht, dass er sich so leicht von seinem früheren Leben verabschiedet hat. Er klammert ja fast an mir und meinen Kindern. Ich bin das Bindeglied zum früheren Hannes. Als wäre ich seine einzige Sicherheit in diesem Leben.
Er lässt sich allerdings nichts anmerken.
„Wenn meine Sicherheit hier im Dorf davon abhängt, dass ich einmal im Monat so tue, als würde ich hin und herziehen, dann ist das so. Mein trockenes, dichtes Dachstübchen ist jetzt so gemütlich mit euer aller Hilfe. Da mache ich gerne ab und zu den Aufwand und die Schauspielerei."
Vogt Drebber wiegt bedächtig den Kopf.
„Dennoch bleibt: Ihr seid wahrscheinlich weiterhin in Gefahr, und wir hab'n keine Ahnung, von welcher Seite diese droht. Also müssen wir Euch so gut wie möglich tarnen, damit niemand im Umfeld dieses Steuereintreibers Euch erkennen kann."

Lene schaltet sich ein.
„Ik könnt ihm die Haare viel heller bleichen. Es gibt allerlei Pflanzen, mit denen dat en Leichtes is."
Der kleine Jasper ist ein fröhlicher Bursche, und nun hat er in seinem jugendlichen Leichtsinn eine Idee.
„Der Steuerheini geit doch immer zum Vogt und lässt sich alle Listen zeigen. Wenn er da erfährt, dat es einen neuen Dorpbewohner gibt, wird er ihn sehen woll'n. Also lassen wir Hannes beim Ferz bei den Schweinen wart'n. Wenn er antreten muss, lässt er eins frei, tut mit großem Hallo so, als wolle er es wieder einfangen und landet bei der Gelegenheit in unserem größten Misthaufen. Darin hat er doch Übung. Und keiner erkennt ihn mehr."
Jasper grinst breit – bis ihm sein Vater einen wohl gezielten Schlag auf den Hinterkopf gibt.
„Aua!"
Aber bevor Jorge wegen der frechen Bemerkung schimpfen kann, fängt Hannes schallend an zu lachen.
„Das ist eine tolle Idee! Und du und Siegfried, ihr helft mir dann 'gaaaanz zufällig', das Schwein wieder einzufangen. Aber dabei werde ich mich so von Kopf bis Fuß einSAUen ..."
Nun müssen alle lachen, denn diesem Wortwitz kann sich keiner mehr entziehen.
„..., dass mich meine eigene Mutter nicht mehr erkennen würde."

Auch mir gefällt die Idee auf Anhieb. Allerdings kann ich mir eine spitze Bemerkung nicht verkneifen.
„Aber dass eines ganz klar ist: ICH werde die eingeSAUten Kleider hinterher NICHT waschen!"
Wieder ertönt allgemeines Gelächter. Es klingt nach einer Lösung, die uns nun alle albern macht.
„Na, hoffentlich trifft dabei die SAU nicht der Schlag, sonst haben wir die SAUerei."
Hannes Augen glitzern vor Freude und Glück. Und der kleine Jasper mischt sich nochmal ein.
„Vielleicht könn'n auch Mathis und Laurenz von ihrem Schneeberg heruntergerutscht komm'n und mithelfen. Die Müllerjungs, Siegfried un ik hocken ja oft beisamm'n. Nich, dat uns die Sau sonst tatsächlich entwischt."

Also entscheiden wir, dass in Zukunft, wann immer uns der Steuereintreiber ins Haus steht, der Hannes angeblich unterm Dach des Pastors wohnt. Dass er seine Haare hell gebleicht bekommt. Und dass wir für diesmal eine fröhliche Sauhatz veranstalten werden. Der Siegfried weiß ja eh Bescheid, die Müllerjungs werden mittun, ohne zu wissen, dass es darum geht, den Hannes zu verbergen. Und bis Anfang Februar wird wieder viel Zeit ins Land gehen.

Doch dann wird der Vogt wieder ernst.
„Hannes? Ik segg dat nur ungern. Aber so sehr Ihr Euch hier wohlfühlt. Ihr dürft bitte nich für immer Eurem alt'n Leb'n entflieh'n. Es wird nich möglich sien, Euch hier bis ans Ende Eures Lebens zu verberg'n. Wir woll'n nich für immer lüg'n müss'n. Wir könn'n nicht auf ewig ein'm Feind aus dem Weg gaan, den wir nich mal kenn'n. Vielleicht hat er inzwisch'n aufgegeb'n und sucht nich mehr, weil er Euch über alle Berge oder dod glaubt. Aber sicher wiss'n wir dat nich."
Hannes hat den Kopf gesenkt und den Atem angehalten. Das hatte er nun sicher nicht hören wollen. Aber unser Vogt hat Recht.
Ich lege ihm vorsichtig die Hand auf den Arm.
„Hannes. Ich spüre, dass Ihr der Angst und den Träumen entkommen wollt. Dass Ihr Euch danach sehnt, dass einfach endlich Frieden einkehren möge in Eurer Seele. Aber ich fürchte, unser Vogt hat Recht. Und vielleicht hilft Euch dieser Gedanke: Ich bin mir sicher, dass Ludo sich sehr nach Euch sehnt und noch immer auf Euch wartet. Ich bin mir auch sicher, dass Ludo nicht das Problem war oder ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihr ihn gerne wiedersehen würdet. Kämpft darum. Und ich will Euch mit allem helfen, was Euch an guten Gedanken, Gebeten und Hilfestellung nutzen könnte."

Hannes schließt die Augen und atmet wieder aus. Ich kann seine Antwort kaum verstehen.
„Dank Euch, Frau Adam. Ich weiß das. Ich will Euch alle auch nicht missbrauchen. Ich ... Ich werde mir Mühe geben."
Und wieder einmal läuft er davon. Er steht auf, steigt seine Leiter hinauf und vergräbt sich raschelnd auf seinem Strohsack in seinen Decken. Seine Not ist für uns alle mit Händen zu greifen. Und doch dürfen wir nicht nachlassen, ihn zu einer Rückkehr zu ermutigen. Auf Dauer wird er dieses Leben nicht führen können, so sehr er unsere Gemeinschaft genießt. Auch wenn er es liebt, mit seinen Händen zu schaffen – seine Frage nach dem Gebetbuch, sein Hunger nach dem Gottesdienstbesuch in der Zeit seines Eingesperrtseins hier zeigen, wie sehr sein Verstand nach mehr verlangt.
Mit leisen Worten beschließt Vogt Drebber unsere Runde.
„Also. Wir hab'n eene Lösung für dieses Mal, auch wenn wir nich wiss'n, wann dat sien wird. Un wir hab'n Perspektiven für die folgend'n Male. Möge Hannes Seele bald gesund'n."

Nach und nach brechen unsere Gäste auf und gehen durch die Schneeberge nach Hause. Die Schneemassen haben auch ihr Gutes. Denn niemand kann von seinem Haus aus sehen, wer da grade von wo nach wo die Dorfstraße entlang geht. Wir konnten offen am hellichten Tage unser Treffen abhalten, ohne Misstrauen zu erregen.
Kaum ich die Türe hinter dem letzten Gast geschlossen habe, höre ich Schluchzen von oben. Ich schaue nachdenklich zur Leiter nach oben.
Könnte ich Euch doch nur helfen, Hannes!
Ich bereite uns etwas zu essen und lasse ihn in der Zeit ein bisschen alleine und zur Ruhe kommen. Dann steige ich mit dem Pederchen nach oben, lasse den einfach krabbeln und hocke mich neben Hannes auf seinen Schemel.
„Hannes? Seid ihr hungrig?"
Erst schüttelt er den Kopf. Dann dreht er sich aber doch zu mir und erhebt sich endlich. Er hat Tränenspuren im Gesicht. Ich gehe nicht drauf ein. So, wie wir da hocken, essen wir und schweigen dabei. Immer noch stumm reicht er mir seinen Teller, dreht sich wieder um und legt sich hin.

Einem Impuls gehorchend lege ich ihm meine Hand auf die Schulter, neige meinen Kopf, schließe meine Augen und beginne zu beten.
„Gütiger Gott im Himmel. Ich bitte dich für Hannes. Du siehst seine innere Not. Du kennst ihn durch und durch. Du weißt, wer er einmal war, wer er heute ist, wer er eines Tages sein wird. Du kennst sein Herz. Er ist gütig, freundlich, bescheiden und fleißig. Er ist treu denen, die er liebt. Er hat ein großes Herz für alle Kinder und sehnt sich nach Gerechtigkeit und Frieden. Er leidet unter der unbekannten Bedrohung und unter den düsteren Träumen. Gütiger Gott, ich bitte dich: beschütze seine Seele, bewahre ihm sein reines Herz. Gib ihm Antworten über sein Leben, die ihn frei aufatmen und vorwärts blicken lassen. Sei um ihn in Not und Einsamkeit. Bitte, füll du die Leere, die ich nicht füllen kann. Amen."
Noch einmal drücke ich Hannes Schulter, dann lasse ich ihn allein und steige mit dem Peterchen wieder hinunter. Als die Dämmerung hereinbricht, kommen Jakob und Susanna nach Haus.

Aber erst gegen Abend kommt Hannes wieder dazu. Er murmelt ein leises „Danke!", geht zum Peterchen und spielt mit dem Kind. Er kullert für den Kleinen mit den letzten Kiefernzapfen, lässt die Rassel verschwinden und wieder auftauchen, kitzelt ihn und bringt ihn immer wieder dazu, sein herrlich unbeschwertes Kleinkinderlachen erschallen zu lassen. Nach einer Weile kann er sich wieder aufrichten.
„Ich muss nochmal zu Hurtig, Frau Adam. Ich weiß noch nicht, wie lang ich brauch."
Er zögert einen Augenblick. Dann schaut er mich direkt an, und endlich klingt seine Stimme wieder fest und sicher.
"Noch einmal: danke!"
Und schon hat er seinen Mantel gegriffen und ist aus dem Haus geschlüpft. Ich atme auf. So gefällt er mir schon viel besser. Aber bevor er sich nicht seinem alten Leben gestellt hat, wird er immer wieder so einbrechen und davonlaufen. Es tut mir in der Seele weh, ihn so zu sehen.

In den kommenden Tagen schweigen wir viel. Hannes versorgt Hurtig und den Friesen, der uns anvertraut wurde. Die Kinder genießen seine Anwesenheit und spielen viel mit ihm. Jakob sieht ehrfürchtig zu ihm auf, und Susanna liebt ihn abgöttisch. Sie ist kaum von seinem Schoß zu bekommen, wenn sie müde ist. Er geht oft zu Klaas, Jorge oder Bauer Ferz, um alles zu lernen, was ein guter Knecht können muss. Und manchmal denke ich, dass er mir aus dem Weg geht. Dann wieder sitzen wir bei Lampenschein beisammen, haben fröhliche Mahlzeiten mit den Kindern, singen und lachen viel.
Aber Hannes ist nicht Hannes. Ich kann ihn vielleicht sogar verstehen. Er kann ja schließlich nicht machen, dass er träumt. Und dass diese Träume dann auch noch so sind, dass er daraus vernünftig etwas über sich selbst lernen kann. Seine Seele scheint eine Pause zu wollen. Und wenn wir ihn drängeln, wird es nicht besser. Es steigt nur der Druck in ihm.

Do. 4.1. a.d. 1571

Übermorgen ist Steuertag, aber der Schnee liegt unvermindert hoch, und keiner kann so recht glauben, dass dann jemand hierher kommen wird, um uns zu schröpfen. Als schließlich die Kinder im Bett sind, summt Hannes noch leise das Schlaflied mit, dann verschwindet er zügig auf seinen Dachboden. Ich fasse mir ein Herz, steige die Leiter ein Stück nach oben und schaue ihn fragend an. Er sitzt mal wieder im Schneidersitz vor seinem kleinen Tisch. Sein Lämpchen brennt, er hat das kostbare Papier vor sich, den Kohlestift in der Hand. Er starrt auf das Blatt, aber er schreibt nicht, sein Gesicht ist leer.
„Hannes, darf ich einen Moment hinaufkommen?"
Er zuckt zusammen und scheint von sehr weit her aufzutauchen. Er nickt bloß. Also klettere ich die Leiter vollends hinauf und hocke mich auf den Schemel neben ihn. Ich beobachte ihn eine Weile, wie er so verloren auf das leere Blatt starrt. Dann fange ich leise an zu sprechen.

„Hannes, ich glaube ich muss mich bei Euch entschuldigen, dass ich vorgestern ..."
Sein Kopf fliegt hoch.
„Nein! Wieso? Wofür denn? Ihr habt doch nichts getan!"
Oje!
„Dafür, dass ich mit den anderen zusammen so gedräng..."
Er schüttelt heftig den Kopf.
„Das stimmt doch nicht, Frau Adam! Ihr habt nicht gedrängelt. Der Vogt, Ihr ... habt doch Recht! Ich niste mich hier ein, lasse mir ein Nest bauen, lasse mich pflegen und durchfüttern. Alles tanzt um mich herum wie um das goldene Kalb, dabei bin ich ..."
Ich fahre ihm dazwischen.
„... eine Last? Hannes, ich hätte zum Verwalter gemusst, mit oder ohne Euch. Aber auf jeden Fall mit Peter. Und wir beide würden jetzt tot in irgendeiner Schneewehe liegen, wenn Ihr nicht gewesen wärt. Hättet Ihr nicht darauf bestanden, mich zu fahren. Hättet Ihr nicht gekämpft, bis wir wieder zu Hause waren, ich wäre niemals lebend hin und zurück gekommen bei diesem Wetter. Und Susanna würde auch nicht mehr leben, wenn Ihr nicht drei Nächte lang das Kind herumgetragen hättet. Keine Mutter, und wenn sie noch so liebt, kann alleine drei Tage und Nächte am Stück wach sein. Es ist ein Segen, dass Ihr hier seid."
Wieder schüttelt er den Kopf.
„Ich war doch einfach nur da. Letzten Endes war es Klaas, der uns gerettet hat."
Was für ein Unsinn!
„Hannes, Ihr redet Unsinn, und das wisst Ihr auch. Klaas hat am Schluss den Wagen nach Haus gefahren. Aber vorher habt Ihr einen ganzen Tag mit Umsicht und Verstand und all Eurer Kraft dafür gesorgt, dass wir so weit gekommen sind. Ihr hattet sogar Recht damit, dass sie suchen würden und sich damit selbst in Gefahr bringen. Wer weiß, wie weit Klaas geritten wäre und was ihm dann noch passiert wäre!"
Hannes sagt gar nichts mehr.

„Hannes, hört mir bitte einen Moment lang zu. Ihr seid zermürbt von diesen langen, dunklen Wochen. Ihr seid Euren Träumen genauso ausgeliefert wie Euren Nichtträumen. Ihr könnt nichts tun als abzuwarten, ob sich irgendwann etwas so ändert, dass Ihr doch noch herausfinden könnt, wer Ihr seid. Ihr wollt einfach nur zur Ruhe kommen und dazu gehören dürfen. Und dann kommen wir daher, reden klug und drängen Euch, als könntet Ihr Eure Träume beeinflussen. Das war nicht Recht. Nehmt es bitte als die Hilflosigkeit, die wir genauso empfinden wie Ihr, und vergebt uns unsere Ungeduld. Wir wollten Euch einfach sagen, dass wir Euch wirklich mögen und Euch gerne hier haben und Euch beistehen wollen. Mehr nicht."
Sein Kopf sackt auf seine Brust, er schließt die Augen. Kurz drückt er meine Hand, dann schweigen wir miteinander. Hannes ist verwirrt, erschöpft, und so schweige ich eine ganze Weile mit ihm und halte mit ihm aus, dass seine Seele sich ihm verweigert.

Als ich mich schon leise verabschieden und nach unten gehen will, packt er sich plötzlich in bekannter Weise an den Kopf und stöhnt auf. Er krümmt sich und atmet hektisch. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Ich lege ihm eine Hand auf den Rücken und warte ab. Irgendwann richtet er sich auf, sein Blick ist nicht mehr leer, er schaut mich an.
„Drei. Es waren drei. Aber das verwirrt mich. Es waren doch bisher immer nur Ludo und Hannes. Warum jetzt drei Jungen?"
Ich schaue ihn geduldig an.
„Es ... Es waren drei Jungs. Und ein Lehrer. Sie haben alle eifrig gelernt. Aber Ludo hatte viel mehr Geduld. Und der Dritte auch. Hannes hat zugehört, weil er musste. Die anderen, weil sie wollten. Irgendwann ist Hannes Blick aus dem Fenster gewandert, voller Sehnsucht. Der Lehrer hat ihn ermahnt. Er solle sich konzentrieren. Er habe die Pflicht, das zu lernen, die anderen würden ihm später dienen, aber er MÜSSE das lernen und verstehen."
Eine Weile ist es still. Ich sehe, wie er sich zwingt, aufrecht zu sein.
„Hannes, könntet ... könntet Ihr aufhören, stark zu sein? Es geht Euch doch damit nicht gut."
Und endlich sackt er weinend in sich zusammen. Wie Jakob, wenn er sich das Knie aufgeschlagen hat, nehme ich Hannes in die Arme und lasse ihn weinen. Schließlich fasst er sich wieder.
„Habt Ihr erkannt, was die Jungen lernen sollten? Hatte der dritte Junge einen Namen?"
Hannes schüttelt den Kopf.
„Der Lehrer hat geredet, irgendwas. Aber er war nicht zu verstehen. Ich habe nur diese eine Ermahnung verstanden. Und der dritte Junge ... Das Gesicht war mir vertraut, die ganze Situation war mir vertraut. Er war im gleichen Alter wie Ludo und Hannes. Sie waren miteinander vertraut. Aber ein Name?"
Hannes kneift die Augen zu und konzentriert sich. Doch sein Erinnerungsfenster scheint geschlossen.
„Nein. Kein Name."

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24.12.2021

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