38 - endlich wieder zu Hause

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Sa. 24.3. a.d. 1571

Nachdem Almuth Jansen gegangen ist, stehen Hannes, Karl und ich ganz alleine in der großen Halle. Karl auf der Treppe, Hannes am Fuße der Treppe und ich – einsam und verloren mitten in der riesigen Halle. Nur wenige Meter trennen Hannes und mich – und doch ein Abgrund, den wir nicht überbrücken können. Wir schweigen uns an, und die Stille schneidet mir ins Herz wie ein Messer.

Karl von Pagenstecher schaut sich das mehrere Minuten lang mit an. Dann seufzt er, steigt die wenigen Stufen zu Hannes hinunter und gibt ihm einen Schubs.
„Was habe ich dir in Lütgenhusen gesagt? Wage es nicht, ihr weh zu tun, oder du kannst dir aussuchen, ob Klaas oder ich dich einen Kopf kürzer machen!"
Mit diesen für mich höchst erstaunlichen Worten geht er kopfschüttelnd aus der Halle nach draußen.
Unsicher schaut Hannes mich an, aber ich – fange an zu lachen, weil diese Situation inzwischen genauso komisch wie seltsam ist. Ein Lächeln stiehlt sich in seine Augen und um seine Mundwinkel. Langsam kommt er auf mich zu.

„Anna? Erlaubst du mir, die Hoffnung für uns nicht aufzugeben, bis wir wirklich alle Möglichkeiten und Ideen ausgeschöpft haben? Darf ich versuchen, Dir UND den Kindern UND mir gerecht zu werden? Darf ich bitte Nachforschungen anstellen über Magdalena von Lenthe? Darf ich dich bitten, im Mai mit mir gemeinsam das Waisenhaus zu besuchen und dort nach deinen Spuren zu suchen? Und nach dem Schloss zum Schlüssel? Es ist mir wichtig, dass du das Leben lebst, das zu dir passt. Wenn du keine Nachforschungen willst, dann ist das so. Aber ich ... Es ist nur ein Gefühl, aber ich glaube, es ist wichtig. Lass es mich versuchen."
Intuitiv taste ich mit meiner Hand nach dem Schlüssel unter meiner Kleidung. Hannes ist nun bei mir angekommen und sieht mich abwartend an. Ich bin aber so sprachlos, dass mir erstmal nichts dazu einfällt.
„Warum ... Was hat ... Frau von Lenthe mit mir ..."
„...zu tun? Nach allem, was du mir erzählt hast, Anna, war sie sehr jung, als sie die Leitung des Christophorus-Heimes übernahm. Und du tauchtest gleichzeitig auf. Wie kommt es, dass eine so junge adlige Frau nicht von ihrer Familie verheiratet wird sondern in der Fremde so eine Aufgabe übernimmt? Alle Kinder sind nach der Ausbildung vermittelt worden. Du sagtest, du hattest das Gefühl, sie wolle dich bei sich behalten. Alle Kinder haben bei ihrem Weggang ihre Habe vom Anfang bekommen. Was ist mit deinen Sachen? Können sie etwas über deine Herkunft verraten? Was bedeutet der Schlüssel? Was der Bibelvers im Gebetbuch? Bist du gar nicht neugierig?"

Mir schwirrt der Kopf. Ich habe schon vor so langer Zeit aufgehört, diese Fragen zu stellen.
„Ich ... weiß das jetzt nicht, Hannes. Lass mich darüber nachdenken."
Hannes lächelt und nickt.
„Verzeih, dass ich dich damit so überfallen habe. Ich glaube, du möchtest jetzt vor allem eines – nach Hause! Richtig?"
„Ja!"
Mein Seufzer kommt aus tiefstem Herzen.
„Gut, dann sollten wir damit nicht länger warten. Noch ist es Zeit, heute ganz bis nach Lütgenhusen zu kommen. So sehr ich mich nach den Kindern und allen anderen im Dorf sehne – ich kann hier jetzt nicht weg. Ich werde also Konrad mit Dir losschicken. Sicherlich kann er bei Klaas übernachten, bevor er morgen zurückfährt."

Kurz sieht es aus, als krame er in seinem Kopf nach einem weggerutschten Gedanken.
„Ach ja – richtig! Anna, ich werde gleich morgen ins Waisenhaus gehen. Was du mir von deiner Kindheit erzählt hast, und dann von den Veränderungen nach dem Tod der Freifrau von Lenthe – das schreit danach, dass dieses Haus unbedingt eine andere Leitung braucht. Denkst du das auch?"
„Oh ja, Hannes. Das wäre wunderbar. Vielleicht kann es dann wieder zu einem Ort werden, an dem junge Menschen Selbstvertrauen bekommen und tauglich fürs Leben gemacht werden."
Hannes nickt.
„Ich glaube auch, dass ich in ihrem Falle kein Auge zudrücken kann. Die Kinder werden Angst vor ihr haben. Ich weiß nur noch nicht, wen ich stattdessen als Leitung einsetzen könnte."
Ich muss nicht lange nachdenken. Jochen und Maria Hannover waren hier die obersten Dienstboten. Sie sind nun alt und könnten einen so großen Haushalt wie dieses Schloss nicht mehr ohne Hilfe führen. Und es gibt ja auch einen ersten Diener und eine Hausdame, die soeben in ihren Stellungen bestätigt wurden. Aber das Waisenhaus? Der Aufgabe werden sie sicher gewachsen sein und die Kinder wirklich lieben.
„Hannes, ich glaube, ich weiß, wen du fragen könntest. Das alte Ehepaar, das in den letzten Wochen über mich gewacht hat, die Hannovers, sind herzensgute Menschen. Sie sind damals mit der Frau Agnes von Minnigerode aus dem Hannoverschen hierher gekommen. Ich glaube, das Waisenhaus mit Liebe und Bedacht zu führen und den Kindern, die jetzt dort sind, Vertrauen ins Leben zugeben, das würde ihnen viel Freude machen. Und ihnen selbst noch einmal das Gefühl geben, nützlich zu sein. Sprich mit Frau Jansen und mit den beiden. Vielleicht ist das deine Lösung."

Seine Augen haben zu leuchten begonnen bei meinen Worten. Er will sein ganzes Herz an diese Aufgabe verschenken, will mit ganzer Seele ein guter, gerechter Lehnsherr sein. Und ich zweifle keinen Augenblick daran, dass er das schaffen wird. Es passt dazu, dass der gedächtnislose Knecht Hannes sich geradezu darum gerissen hat, mithelfen und Sinnvolles tun zu dürfen. Nun hat er sein Gedächtnis und seinen Namen zurück. Nun kann er tun, wonach sein Herz sich sehnt. Mit Umsicht und Sorgfalt stellt er sich den vielen Problemen, die er von seinem betrügerischen Verwalter geerbt hat, und will sie zum Guten führen. Es ist schön zu sehen, wie sehr er eins mit sich ist.
„Danke, Anna. Das ist eine wundervolle Idee. Ich werde die beiden fragen. Sie haben so lange den gütigen Geist der Frau von Minnigerode geatmet, sie werden sicher eine gute Nachfolge von Frau von Lenthe sein. Und du kannst ihnen dabei helfen, indem du ihnen erzählst, wie es früher war."

Stille senkt sich auf die große Halle. Schlagartig wird uns beiden klar, dass wir damit nun endgültig Abschied nehmen müssen für eine lange Zeit. Ich kehre zurück in mein altes Leben in der Kate, mit den Kindern, mit der Armut, mit meinem bescheidenen Glück. Hannes bricht auf in ein ganz neues Leben. Er wird viel arbeiten, viel lernen und viel hin- und herreisen müssen in den nächsten Monaten. Hannes macht einen letzten Schritt auf mich zu und greift meine beiden Hände. Er öffnet den Mund ... und schließt ihn wieder. Uns beiden fehlen die Worte.
„Geh mit Gott, Anna! Und grüße die Kinder."
Dann ist es plötzlich, als wäre er ein anderer Mensch. Höflich legt er mir den Mantel von vorhin um die Schultern, reicht mir seinen Arm, führt mich aus dem Haus, hilft mir in die Kutsche, spricht kurz mit dem Mann auf dem Bock, verbeugt sich ehrfurchtsvoll vor mir – und schweigt. Der Kutscher, den Hannes vorhin Konrad genannt hat, schnalzt mit der Zunge, die Pferde setzen sich in Bewegung und ich muss mich sehr zusammenreißen, mich nicht nach Hannes umzudrehen und zu ihm zurückzustarren, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Bald schon sind wir aus der Stadt heraus Richtung Süden.

Tief in Gedanken sitze ich in der edlen Kutsche des Brudenhusen und lasse mich von Konrad nach Hause kutschieren. Die Wege sind nach der Frühjahrsschmelze wieder einigermaßen trocken, die zwei Pferde sind stark und ausgeruht, und so geht es gut vorwärts. In Rhumaspring lasse ich Konrad anhalten, damit ich mich gleich persönlich beim Bauern Freese und seiner Frau bedanken kann. Ohne ihre Geistesgegenwart wäre ich wahrscheinlich auf der Herfahrt vor drei Wochen erfroren.

Noch bevor ich den Schlag geöffnet habe, ist schon das Dorfvolk zusammengelaufen. In den letzten Jahren und besonders den letzten Wochen war alles, was reich aussah und aus Gieboldehusen kam, eher verdächtig bis gefährlich. Aber schnell erkennen sie mich und heißen mich willkommen. Frau Freese hat sogar Tränen der Erleichterung in den Augen, als ich ihr mit herzlichem Dank und tiefem Knicks ihre Tücher und Decken zurückgebe.
Ich bitte Bauer Freese, seinen Dorfvogt holen zu lassen, und lasse mich dann zu einem Plausch mit Frau Freese nieder. Sehr schnell ist der Vogt da und begrüßt mich. Ich berichte ihm nun, was sich in Gieboldehusen zugetragen hat, dass der Lehnsherr da ist, dass die beiden Tunichtgute verhaftet sind, dass nun alle Gefahr gebannt ist und der Lehnsherr sich Ende April oder Anfang Mai persönlich allen Menschen in seinem Lehen vorstellen wird. Ich sehe, wie ihm eine Last von den Schultern fällt. Die drei Vögte hatten viel Sorge auszuhalten in den letzten Wochen. Ich erkläre ihm also die Vorgänge der letzten vier Monate.

Seine Augen werden immer größer dabei.
„Der Verwalter wollte sein'n Herrn ermord'n lass'n??? Un dat, obwohl er der Herzog is???"
Fassungslos schüttelt er den Kopf.
„Tja, das ist ein gutes Beispiel für 'gerissen', aber nicht 'schlau'. Er hat wohl gemeint, wenn der Lehnsherr 'unterwegs verloren' geht, dann ist er als Verwalter so unentbehrlich, dass er immer so weiter machen kann. Dass er niemals damit durchkommen würde, wenn der Herzog persönlich einfach so verschwindet, und dass er natürlich einen neuen Lehnsherrn bekommen würde, so weit hat er nicht gedacht. Nun werden die beiden des Hochverrats beschuldigt. Das wird nicht gut ausgehen für sie."

„Und was wird der hohe Herr tun? Als Herzog kann er doch wieder nich hier sein."
„Der Herzog wird zunächst hier ein paar Tage lang Ruhe hineinbringen und den alten Verwalter übergangsweise zurückholen. Dann wird er nach Hause reiten und abdanken. An Ostern wird sein Bruder zum Herzog gekrönt, und er selbst wird hierher kommen, um hier zu leben. Nach all dem, was er als Knecht Hannes in den letzten Monaten erlebt hat, sehnt er sich danach, den Menschen hier Gerechtigkeit und Frieden und Sicherheit zu geben. Ich soll ausrichten, dass er um Listen bittet, wer hier lebt, wer vor Antritt des Brudenhusen was besessen hat, wer seine Freiheit verloren hat. Er möchte sich ein genaues Bild des Unrechts machen."
Der Vogt atmet noch einmal tief durch.
„Dat sind wirklich gute Neuigkeit'n. Hab Dank für diese Kunde. Un jetzt fahr heim, Anna Adam. Deine Kinner wart'n auf dich!"

Ich verabschiede mich von den Freeses und dem Vogt von Rhumaspring, steige wieder in die Kutsche, und Konrad fährt mich nach Hause. Mein Blick schweift über die frisch bestellten Äcker und das Vieh auf den Wiesen, ich genieße das Dahinplätschern der Rhuma neben der Straße, die eifrigen Vögel, die nun ihre Nester bauen, und das Summen der ersten Bienen. Es ist Frühling geworden, während ich hinter dicken Schlossmauern gesessen habe.

Als wir ins Dorf hineinrollen, läutet grade die kleine Kirchenglocke, und die Bauern machen sich auf den Weg vom Feld nach Hause. Die älteren Jungs fangen an zu laufen, als sie die Kutsche kommen sehen. Aber ich kann nur noch an meine Kinder denken. Darum halten wir auch direkt vor dem Hof von Irmel und Jorge Krumm. Durch die Geräusche angelockt schaut Irmel mit dem Peterchen auf dem Arm aus der Tür, sieht mich, fängt an zu lächeln und ruft sogleich nach Jakob und Susanna. Weinend und lachend und strahlend vor Glück nehme ich endlich meine Kinder in die Arme. Ich möchte sie nie wieder loslassen!

„Mutter, ich danke dir, dass du mir eine Nachricht geschrieben hast. Ich hab mich so gesorgt, als der Böse dich weggeschleppt hat. Aber dass du mir geschrieben hast – da hab ich mich gleich beruhigt."
Völlig verständnislos schaue ich meinem kleinen Jakob ins Gesicht und dann der Irmel. Die legt den Finger an die Lippen. Ich muss mich also wohl gedulden. Es wird schon eine Erklärung geben.
„Ich wusste, dass du dich sorgen würdest, Jakob. Und ich wollte doch, dass du wieder beruhigt sein kannst."

Zusammen mit meinen drei Kindern gehe ich in meine Kate, heize ein, weil die Nächte ja noch kühl sind, begrüße auch die Ziegen Zick und Zack und meine Hühner und Gänse. Und dann lasse ich die Kinder erzählen und erzählen und erzählen. Das Peterchen will schon loslaufen, obwohl er das noch gar nicht können kann, Susanna sitzt fest auf meinem Schoß und lässt mich gar nicht los, egal, was ich tue, und Jakob kann nun fast alle Namen aus dem Dorf lesen und auch schreiben, weil der Pastor fleißig mit ihm geübt hat.
„Mutter, der Hannes wird staunen, wenn er kommt, wie gut ich schon schreiben kann!"
Mir wird schwer ums Herz, als ich noch einmal neu begreife, was die Triebfeder für Jakob war – Hannes. Hannes, der nie wieder als solcher hierher kommen wird.
„Jakob, ich habe den Hannes in der Zwischenzeit einmal gesehen. Er bittet mich, euch zu grüßen und euch zu sagen, wie lieb er euch hat."
Susanna beginnt zu strahlen bei meinen Worten.

Jakob aber bleibt still und runzelt die Stirn.
„Dann kommt er nicht wieder, Mutter?"
Hilfe, dieses Kind ist zu schlau!
„Hannes wird kommen, aber ... Du weißt doch, dass er sein Gedächtnis verloren hatte? Dass er nicht wusste, wer er eigentlich ist? Das ist schwer vorstellbar, ich weiß. Aber – Hannes weiß jetzt wieder, wer er ist. Und dass er sehr viel arbeiten und schaffen muss, weil er so lange fort war aus seinem richtigen Leben. Wir dürfen uns mit ihm freuen, dass er jetzt wieder ganz gesund ist. Und wir dürfen uns darauf freuen, dass er uns dann besuchen kommen wird."
Jakob schweigt. Sehr langsam legt er seine Schiefertafel und seinen Griffel auf den Tisch neben mir. Dann dreht er sich wortlos um und geht. Er steigt die Leiter zum Dachboden hinauf. Und da kommt er auch so schnell nicht wieder runter. Ich kann ihm die Last von seiner kleinen Seele nicht abnehmen. Ich trauere ja selbst darum. Aber Jakob darf nie, nie erfahren, dass ich um seinetwillen auf Hannes verzichte. Dass ich ihn nicht entwurzeln will, indem ich meinem Wunsch nach Glück nachgebe.

Die heraufziehende Abendkälte und der Hunger treiben Jakob schließlich doch herunter. Zum ersten Mal seit Wochen ziehen der Duft von frischem Brot und dicker Suppe durch die Kate. Zum ersten Mal seit Wochen singen wir gemeinsam unser Danklied vor dem Essen. Zum ersten Mal überhaupt sitzt Peter auf meinem Schoß mit am Tisch und lässt sich von mir mit Suppe füttern. Er hat eine Weile gebraucht, bis er sich wieder an mich gewöhnt hatte – Kinder in dem Alter vergessen so schnell. Aber nun plappert er schon wieder vergnügt seine komischen Laute vor sich hin und wedelt mit seinen kleinen Händen, wenn nicht schnell genug der nächste Löffel kommt. Mein Herz und all meine Sinne sind ganz weit offen für meine Kinder und mein Zuhause.
Nach dem Essen will ich die Kinder ins Bett bringen. Peter passt kaum noch in seinen Tragekasten und ist inzwischen dafür eigentlich auch zu schwer. Also beschließe ich, ihn nun zu den beiden anderen an die Wand zu legen. Wenn ich davor liege, kann der Kleine ja nicht hinausrollen.
Susanna und Peter liegen schon und haben ganz kleine Äuglein vor lauter Müdigkeit. Aber Jakob will sich nicht hinlegen. Ich lasse ihn, weil er vielleicht noch ein wenig mit mir reden will, und wir sprechen gemeinsam unser Nachtgebet.

Die beiden anderen sind ziemlich schnell eingeschlafen. Erwartungsvoll schaue ich Jakob an, doch der schweigt.
„Magst du nochmal zu mir kommen?"
Ich breite meine Arme aus. Aber Jakob schüttelt den Kopf, greift sich seine Decke – und steigt die Leiter hinauf. Ich höre es rascheln und weiß nun, dass er sich im Stroh hingelegt hat. Leise weint er sich in den Schlaf. Und ich sitze unten im gedämpften Schein meiner wunderbaren Laterne – und weine auch.
Nicht nur du vermisst ihn, Jakob. Ich vermisse ihn auch – ganz schrecklich.

Als auch Jakob endlich fest schläft, schleiche ich mich hinaus und gehe nach nebenan zu den Krumms. Hier sind schon alle Verbündeten versammelt. Konrad ist bei Klaas gleich ins Bett gegangen, damit er morgen in aller Herrgottsfrühe zurück nach Gieboldehusen aufbrechen kann. Alle anderen sind da, und nun berichte ich ihnen ausführlich von meinen drei Wochen dort, von meinen Begegnungen mit Karl von Pagenstecher, von der Stimmung in der Stadt und im Schloss. Und davon, mit welcher Klarheit und Großzügigkeit Hannes in seinem Lehen das Heft in die Hand genommen hat. Ich richte auch unserem Vogt aus, was Hannes mir aufgetragen hat.

Klaas bekommt große Augen.
„Was will er denn mitter Liste von früher'n Besitztümern un ..."
Er verstummt.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, Klaas, dann will Hannes nicht nur ein paar bei den Durchsuchungen zerdepperte Töpfe ersetzen. Er will Gerechtigkeit für jeden seiner Untertanen, egal ob reich oder arm, frei oder unfrei. Und dazu gehört auch, dass Menschen, die durch die Machenschaften des Brudenhusen ohne eigenes Verschulden unfrei geworden sind, ... Naja ... Ich denke, du wirst bald wieder ein freier Bauer sein."
Klaas klappt seinen Mund auf und zu wie eine Forelle im Bach, aber es kommt kein Ton raus. Darum muss er sich nun gefallen lassen, dass wir anderen ihn tüchtig auslachen.

Vogt Drebber überlegt schon weiter.
„Der hohe Herr wird sicher viel verännern – un dat wird vielleicht auch einiges an Geld kost'n. Aber er bringt ja Geld mit. Un ganz sicher wird er kein'n so teur'n Leb'nswand'l hab'n wie der Brud'nhus'n. Also wird er sicher auch dat Landvolk nich so schind'n un auspress'n. Ik vermute, dat er Besitztümer un Ländereien zurückgeb'n will, dat er Steuerlast'n un Frondienste überprüf'n wird. Sowas ist in der Tat noch nie da gewes'n. Aber wir dürf'n nicht vergess'n, dat unser Herzog vier Monate lang in unser'n Schuh'n gesteckt hat."

Jorge zwinkert mir zu.
„So! Un nu dürfen wir es endlich auch all'n annern vertell'n. Oder, Anna?!"
Mir brennt das Herz, denn jede weitere öffentliche Bekanntmachung schiebt Hannes weiter von mir weg. 
Ach, Herz. Nimm es hin. Gott, hilf mir, nimm es hin!
"Jetzt dürfen wir es bekannt machen. Wir mussten noch Hannes Reise zu seinem Bruder und die Verhaftung geheim halten. Aber das ist nun alles vorbei!"
Wir erinnern uns an einiges, was in diesen Monaten geschehen ist. Klaas erzählt wieder von dem Tag, an dem Karl von Pagenstecher hier aufgetaucht ist und die beiden ihre Kräfte aneinander gemessen haben. Da ich Karl von Pagenstecher ja kennengelernt habe, kann ich mir das lebhaft vorstellen.

„Ihr dürft aber nu doch wirklich nich mehr Hannes zum Herzog sag'n! Wo er doch unser Herzog is!"
Der Vogt sieht Klaas und mich mahnend an. Aber Klaas und ich brechen nur in schallendes Gelächter aus.
„Wenn wir DAS tun, dann wird er nie wieder ein Wort mit uns reden. Das würde ihn richtiggehend tief verletzen. Nein, Hannes bleibt für uns beide Hannes, egal, was ihr anderen macht."
Der arme Drebber macht ein ganz unglückliches Gesicht.

„Doch nun erzählt mir doch auch, wie es euch hier im Dorf ergangen ist in den drei Wochen! Wie geht es Britt? Ist das Kind schon da? Und seid ihr mit der Frühjahrsbestellung gut in der Zeit?"
Lene schüttelt seufzend den Kopf.
„Sie liegt nu seit zehn Tag'n fest, der Rück'n. Ik mach mir Sorg'n. Ik bin seit drei Tag'n ganz ob'n in der Mühl, damit ik ihr zur Seite steh'n kann. Ik hoff un bet, dat dat Kleine bald kümmt."
Sofort befällt mich schlechtes Gewissen.
„Oje! Und ich als direkte Nachbarin war nicht da, um zu helfen."
Alle schütteln den Kopf.
„Anna, dat hast du dir doch nich ausgesucht. Natürlich wärst du für sie da gewes'n, wenn du gekonnt hätt'st!"
„Ja, aber so hatte Irmel meine drei Kinder, mein Vieh und dann dauernd den Weg rauf zur Mühle obendrein. Dank dir sehr, Irmel, dass du dich so treu gekümmert hast. So haben die Kinder sich nicht ganz so verloren gefühlt." ...

„Ach, und du musst mir noch erklären, was Jakob vorhin gemeint hat. Dass ich ihm geschrieben habe."
Pastor Crüger grinst.
„Als Hannes nochmal kurz hier war und von seinem Freund gefunden wurde, da durfte er ja die Kinder nicht sehen. Aber er hat sich Gedanken gemacht um Jakob. Und dann hat er ihm auf seine Schiefertafel eine Botschaft von dir geschrieben. Jakob hat sie am nächsten Morgen gefunden und ist gleich zu mir geflitzt gekommen. Seitdem kann er auch das 'W' lesen und schreiben."

Die alte Lene wechselt das Thema.
„Anna, hab'n sich denn die Kinners recht gefreut, dat du wedder da bist?"
Mein Lachen verstummt sofort.
„Ja, haben sie, alle drei. Sehr. Aber Jakob hat begriffen, dass Hannes nicht zurückkommen wird. Daraufhin hat er die Schiefertafel weggelegt, sich stumm seine Decke geschnappt und sich oben im Stroh zur Nacht hingelegt. Er hat Hannes geliebt und verehrt wie einen Vater. Ich denke, er fühlt sich verraten. Zum zweiten Mal."
Unsere Albernheit ist verflogen.
„Dat tut mir sehr leid, Anna. Gibt's denn eene Möglichkeit, dat Hannes doch für ihn da sien kann?"
Nun ist es mit meiner Beherrschung vorbei. Meine Tränen laufen unaufhörlich. Und die anderen geben mir Zeit.

Irmel nimmt mich in die Arme.
„Hast du ihn so sehr lieb?"
Ich nicke und stammele zwischen meinen Schluchzern.
„Er hat mich ja auch lieb. Aber wir wollen beide nicht, dass die Kinder entwurzelt werden. Sie würden in der feinen Gesellschaft nur leiden. Und Jakob muss doch hier im Dorf aufwachsen, er soll doch nicht vom Dorf entfremdet werden. Und ... und ... ich will auch nicht, dass Hannes in der Gesellschaft missachtet wird, weil er eine unfreie Bäuerin geheiratet hat. Das ... Es ... geht einfach nicht!"
Leise höre ich die Stimme vom blinden Jasper.
„Armes kleines Herz. Gib nich auf!"

Unsere Fröhlichkeit will nicht wieder aufkommen, und so gehen wir alle bald ins Bett. Die Männer haben morgen auch wieder stramm zu tun. Zurück in meiner Kate steige ich die Leiter hinauf und taste im Stroh nach meinem traurigen kleinen Jakob. Ich wickele ihn noch einmal fest in seine Decke und streiche ihm durchs Haar.
„Halt durch, kleines Herz. Wir beide werden das schaffen. Ich liebe dich sehr, Jakob."

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17.1.2022

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