40 - Ärmel hochkrempeln

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So. 25.3. a.d. 1571

So früh ich ins Bett gesunken bin, so früh wache ich auch wieder auf. Erste Geräusche sind im Haus zu hören. Das Zimmer, die Geräusche sind mir fremd. Aber das zufriedene Gefühl, angekommen zu sein, die Erinnerung an die vielen kleinen Gespräche mit den Menschen gestern - das fühlt sich absolut richtig an, als ich meine Beine aus dem Bett schwinge und nach Seidel läute. Es wird noch jahrelang unermesslich viel Arbeit kosten, bis ausgeglichen ist, dass der Brudenhusen jeden erwirtschafteten Heller in die überladene Ausstattung des Schlosses, seine Kleidung und seine Bequemlichkeit gesteckt hat.
Ich muss Frau Jansen und Herrn Barkhausen bitten, gemeinsam ein Inventar von allen Kunstgegenständen und Luxusgütern im Haus zu machen, damit ich dann entscheiden kann, was davon ich verkaufen und anschließend von dem Geld etwas Sinnvolles machen kann.

Seidel klopft an und tritt ein. Und er sieht dabei wirklich glücklich aus, dass ich ernst mache und ihn brauchen kann.
„Guten Morgen, Eure Hoheit."
„Guten Morgen, Seidel. Tut mir den Gefallen und lasst das Hoheit weg. In drei Wochen ist es eh vorbei."
„Wie Ihr wünscht, Ho... - hoher Herr."
Ich drehe mich schnell um, damit er mein Schmunzeln nicht sieht. Ich merke, dass ich anfange, mich daran zu gewöhnen, dass ich Gelassenheit entwickle, seit der Druck dahinter beseitigt ist.

Als ich wenig später im Frühstückszimmer erscheine, ist Karl auch schon da.
„Hannes, ich denke, ich sollte mich heute aufmachen zu der geprellten Braut. Aber dafür solltest du ein Schreiben aufsetzen."
„Ja, du hast Recht. Vater und Tochter haben ein Recht darauf, möglichst zügig benachrichtigt zu werden. Wir müssen nur herausfinden, wer sie eigentlich ist und wo sie wohnt. Denn wir wissen ja nur, DASS er heiraten wollte."
„Ich denke, das werden Jansen oder Barkhausen schon wissen."
„Und wie willst du reisen? Mit der Kutsche oder zu Pferde?"
„Ich werde wohl Benjamin mitnehmen und einfach reiten. Konrad wird ja sicher mit der Kutsche bald wieder hier sein, aber dann solltest du ihn zu Hurtig in den Stall schicken."
Wir müssen beide grinsen. Mein heißgeliebtes Pferd Hurtig ist nun mal etwas speziell.

Nach dem Frühstück lassen wir Barkhausen, Hannover und Jansen holen und begeben uns mit ihnen in das Bibliotheks- und Arbeitszimmer.
„Nun, Frau Jansen. Wir haben gestern bei einem Spaziergang durch die Stadt auch Albrecht Bader besucht. Er ist gerne bereit für einige Zeit zurückzukommen und uns zu unterstützen, bis ein jüngerer Verwalter eingearbeitet ist. Er will gleich heute kommen, und er hat darum gebeten, dass er seine alten Räume wieder bekommt. Das sind die drei kleinen Zimmer hinter der Treppe. Ist es möglich, die heute noch wenigstens zum Teil wohnlich für ihn zu machen?"
Almuth Jansen denkt einen Augenblick nach.
„Das ist kein Problem, denn die wurden in der Zwischenzeit kaum genutzt. Wir müssten gründlich putzen. Und ... oh, in dem einen Raum hat Anna Adam gewohnt und gearbeitet in den letzten Wochen. Ich werde gleich nachsehen."
Ich wende mich an Jochen Hannover.
„Hannover, könnt Ihr Euch erinnern, wie die Räume genutzt wurden?"
Hannover nickt.
„Eins war die Schlafkammer von Bader und seiner Frau, eins war die Stube. Und eins war sein Arbeitszimmer. Als die Tochter geboren wurde, bekam er ein anderes Arbeitszimmer. Das ist der erste Raum gleich im Anschluss an diese Bibliothek. Am Schluss hat dort der Hauser gearbeitet. Im Grunde war es, als sei der Brudenhusen der Herr und der Hauser der Verwalter ..."

„Gut. Wir müssen hier nicht gleich alles auf den Kopf stellen und alle Räume umgestalten. Das Speisezimmer, dieses Arbeitszimmer, ein paar Schlafräume oben, zwei Zimmer für Bader. Alles andere nehmen wir in Angriff, wenn dafür Zeit und Geld da ist. Aber im Moment ist alles andere wichtiger. Und jetzt habe ich noch eine ganz andere, ziemlich dringende Frage. Brudenhusen wollte heiraten. Wir müssen nun die Braut benachrichtigen. Könnt Ihr mir sagen, wer die Dame war und wo wir sie finden?"
Barkhausen und Jansen zucken zusammen bei der Frage.
„Ein blutjunges Mädchen, das nicht glücklich mit der Entscheidung ihres Vaters war. Sie wird aufatmen. Er ist der Freiherr von Barbis, etwas östlich von hier, ein knapper Tagesritt."
„Ist das heute noch zu schaffen?"
„Ein tüchtiger Reiter kann zu einer annehmbaren Tageszeit dort eintreffen."
Ich fackele nicht lange.
„Gut. Karl, machst du dich bereit? Ich werde sofort einen Brief aufsetzen, damit du dann zügig los kannst."
Karl steht sofort auf.
„Natürlich. Ich habe Benjamin gestern schon vorgewarnt, dass das heute auf ihn zukommt. Ich gehe ein paar Notwendigkeiten packen."
Und schon ist er zur Tür hinaus.

Ich selbst bitte nun Frau Jansen und Herrn Barkhausen darum, im Laufe des Tages mehrere Listen für mich anzufertigen.
„Und Frau Jansen. Darf ich Euch bitten, später mit Maria und Jochen Hannover hier in mein Büro zu kommen? Ich habe eine Frage an Euch."
Etwas verwundert ob meiner Geheimniskrämerei entfernen sich die Drei, um alle neuen Aufträge in Angriff zu nehmen.
Ich wende mich nun zum ersten Mal dem Schreibtisch des Brudenhusen zu. Er sieht sehr alt und wuchtig aus und stammt darum wohl noch aus der Zeit des seligen Herrn von Minnigerode. Ich muss nicht lange suchen, bis ich ordentliches Papier, Tinte und Feder gefunden habe. Ich spitze die Feder an und starre eine Weile auf das leere Blatt.
Wie muss sich dieser Vater nun fühlen? Und wie geht es diesem armen Mädchen damit? Ich hoffe, es wird ihr nicht schaden.
Viel Zeit zum Nachsinnen gönne ich mir nicht. Ich formuliere ein paar höfliche Worte, die gleichzeitig deutlich machen, dass der Brudenhusen nicht mehr "zur Verfügung steht" und beende den Brief. Kurz darauf kommt Karl noch einmal zu mir, übernimmt das versiegelte Schreiben und macht sich sofort auf die Reise.

Ich beginne, das Arbeitszimmer zu erkunden, Urkunden, Steuerlisten, Korrespondenz, Rechnungen für Luxusgüter, eine Notiz, aus der hervorgeht, wieviel ich unwissentlich zum Erhalt der Schule gezahlt habe, obwohl diese längst geschlossen war - alles ist für mich von Interesse, und ich werde auf diese Weise erschreckend oft fündig. In vollem Umfang werde ich das Ausmaß sicher erst begreifen, wenn der Bader mir Vergleichswerte aus der Zeit der Minnigerodes vorlegen kann, aber es wird mir schon jetzt klar, wie sehr der Brudenhusen das Volk ausgequetscht, um ihr Hab und Gut, ihre Ländereien und ihre Freiheit gebracht hat. Und um wieviel Geld er auch mich nach Strich und Faden betrogen hat.

Ich merke gar nicht, wie die Zeit verfliegt, als dann Almuth Jansen und Ulrich Barkhausen wieder vorsprechen. Sie bringen mir erste umfangreiche Listen über das normale Inventar wie Wäsche, über die Luxusgüter, über die Bediensteten und ihren Verdienst und vieles mehr. Außerdem meldet Frau Jansen, dass die Räume für den alten Verwalter grade soweit fertig wurden, dass sie bewohnbar sind, und dass der Bader nun eingetroffen sei.
„Lasst den Bader erstmal ankommen. Er soll sich einrichten und dann später vorsprechen."
Wiederum verabschiede ich die beiden, auf dass sie die nächsten Aufträge in Angriff nehmen, doch Almuth Jansen bleibt zögerlich stehen.

„Habt Ihr noch eine Frage, Frau Jansen?"
Sie schüttelt den Kopf.
„Herr, alle anderen haben längst gegessen, Ihr ward nur so beschäftigt, dass Euch niemand stören wollte. Aber Ihr solltet nun doch auch etwas zu Euch nehmen. Dann wüsste ich noch gerne, was mit der Arbeit von Anna Adam geschehen soll, die unfertig in der dritten Kammer liegt. Und Seidel fragt, ob er sich derweil mit der Garderobe des Brudenhusen beschäftigen soll. Das meiste wird Euch nicht passen, aber er würde gerne durchsehen, was er wegpacken und was er Euch vorlegen soll."
„Das ist eine gute Idee. Beides. Bringt Ihr mir etwas zu essen hierher? Und Seidel soll ganz nach seinem Ermessen vorgehen. Ich werde einfach am Ende sichten, was er sortiert hat."

Almuth Jansen bleibt immer noch stehen. Ich schaue sie fragend an.
„Herr, wann möchtet Ihr, wann die Hannovers mit mir her kommen? Ihr wolltet etwas mit uns besprechen."
Ach ja, richtig. Das Waisenhaus.
"Am besten kommt Ihr, wenn ich fertig mit essen bin. Dann bekommt Bader noch ein wenig Zeit, sich wieder hier einzufinden."
„Ja, Herr. Ihr bekommt sofort ein Mittagssmahl, und danach werden wir erscheinen."
Es macht mir große Freude, dass ich mit den Angestellten hier im Haus so gut auskomme, dass sie so anstellig sind, zügig und genau arbeiten. Kurze Zeit später habe ich ein einfaches, aber leckeres und reichhaltiges Mahl neben mir stehen, während ich mich unablässig weiter durch des Brudenhusens Arbeitszimmer wühle und immer weitere Ungeheuerlichkeiten zu Tage fördere.

Ich beschließe grade, eine Grübelpause einzulegen und mich einfach mal mit dem Bestand der Bibliothek zu beschäftigen, als es erneut klopft und dann Frau Jansen und die Hannovers bei mir eintreten. Ich bitte sie, sich zu setzen, was sie irritiert und zögernd dann auch tun.
Ich spreche das sensible Thema an, dass die Hannovers unverdientermaßen ihre Stellungen verloren haben, beruhige sofort Almuth Jansen, dass sie ihre Stellung natürlich behalten soll. Und dann rücke ich mit unserer Idee raus.
„Anna Adam hat mir viel vom Christophorus-Haus erzählt – von Freifrau von Lenthe, vom Leben dort, von der Schule, von dem Selbstbewusstsein, das jedes Kind durch die sensible Förderung mitbekommen hat. Und davon, wie die neue Leiterin sofort alles zerschlagen hat."
Die Drei hören mir aufmerksam zu.
„Ich bin fest entschlossen, diese Dame sobald wie möglich abzusetzen. In diesem Fall kann ich aber nicht einfach die Kinder sich selbst überlassen und abwarten, wie es wird. Ich brauche dafür eine neue Heimleitung, die im Geiste der Frau von Lenthe wieder Vertrauen, Lebensfreude und Hoffnung in das Leben dieser Kinder bringt. Und dabei habe ich an Sie beide gedacht, Herr und Frau Hannover. Sie haben einmal gemeinsam diesen ganzen großen Haushalt geleitet. Sie wissen, worauf es ankommt. Ich glaube, dass Sie wunderbare Eltern für diese Kinder sein können."

Den beiden alten Leuten fallen die Augen aus dem Kopf. Frau Jansen beginnt zu lächeln.
„Das kann ich sofort bestätigen. Als Barkhausen und ich vor sechs Jahren an ihrer Stelle eingesetzt wurden, haben wir uns lange sehr unwohl gefühlt. Es war nicht recht, aber wir haben sehr schnell dafür gesorgt, dass unsere Vorgänger uns nicht mehr in die Quere kommen können. Ein schlechtes Gewissen hatte ich damals nicht. Aber ich habe von Anfang an gemerkt, dass die Hannovers ihrer Aufgabe hier wunderbar gewachsen waren und beide viel Geschick bei der Behandlung der Bediensteten hatten. Es hat eine Weile gedauert, bis alle akzeptiert hatten, dass nun Barkhausen und ich das Sagen hatten."

Etwas verlegen lächelt sie die beiden an, und ich halte mich ganz zurück, weil ich spüre, dass auch hier Aufarbeitung und Versöhnung stattfinden darf.
„Ich ... möchte mich entschuldigen, dass ich so hart mit Euch umgesprungen bin. Es hat sicher sehr geschmerzt, so gedemütigt zu werden."
Und wieder siegt das Herz. Jochen und Maria Hannover fassen sich an den Händen und beginnen zu weinen.
„Das ...wir ... Es sei Euch verziehen. Wir sind einfach glücklich, dass diese furchtbare Zeit nun vorbei ist. Und ..."
Seine Stimme wird immer leiser. Seine Frau spricht schließlich weiter.
„Wir haben uns immer Kinder gewünscht, aber Gott hatte andere Pläne. Wir würden von ganzem Herzen gern die Leitung des Waisenhauses übernehmen. Und unsere Anna kann uns dabei helfen."

Wir werden sehen, ob sich Anna dafür aus ihrem Dorf locken lässt. Ihr wird im Moment das Wichtigste sein, dass die Kinder sich wieder sicher fühlen.
„Das freut mich wirklich sehr. Ich denke, Sie werden das Haus und die Kinder mit Liebe und Sachverstand zu leiten wissen. Am Geld soll es jedenfalls nicht scheitern. Hoffentlich finden sich noch Bücher von Frau von Lenthe, aus denen hervorgeht, wie sie alles gehandhabt hat. Aber das werden wir dann sehen. Nun geht es erst einmal darum, dort hinzugehen und Tatsachen zu schaffen. Am liebsten sofort."
Ich glaube, so schnell ist Maria Hannover schon seit Jahren nicht mehr aus einem Stuhl aufgefahren.
„Sofort? Aber ... dann müssen wir doch packen. Ich weiß nicht ... Los, Jochen, lass uns packen gehen. Die Kinder sollen keinen Tag länger warten müssen."
Frau Jansen und ich lächeln uns an. Dann wendet sie sich an die beiden strahlenden Leute.
„Bitte, lasst Euch Zeit und packt mit Bedacht erst einmal das Nötigste. Ihr solltet heute bereits dort das Zepter übernehmen. Aber Ihr müsst nichts übereilen."
Aufgeregt verbeugen sich die Hannovers und eilen zur Tür hinaus.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück.
„Frau Jansen?"
Sie wendet sich zu mir.
„Darf ich Euch ein Lob aussprechen? Gestern noch habt Ihr mir Euer Fehlverhalten gebeichtet und um Eure Entlassung gebeten. Heute schon seid Ihr ein freundlicher, mitfühlender, umsichtig mitdenkender Mensch. Ich bin noch einmal froh, dass ich mich entschieden habe, jedem hier eine Chance zu geben."
Almuth Jansen wird ganz rot bei diesen Worten.
„Herr, ich ... ich habe in den letzten Wochen hier etwas Seltsames erlebt. Und ich glaube, dass meine Veränderung da schon angefangen hat. Es war Anna Adam. Nach dem, was mir die Landsknechte zugetragen haben, wurde sie völlig ohne Vorwarnung und ziemlich rücksichtslos einfach verschleppt. Sie kam hier an, in großer Sorge um ihre kleinen Kinder, und wirkte wie gebrochen. Aber schon am nächsten Tag hat sie die Herausforderung angenommen und sich umsichtig an die Arbeit gemacht.
Und sie hat ... gesungen. Kirchenlieder, Kinderlieder, Lob- und Danklieder, rauf und runter. Wenn es warm war, hatte sie ihr Fenster geöffnet. Jeder konnte sie hören. Sie hat den ganzen Tag bei der Arbeit gesungen. Diese innere Kraft angesichts ihrer anfänglichen Verzweiflung hat binnen weniger Tage alle hier im Schloss verändert. Die Stallknechte haben weniger geflucht, die Zimmermädchen haben weniger gestritten, die Spülmägde haben bei der Arbeit gleich mit gesungen. Anna Adam hat die Bitterkeit und den Neid und die Angst zur Tür hinausgesungen. Ich ... ich habe erlebt und verstanden, dass es mein Herz ist, das entscheidet, ob mein Leben hart und bitter oder gerecht und freundlich ist. Anna war ein Geschenk für uns alle."

Soviel Gutes über Anna zu hören, macht mich glücklich. Sie wirkte auch auf mich nicht gebrochen. Aber aus berufenem Munde zu hören, dass Anna mit der ihr eigenen Herzensgüte so vielen Menschen die Freude zurückgegeben hat, erfüllt mich mit Glück.

Ach, Anna. Wie soll ich dir erklären, dass du und deine Kinder hier nicht verachtet würden? Alle hier würden dich lieben!

Ich kann zur Bestätigung nur nicken.
„Ich habe Annas innere Kraft bereits selbst heilsam erleben dürfen. Wollen wir hoffen, dass unser Neuanfang hier gelingt. Wollen wir uns dann dem Waisenhaus zuwenden? Ich wüsste gerne so viel wie möglich über diese Leiterin. Bisher weiß ich nur, dass die Kinder keine Schulbildung und keine Ausbildung mehr bekommen sondern nun sehr jung fortgeschickt werden. Was könnt Ihr mir noch erzählen?"
Almuth Jansen schaut nun wieder sehr ernst.
„Diese Leiterin heißt Hedwig Stolzer, und so ist sie auch. Diese Frau ist sogar mir zu kalt und zu stolz und richtig gemein zu den Kindern. Wo vorher freudiges Lernen und Kinderlachen herrschten, gibt es nun harte Arbeit, karges Brot und viele Schläge für nichts und wieder nichts. Sie ist schlicht grausam. Aber so sehr wirklich jeder hier in der Stadt Mitleid mit den Kindern hatte – wir konnten nichts für sie tun, weil die Stolzer irgendwie mit dem Brudenhusen verwandt ist. Ein paar Bürger haben sogar Waisenkinder zu sich geholt, um sie ihrem Zugriff zu entziehen und sie selbst auszubilden."
Ich kann bei diesem Bericht nur den Kopf schütteln. Ich habe doch bei Anna erlebt, wie glücklich Kinder sein, wie eifrig sie lernen, wie höflich und fröhlich sie sich betragen können, wenn sie nur sich und ihre Zukunft in guten Händen wissen.

„Wie ist das Waisenhaus organisiert?"
Almuth Jansen seufzt.
„Es gibt die Stolzer, die mehrere schön eingerichtete Räume bewohnt und für die Kinder nicht erreichbar ist. Es gibt drei Mägde und eine Köchin, die sich um die Kinder kümmern, sie zur Arbeit antreiben und mit harter Hand durchgreifen. Und es gibt einen Knecht, der alle Arbeiten an Haus und Hof erledigt, Reparaturen ausführt, solche Dinge eben. Die beiden Knechte, die den ausgedehnten Küchengarten beackert haben, wurden entlassen, das machen jetzt die Kinder."
„Was ist mit der persönlichen Habe der Kinder, mit dem, was sie am Tag ihrer Ankunft mitgebracht haben?"
Almuth Jansen lacht bitter.
„Lumpen wandern ins Feuer, Dinge von Wert landen bei der Stolzer. Und wenn die Kinder fortgeschickt werden, haben sie nichts als das nackte Leben und einmal Kleidung am Leib. Wenn sie in entsprechende Stellung gehen, müssen sie oft gleich auf ihren ersten Jahreslohn verzichten, weil die neuen Herren sie erstmal ausstatten müssen und ihnen das vom Lohn  abziehen. Sie sind vorher und hinterher wie Sklaven."

Die Vorstellung schüttelt mich.
„Dann lasst uns sehen, wie weit die Hannovers sind. Was Ihr berichtet, drängt mich zu gehen."
In diesem Augenblick kommt Jochen Hannover mit einem Bündel wieder zur Tür herein.
„Herr, wir könnten dann aufbrechen."
Almuth Jansen verabschiedet sich mit einem Knicks, geht hinaus und kommt sogleich wieder herein.
„Herr, vielleicht solltet Ihr etwas Naschwerk für die Kinder mitnehmen, um ihr Vertrauen zu gewinnen."
„Das ist eine gute Idee. Was könntet Ihr mir denn bringen?"
„Ich werde Euch einen Korb mit Äpfeln mitgeben und Brot. Wartet bitte einen Augenblick."
Sie eilt nach einem weiteren Knicks davon. Kurz darauf kommt eine Magd und gibt mir einen Korb mit geschnittenem Brot, einem Klumpen Butter und einigen schrumpeligen Äpfeln. Wenn das für die geplagten Kinder "Naschwerk" ist, dann ... Ich schlucke ein böses Wort hinunter.

Endlich mache ich mich mit den beiden Alten auf den Weg.
„Was denkt Ihr, was wir vorfinden werden?"
Jochen Hannover schaut recht grimmig drein.
„Einen Haufen verängstigter Kinder, denen unter Androhung von Strafe verboten wurde, über ihr Leben zu klagen, und eine durch die Gerüchte in der Stadt bereits vorgewarnte Stolzer, die angriffslustig und herablassend um ihre Stellung und um jeden Heller kämpfen wird. Vermutlich wird sie auch schon das eine oder andere beiseite geschafft haben, damit wir es ihr nicht wegnehmen können."
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Beiseite geschafft?"
„Nun, Frau von Lenthe hat von den Minnigerodes regelmäßig eine reichliche Summe für den Unterhalt des Heimes bekommen und darüber hinaus ihr eigenes Vermögen eingesetzt, um für diese Kinder alles zu tun, was ihr wichtig war. Da die Kinder nun so karg gehalten wurden, hat sie sicher auch ohne eigenes Vermögen nicht mehr so viel ausgegeben, wie ihr für das Haus zugeteilt wurde. Und den Überschuss hat sie mit Sicherheit in die eigene Tasche gewirtschaftet."

Wir sind grade schon vom Hof durch das Seitentor gegangen, aber nun mache ich auf dem Absatz kehrt und rufe den nächsten über den Hof laufenden Stallburschen an.
„Heda, kannst du mir die Landsknechte Joseph und Ruven schicken? Volle Montur!"
Der Bursche sprintet los, und wenige Minuten später treten meine beiden Getreuen zu uns, bewaffnet und zu allem bereit. Wir laufen von Neuem los und gehen nun sehr zügig. Ich würde am liebsten rennen vor Ungeduld, dieses Weib aus dem Amt zu jagen.

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19.1.2022

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