39 - Schloss Gieboldehusen

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SA. 24.3. a.d. 1571

„Sie macht es dir nicht leicht."
Völlig gedankenverloren stehe ich vor meinem Schloss, noch mehrere Minuten, nachdem die Kutsche mit Anna um die Ecke und die Allee entlang gerollt und Richtung Lütgenhusen verschwunden ist. Mein Herz ist so zerrissen. Es schlägt hier, bei dieser neuen Aufgabe, bei dieser neuen Verantwortung, der ich mich so gerne stellen möchte, bei diesen Menschen, deren Unterdrückung so schnell wie möglich beendet und ihr Leben wieder in gerechte Bahnen gelenkt werden soll. Es schlägt in Salzderhelden bei meinem Bruder, den ich in Zukunft nicht mehr täglich sehen werde, weil unsere Wege sich nun trennen. Aber es fährt auch grade mit dieser Kutsche davon, und ich muss meine ganze Vernunft zusammennehmen, um nicht hinterherzurennen und sie anzuflehen, bei mir zu bleiben.

Karl muss in der Nähe geblieben sein und mich beobachtet haben, denn nun tritt er zu mir und sagt nur diesen einen Satz.
„Sie macht es dir nicht leicht."
Ich schüttele stumm den Kopf.
„Ich mag es mir aber auch nicht zu einfach machen."
Karl dreht mich sanft aber bestimmt an der Schulter herum, zeigt über den Schlosspark und zum Wirtschaftshof.
„Wir haben noch ein paar Tage, bevor wir zurück müssen. Nimm dir die Zeit und bringe hier Ordnung rein. Versammle als erstes die Bewohner dieser Stadt um dich und stelle dich vor. Hole den alten Verwalter zurück, versuche ein erstes Verstehen, was hier vorgegangen ist, und was nun nötig ist. Dann werde ich die arme Braut erlösen, und du wirst dich ums Waisenhaus kümmern. Das wäre doch gelacht, wenn wir nicht mehr über Anna herausfinden könnten."

Gemeinsam gehen wir wieder ins Haus hinein und suchen den ersten Diener. Er soll uns einmal durch jeden Raum des Schlosses führen. Statt eine Magd nach ihm zu schicken, steigen wir einfach eine Treppe in den Keller hinunter und laufen durch die Dienstbotenräume. Bei der Gelegenheit lernen wir den Koch kennen und den Kammerdiener vom Brudenhusen. Der Mann sieht sehr unglücklich aus, denn er hat ja nun keine Aufgabe mehr. Ich rede mit ihm und versichere ihm erstmal, dass ich bestimmt eine Aufgabe für ihn finden werde.
„Macht Euch keine Sorgen, Seidel. Ihr könnt mir jetzt sofort helfen, denn von Pagenstecher und ich haben keinen Kammerdiener mitgebracht."
Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich am Ende meinen Kammerdiener einfach so verpflanzen kann. Vielleicht bleibt Seidel hier einfach, was er ist. Und Laub findet in Salzderhelden eine neue Beschäftigung.

Als nächstes finden wir im Arbeitszimmer des ersten Dieners Ulrich Barkhausen im Gespräch mit Jochen Hannover.
„Nun, meine Herren, ich freue mich sehr, dass Ihr Euch nun freundschaftlich begegnet. So ists recht. Ich möchte um eine ausführliche Schlossführung bitten, damit ich mich bald alleine orientieren kann. Wäre das jetzt möglich, Barkhausen?"
Die beiden Männer staunen, denn so freundliche Behandlung sind sie überhaupt nicht gewohnt. Mir hingegen fällt es leicht. Es sind Untergebene, aber es sind keine Sklaven, die ich herumschubsen dürfte.
Mit einem schnellen Blick versuche ich, Barkhausen einzuschätzen. Er scheint ein wenig steif und förmlich zu sein und ziemlich unauffällig. In der Halle habe ich ihn jedenfalls eben nicht wahrgenommen, und er ist auch nicht wie Almuth Jansen anschließend zu mir gekommen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich bin gespannt, wie er sich in die neue Situation finden wird.

Barkhausen springt von seinem Stuhl auf, verbeugt sich und stellt sich mir vor.
„Sagt mir doch, Herr, worauf es Euch bei der Führung besonders ankommt."
Ich überlege einen Moment.
„Ich möchte gerne den grundsätzlichen Aufbau des Hauses verstehen. Ich möchte wissen, zu welchem Zweck der Brudenhusen welchen Raum genutzt hat. Aber ich wüsste auch gerne, wie alles zur Zeit der Frau Agnes gewesen ist. Ist das wohl möglich?"
„Sogleich, Herr. Allerdings ..."
Er überlegt einen Moment, dann hellt sich seine Miene auf, und er wendet sich an Jochen Hannover.
„Hannover, kommst du ..."
Barkhausen schweigt mitten im Satz. Dann fängt er von neuem an, und ganz anders als vorher.
"Könntet Ihr Euch uns anschließen? Darüber, wie es im Schloss zur Zeit der Frau von Minnigerode war, wisst Ihr doch viel besser Bescheid als ich."

In mir ist die helle Freude. Der ehemalige erste Diener, zum letzten Knecht degradiert, wird nun vom jetzigen ersten Diener auf einmal mit Höflichkeit behandelt. Genau so will ich es hier haben. Der eine nimmt den anderen ernst, und gemeinsam geht es gleich viel besser. Jochen Hannover steht auf und glüht beinah vor Stolz. Zu viert streifen wir also durchs Schloss. Ich bekomme jede Etage ausführlich gezeigt, lerne Haupt- und Nebentreppen kennen, erfahre ganz viel über die Dienerschaft und die Aufgaben der einzelnen Menschen, einige werden mir auch gleich vorgestellt und ich bekomme so einen ganz guten Eindruck. Das Haus ist gut geführt. Es scheint, dass vor allem Ungeduld, Knauserigkeit und Angst die Atmosphäre vergiftet haben, nicht Misswirtschaft.

Als wir schließlich wieder in der großen Eingangshalle eintreffen, schwirrt mir der Kopf vor lauter Fakten und Zahlen. Am Fuße der Treppe kommt uns Frau Jansen entgegen. Ich verabschiede bis auf weiteres die beiden Diener und wende mich ihr zu.
„Herr, ein Teil der Ställe steht leer, selbst wenn alle Landsknechte ihre Tiere eingestellt haben. Möchten Sie, dass ich dort Lager für die Landsknechte herrichten lasse? Ansonsten wäre nun für Euch ein einfaches Mahl bereitet. Wir sind nicht darauf vorbereitet gewesen..."
Ich lächele sie an.
„Bitte, es muss kein festliches Mahl sein, und schon gar nicht jeden Tag dreimal. Ich habe in den letzten Monaten von Getreidebrei und Buttermilch gelebt. Wir wollen es einfach halten im Alltag, auch das ist ja abwechslungsreich und schmackhaft zu machen. Die Idee mit den Ställen finde ich sehr gut. So sind sie unter Dach und in der Nähe ihrer Tiere. Wenn die Stallknechte ihnen Stroh überlassen, können die Männer sich selbst einrichten. Und dann wäre ein Essen für alle nicht schlecht. Wir sollten in mehreren Schüben essen, dann kann die Küche das gut bewältigen. Bitte entscheidet in den nächsten Tagen frei, wann wer wo essen, schlafen oder mitarbeiten soll. Ihr habt den besten Überblick. Legt mir jeden Morgen einen Tagesplan vor, den Ihr mit Barkhausen abgestimmt habt, dann werden wir hier am schnellsten eine Ordnung hineinbekommen."

Kurz darauf bekommen Karl und ich im Speisezimmer unser Mittagsmahl serviert. Wir reden nicht viel. Aber ich merke wohl, dass Karl mich nun schon seit Stunden beobachtet bei allem, was ich tue oder sage oder frage. Als wir uns schließlich satt zurücklehnen in den furchtbar schnörkelig überladenen Stühlen, grinse ich ihn an.
"Spucks aus, mein Lieber. Es liegt dir doch auf der Zunge!"
Karl fängt an zu lachen.
„Interessante Ausdrücke, Hannes. Ja, ich hab was 'auf der Zunge liegen'. Du bist anders geworden. Gut! Aber anders. Du bist ernsthafter, reifer, aufmerksamer, geduldiger und zielstrebiger als vorher."
Staunend lausche ich seiner Aufzählung.
„Woran machst du das fest?"
„Ganz einfach. Du hast grade zwei Stunden lang konzentriert zugehört, du hast viel gefragt, es war keine einzige unsinnige Frage dabei. Du hast altes Wissen herausgekramt und mit dem neuen verbunden. Du triffst für jeden der Dienstboten den richtigen Ton, sie fühlen sich sicher und wahrgenommen. Du fällst schnelle Entscheidungen und scheust nicht davor zurück. Und ..."
Er grinst von einem Ohr bis zum anderen.
„... du redest wie diese Menschen, weil du ihren Dialekt in den Ohren hast. Du verstehst sie, sie verstehen dich. Fast möchte man ein Knecht in Gieboldehusen sein, wenn es einem hier so gut geht."

Mir schießen die Tränen in die Augen, denn das Wort des Freundes bedeutet mir viel.
„Ach, Karl. Ich habe so viel Mist gebaut in den letzten Monaten, so viele Menschen immer wieder in Gefahr gebracht, nicht zuletzt mich selbst. Ich habe so viele Menschen trauern gemacht, Unsicherheit hervorgerufen. Und ich bin immer, immer wieder einfach davongelaufen. Diese Monate haben mir den Spiegel vorgehalten. Ich habe gesehen, wer ich bin. Ich bin fest entschlossen, es von nun an besser zu machen."
Karl steht auf und klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter.
„Das tust du schon, Hannes. Das tust du schon. Und jetzt lass uns überlegen, wie wir den Nachmittag nutzen können."
„Ich denke, ich werde nun auch über den Wirtschaftshof gehen und dort alle begrüßen. Dann habe ich einen Eindruck von der Größe des Anwesens. Und da die Zeit drängt, sollte ich vielleicht gleich den alten Verwalter aufsuchen. So können wir auch noch einen Spaziergang durch die Stadt machen. Du warst ja ein paar Tage hier. Vielleicht kannst du mich einfach führen."

In der großen Halle begegnen wir Jochen Hannover, der grade mit einer Botschaft zu mir kommt.
„Der Stallmeister schickt mich, Herr. Euer Pferd lässt niemand an sich ran. Und Euer Bursche ist doch ..."
Richtig, Konrad ist mit Anna unterwegs.
„Dank Euch, Hannover. Ich wollte sowieso grade die Ställe besehen. Hat Barkhausen noch einen Auftrag für Euch, oder hättet Ihr Zeit, mit uns zusammen den alten Verwalter zu besuchen?"
Hannover verbeugt sich.
„Ich werde ihn gleich fragen gehen und dann zu Euch zu den Ställen kommen, Herr."
In der Zwischenzeit verlassen Karl und ich durch die nur allzu bekannte Hintertür das Schloss in Richtung Wirtschaftshof. Auch hier lerne ich verschiedene Menschen kennen. Dann kümmere ich mich persönlich um Hurtig. Die Stallburschen staunen nicht schlecht, dass ihr neuer Herr selbst mit anpackt. Aber sie sehen so auch, wie man mit Hurtig umgehen muss. Als Karl und ich die Ställe verlassen, wissen wir, dass auch diese Menschen treu hinter mir stehen werden.

In der Bibliothek hatten wir am Vormittag eine Karte von dieser kleinen Stadt gesehen. Der Ort wird von den beiden kleinen Flüsschen Oder und Beber eingerahmt, die nördlich und südlich entlang fließen. Die Straße von der Grenze im Süden nach Herzberg im Norden führt grade hindurch. Östlich der Hauptstraße liegt das Schloss in einem Park, westlich der restliche Ort, der Markt, die Kirche mit ein paar Ruinen des alten Klosters. 1525 waren Kirche und Kloster im Bauernkrieg von Bauern aus dem Eichsfeld zerstört worden. Die Mönche zogen ins katholische Duderstadt. 1533 löste der hiesige Graf in der Reformation die Abtei auf, übernahm deren Besitz und baute die Kirche für die Gläubigen wieder auf. Auf dem Gelände des ehemaligen Klosters stehen heute neben der Kirche nur noch ein von protestantischen Schwestern geführtes Hospiz, das Waisenhaus, in dem Anna aufgewachsen ist, und ein kleines Gebäude, in dem die Schule untergebracht war.

Wir schlendern durch die Straßen der Stadt, ich rede ganz oft kurz mit den Einheimischen, stelle mich vor und höre ihnen zu. Nebenbei erzählt uns Jochen Hannover aus seiner umfangreichen Erinnerung viele, viele Geschichten über den Ort, die Menschen und die Geschichte. Er ist ein guter Erzähler, aber er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen arm und einige Häuser verwahrlost sind. Bei manchem Anblick, bei mancher Bitte eines Menschen müssen Karl und ich wirklich schlucken. Wie viel ein habgieriger Mensch doch anrichten kann!

„Owei! Hier hast du viel zu tun, Hannes!"
Ich kann nur nicken. Was mich tröstet und doch etwas zuversichtlich stimmt, ist die Stimmung der Menschen, die sich offensichtlich alle freuen, mich zu sehen. Nach wenigen Sätzen weicht die Angst aus ihren Gesichtern und macht großer Erleichterung Platz. Es hat sich wohl schon herumgesprochen in der Stadt, dass der Brudenhusen und der Hauser fort sind und der Lehnsherr aufgetaucht ist. Es scheint, dass Angst und Groll gegenüber dem Brudenhusen nicht auf mich übertragen werden.
Wir laufen an der ehemaligen Klostermauer entlang fast bis zum Ortsende. Dort lebt Dörthe Bäcker mit ihrem Mann Lennart, einem der Bäcker in der kleinen Stadt. Sie ist die Tochter des ehemaligen Verwalters Albrecht Bader, ist im Schloss aufgewachsen und kennt darum Jochen Hannover von früher.

Dörthe Bäcker hängt grade Wäsche im Hof auf, als wir auf die Bäckerei zugehen. Da Karl und ich ihr unbekannt und fein gekleidet sind, macht sie vorsichtshalber einen tiefen Knicks, auch wenn sie gar nicht weiß, vor wem. Jochen Hannover übernimmt für uns die Vorstellung und fragt Dörthe Bäcker dann nach ihrem Vater.
„Wo ist denn der Vater, Dörthe?"
Sie lächelt.
„Oh, der sitzt hint'n inner Sonne auf seim Lieblingsplätzch'n un genießt die erste Frühlingswärme. Wollt Ihr zu ihm?"
Sie erwischt einen vorbeiflitzenden Jungen grade noch am Ärmel und hält ihn auf.
„Lennart, bring doch bitte die Herrschaft'n zum Grootvadder."
Der Junge entdeckt uns erst jetzt, stutzt, macht einen Bückling, wechselt die Richtung und rennt einfach weiter. Dörthe Bäcker schüttelt den Kopf, mahnt ihn, auf uns zu warten, und entschuldigt sich dann für ihren Sohn. Karl und ich müssen uns das Lachen verkneifen. Wir bedanken uns bei der Bäckerin und folgen dem Jungen hinter das Haus.

Albrecht Bader sitzt in einem alten Lehnstuhl in einer sonnigen, windgeschützten Ecke des kleinen Gartens und schaut uns neugierig entgegen. Als er Jochen Hannover erkennt, beginnt er zu strahlen.
„Jochen, alter Freund. Wie schön! Wen bringst du mir denn da?"
Wieder stellt Hannover uns vor. Doch als der alte Mann sich erheben will, um uns die Ehre zu erweisen, mache ich zwei schnelle Schritte vorwärts und drücke ihn zurück in seinen Stuhl.
Ob dieser Mann der Aufgabe noch gewachsen ist? Er ist doch wirklich alt.
Ich lasse mir meinen Zweifel nicht anmerken.

„Herr Bader, Ihr seid der Lehnsverwalter für Agnes von Minnigerode gewesen. Ich bin ihr Neffe und Erbe des Lehens. Ich habe viel Schuld auf mich geladen, indem ich den Brudenhusen eingestellt, nie kontrolliert und mich nie hier gezeigt habe. Doch nun bin ich da und will es besser machen. Der Brudenhusen und der Hauser sind fort. Aber ich brauche dennoch jemand, der mir das Lehen verwaltet. Ich weiß, Ihr seid nun seit sechs Jahren fort vom Schloss. Aber ich traue lieber einem Manne, der meiner Tante lange Jahre treu gedient hat und das Lehen kennt, als einem jungen Hüpfer, dem Erfahrung und Ortskenntnis fehlen."
Der alte Mann hat einen erfrischend freimütigen Humor.
„Und da wollt ihr die Arbeit lieber einem Alten geben, der schon mit dem Kopfe wackelt? Lang werd ichs nicht mehr machen."
„Ich weiß wohl, Bader, dass Ihr Euch den Ruhestand und den Sessel in der Sonne redlich verdient habt. Und dass ich nicht zu befehlen habe, nur bitten kann. Mir geht es als erstes darum, dass jemand das Heft in die Hand nimmt, dass derjenige sich die Bücher der letzten Jahre anschaut und kontrolliert. Und dass er dann einen Jüngeren aussucht und einarbeitet. Wenn Ihr Euch gemeinsam mit mir der Aufgabe stellen wollt, bin ich zuversichtlich, dass wir innert einem Jahr hier Ruhe, Ordnung, Gerechtigkeit und Zufriedenheit in alles bekommen und einen Neuen genügend eingearbeitet haben. Und dann könnt Ihr Euch wieder in die Sonne setzen."
„Wenn sie denn scheint."

Der alte Mann grinst, und ich sehe ihm an, dass er sich freut, dass ich ihn so in den höchsten Tönen lobe.
„Und wie soll das gehen, Hoheit, wenn Ihr nur alle sechs Jahre hereinschneit?"
Er zwinkert mir zu, und ich habe immer mehr Spaß an der Sache.
„So, Ihr wisst also im Gegensatz zu allen anderen, wer ich bin?"
„Natürlich weiß ich das. Jochen und ich waren die engsten Vertrauten der Frau Agnes. Wir wussten, wer der Erbe ist. Stimmts, Jochen?"
Jochen Hannover nickt ihm zu.
„Nein, Bader, ich werde nicht erst in sechs Jahren wieder auftauchen. Ich werde über Ostern zur Krönung meines Bruders nach Salzderhelden reisen und dann wiederkommen. Und dann werde ich fest hier leben. Ich will so viel wie möglich von Euch lernen."

Bader lacht leise.
„Ihr begeht Fahnenflucht? Schluss mit Hoheit? Na sowas!"
Ich bin ehrlich begeistert von seinem Humor und seiner Freimütigkeit. Er wird es mir nie an Respekt fehlen lassen, aber er buckelt nicht sondern spricht frei heraus.
„Ja, Bader. Ich habe immer gefühlt, dass ich nicht auf diesen Platz gehöre. Mein Bruder wird der bessere Herzog sein."
Der alte Mann lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Ich lasse ihm Zeit, um nachzudenken. Dann nickt er bedächtig.
„Das will ich gerne tun, Hoheit. Ich bin bereit. Jochen, meinst du, ich kann die alten Zimmer wieder haben? Oder hat der Hochstapler etwas anderes damit angestellt?"
„Nein, Albrecht. Die drei Räume unter der Treppe wurden wenig genutzt. Du könntest sofort wieder dort einziehen."

Der alte Mann richtet sich auf und blickt mich gerade an.
„Dann, Hoheit, will ich morgen Mittag ins Schloss kommen und mit Euch gemeinsam die Aufgabe anpacken. Je eher desto besser."
Und jetzt, wo seine Augen tatenlustig und wach blitzen, sehe ich, dass er seine Sache sehr gut machen wird. Ich muss ihm nur seine Zeit dafür geben. So, wie er es schaffen kann.
„Dafür bin ich Euch ehrlich dankbar, Bader. Ich habe noch eine ganz andere Frage. Was könnt Ihr mir denn über die neue Leiterin des Waisenhauses erzählen? Die Freifrau von Lenthe ist ja nicht lange nach der Frau Agnes gestorben."

Der Alte zischt missbilligend.
„Die Hexe? Die ist ein raffgieriges Miststück, das Kinder von ganzem Herzen hasst. Sie ist der einzige Mensch auf Gottes Erdenboden, der dem Brudenhusen ebenbürtig war. Kaum war sie da, hat sie als Allererstes die Ziehtochter der Frau von Lenthe fortgeschafft. Dann alle anderen, die ihr zu alt waren."
Ich werde hellhörig.
„Die Ziehtochter?"
„Freifrau von Lenthe war noch ziemlich jung, als sie herkam. Sie war eine Jugendfreundin der Frau Agnes von Minnigerode. Und nur wenige Wochen später kam ein neugeborenes Mädchen ins Heim. Es wurde viel gemunkelt in der Stadt, aber die Minnigerodes haben Frau von Lenthe in allem unterstützt, und der Erfolg mit den Kindern hat ihr Recht gegeben. Freifrau von Lenthe hat das Mädchen geliebt und aufgezogen wie eine eigene Tochter. Arme Anna. Sie war so schlau, so freundlich, so geschickt. Und dann musste sie als Magd ins letzte Dorf. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört."

Ziehtochter! Er nennt Anna die Ziehtochter der Frau von Lenthe! Sollte Ludo Recht haben?

„Nun gut, Bader. Ich bin ehrlich erleichtert, dass Ihr bereit seid, noch einmal mitzutun. Ich freue mich darauf, dass Ihr morgen zu uns ins Schloss kommen werdet. Wir werden dann schnell die Arbeit aufnehmen, aber es ist mir wichtig, dass Ihr auf Euch achtet. Ihr sollt Euch nicht überarbeiten."
Nach ein paar weiteren freundlichen Worten machen wir uns auf den Rückweg zum Schloss. Für heute bin ich so randvoll mit Eindrücken, Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Gedanken, dass mir bald der Schädel platzen möchte. Frau Jansen und der Koch haben es fertig gebracht, fürs Abendessen bereits eine große Auswahl an Gerichten herbeizuzaubern. Aber ich bin so müde, dass ich mich sofort anschließend zurückziehe und erschöpft einschlafe. Das letzte, was ich denken kann, ist: Anna.

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18.1.2022


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