45 - Spurensuche

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SO. 1.4. a.d. 1571

Nun sind es noch genau zwei Wochen bis zu dem Tag, an dem ich abdanke, auf meinen Anteil am Land verzichte und Ludo zum Herzog gekrönt wird. Für die Krönung ist schon alles geplant und sehr viel vorbereitet worden, während ich in Gieboldehusen das unterste zu oberst gekehrt habe. Es bleibt viel zu tun, aber dennoch haben Ludo und ich nun einige Tage, an denen wir auch Zeit miteinander verbringen können. Wir erinnern, erzählen, planen und lachen sehr viel miteinander. Es tut gut, sich so noch einmal einander zu versichern, bevor unsere Wege deutlich auseinander gehen werden.

Im Laufe der Wochen füllen sich jedoch die Stadt und das Schloss mit Adligen aus allen Teilen des Landes, die gekommen sind, um der Krönung beizuwohnen und ihren Vasalleneid zu leisten. Ritter reisen an, um an dem Turnier teilzunehmen. Sie alle wollen beachtet werden, und so häufen sich nach und nach die Empfänge. Auch werden die Abläufe für den großen Tag immer wieder geübt, damit wirklich jeder weiß, wo er wann zu stehen, was er zu sagen hat.

Überall werden Tribünen aufgebaut, lassen sich fahrende Händler nieder, wird schon mal vorsorglich gefeiert, gesungen und ... naja ... gesoffen. Am Osterwochenende selbst werden sicherlich auch aus den näher gelegenen Dörfern noch viele Menschen kommen, um an dem öffentlichen Schmausen und dem Geldsegen teilzuhaben und dem Turnier zuzuschauen. Solche Anlässe sind selten genug.

Wenn ich Zeit für mich habe, streife ich durch das Schloss, die Gärten und die Stadt, versinke manches Mal in Erinnerungen an unsere Kindertage, an die heimlichen Ausflüge mit Karl ins Umland, daran, dass nie einer unserer Eltern begriffen hat, wie wir zum Schloss rein und rauskamen. Die Geheimgänge waren offenbar seit vielen Jahren in Vergessenheit geraten, und nur wir drei Söhne wussten davon. Und ich denke an meine Zukunft. Und an Anna.

Anna würde hier nicht herpassen. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin – Anna kann sich selbst nicht aus ihrem Dorf wegdenken, und darum würde sie sich überall fehl am Platze fühlen. Anna lebt für ihre Kinder.

Dabei fällt mir etwas ein.
Ich wollte doch ... nach der Verbindung zur Freifrau von Lenthe suchen!
Bei der nächsten Gelegenheit statte ich dem alten Bibliothekar einen Besuch ab. Es gibt im Schloss, von meiner Mutter angesammelt, eine wunderbare kleine Bibliothek. Mutter liebte es zu lesen. Und in meiner Erinnerung hat sie selbst auch viel geschrieben. Briefe vor allem. Aber auch ... Ich beschleunige meine Schritte, denn eine Erinnerung taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf.

Ich war ein Junge von sechs Jahren und sollte lesen und schreiben lernen. Es fiel mir furchtbar schwer, so lange still zu sitzen, meine Hand wollte nicht, wie sie sollte. Und ich verstand auch nicht, warum ich das lernen sollte. Da nahm meine Mutter mich bei der Hand und ging mit mir in ihr Privatgemach, wo sie schrieb, las, stickte oder ihre Hofdamen empfing. Sie zeigte mir ein dickes Buch, in Leder gebunden, mit vielen Seiten.
„Was ist das, Mutter?"
„Das, mein lieber Sohn, ist das Kostbarste, was ich besitze. Das Buch selbst war auch sehr teuer, aber das ist es nicht. Ich schreibe darin auf, wer ich bin, wo ich herkomme, was ich denke, was in meinem Leben so passiert. Ich erzähle dem Buch von meinem Mann, dem Herzog, der mit viel Geschick dieses Land führt. Und von meinen beiden Söhnen, die ich über alles liebe."

Ich erinnere mich, wie ich sie angestarrt und erst nach und nach begriffen habe, dass sie damit mich und meinen Bruder meinte.
„Ihr schreibt über mich, Mutter?"
Sie hat gelächelt und genickt.
„Ja, Johann. Ich erzähle dem Buch, was für ein fröhliches Wesen du hast, wie sehr du voller Ideen und Unfug steckst, wie sehr du deinen kleinen Bruder liebst. Aber ich erzähle auch, wenn Tante Agnes zu Besuch kommt, wenn dein Vater sich Sorgen macht, weil ein Gewitter einen Teil der Ernte zerschlagen hat, ... Ach, einfach alles. Und weißt du, warum?"
Ich habe den Kopf geschüttelt. Ich konnte nicht verstehen, warum jemand freiwillig so viel schreiben wollte.
„Ich schreibe das auf, Johann, weil ich für dich und Ludwig eine Erinnerung schaffen will. Ihr sollt, wenn ihr groß seid, nachlesen können, wer eure Eltern waren, wie euer Leben angefangen hat, was für ein Land das ist, das ihr da eines Tages erbt. Dieses Buch soll für euch einmal eine Verbindung zur Vergangenheit sein und euch den Weg in die Zukunft weisen."

Ich eile noch eine Treppe hinunter und einen Gang entlang in der Hoffnung, der alte Freiherr von Mechtern möge heute in der Bibliothek sein. Als ich den kleinen, hohen Raum voller Regale betrete, sitzt er gebeugt über den großen Tisch inmitten all der Bücher. Ich schaue ihm über die Schulter und sehe, dass er mit seiner gestochen feinen Handschrift lange Gästelisten für die Krönungsfeierlichkeiten schreibt. Als er mich bemerkt, legt er jedoch sofort die Feder beiseite, erhebt sich und verbeugt sich tief.
„Hoheit! Welch eine Ehre, dass Ihr mich besucht."
Ich lache den alten Mann an.
„Aber natürlich! So oft werde ich in Zukunft nicht mehr hier sein. Und ich muss doch wenigstens noch einmal den Mann besuchen, der mir das ABC eingebläut hat."
Von Mechtern entspannt sich.
„Ja, Hoheit, das war nicht einfach. Ihr wolltet einfach nicht einsehen, wozu das gut sein soll beim auf Bäume klettern und den Dienern entwischen."
Wir müssen beide sehr lachen.

„Aber dann, eines Tages, und ich weiß bis heute nicht, warum, wolltet Ihr lernen, Hoheit. Ihr wart ganz begierig, endlich lesen und schreiben zu können. Unaufhörlich kratzte Euer Griffel über Eure Schiefertafel, und Ihr wolltet wochenlang nicht nach draußen gehen."
Abwartend sieht er mich an, und ich muss schmunzeln, denn genau dazu hat mir eben auf dem Weg hierher meine Erinnerung die Antwort gegeben.
„Ich denke, ich kann Euch sagen, woran das lag. Meine Mutter hat ein Buch gefüllt mit all ihren Erinnerungen. Ich hatte mich bei ihr beschwert, dass ich schreiben lernen muss, und da hat sie mir dieses Buch gezeigt. Die Vorstellung, dass meine Mutter für mich und meinen Bruder ein richtiges Buch vollschreibt, fand ich so faszinierend, dass ich das auch können wollte. Darum habe ich danach nicht locker gelassen, bis ich das Lesen und Schreiben richtig beherrschte. Ich wollte das eines Tages lesen können. Und dieses Buch ist auch der Grund, warum ich jetzt hier bin. Ich suche es. Habt Ihr eine Vorstellung, wo das sein könnte? Wo sind solche persönlichen Sachen unserer Mutter nach ihrem Tod aufbewahrt worden?"

Der alte Mann seufzt glücklich.
„Das ich das noch erlebe! Das Buch ist hier. Sie hat mir kurz vor ihrem Tod erzählt, dass es existiert, und dafür gesorgt, dass es nach ihrem Tod mir ausgehändigt wird. Sie hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass es eines Tages in die Hände von Euch und Eurem Bruder gelangt. Ich habe immer auf den richtigen Moment gewartet. Nun ist er da."
Mit einem glücklichen Strahlen wendet er sich um, verschwindet hinter einem Regal, ich höre es rascheln. Und nach einer Weile kommt er mit einem dicken Buch zurück, das ich sofort erkenne.
„Hier, Euer Hoheit. Das Buch Eurer Frau Mutter. Ich bin mir nun sicher, dass Ihr es zu würdigen wisst. Lasst Euch mit hineinnehmen in die ganz besondere Weisheit unserer seligen Herzogin."

Ehrfürchtig nehme ich das Buch entgegen.
„Habt herzlichen Dank für Eure Treue, von Mechtern. Ihr habt mir soeben einen großen Schatz gegeben. Ich will ihn ehren und mit meinem Bruder teilen."
Als hätte ich die zarte Susanna im Arm, so vorsichtig trage ich das Buch in meine Gemächer. Viel Schlaf bekomme ich nicht in dieser Nacht. Erst lese ich über die Jugendjahre meiner Mutter, bis mir die Augen zufallen. Dann lösche ich die Kerze, lege mich zum Schlafen hin und kann nicht einschlafen, weil mich so beschäftigt, was ich gelesen habe. Denn einerseits fasziniert es mich sehr, wer meine Mutter war, wie sehr ihr Wesen aus ihren Worten spricht. Was von ihrem Wesen ich in Ludo und mir wiederfinden kann. Und andererseits – taucht bereits hier Magdalena von Lenthe als eine Jugendfreundin von Mutter und Tante Agnes auf. Sie sind zusammen erzogen worden. Im Hannoverschen, wie es mir die Äbtissin in Minnigerode berichtet hat. Freifrau von Lenthe war sogar ganz kurz verheiratet gewesen, berichtet Mutter hier ganz freimütig. Doch dann war sie auf einmal verschwunden.
Und ich weiß auch, wohin. Ich weiß nur noch nicht, wie Anna in dieses Bild passt.

Ich spüre zwischen den Zeilen, dass Mutter das wohl wusste. Aber sie schien der Meinung gewesen zu sein, dass diese Informationen für uns Söhne nicht von Bedeutung sein können, darum hat sie weiter nicht von dieser kurzen Ehe oder dem Manne dazu oder ihrem Verbleib berichtet. Lange denke ich darüber nach, entdecke aber keinen weiteren Hinweis. Erst in den frühen Morgenstunden finde ich Schlaf.

Zwei Tage lang stecke ich in jeder freien Minute mit meiner Nase in diesem Buch. Ich habe natürlich sofort am nächsten Morgen Ludo davon erzählt, und wann immer er etwas Zeit erübrigen kann, kommt er zu mir, ich lese ihm vor, und wir teilen unsere Erinnerungen an Mutter. Es berührt uns, wie sehr sie uns geliebt hat, wie einfühlsam sie sich uns zugewandt hat, wie gut sie uns bis ins Innerste gekannt hat. Es erstaunt uns, wie klug sie als stille Beraterin meinem Vater zur Seite gestanden, ihm nahe gestanden und die Geschicke dieses Landes mit ihrem Herzen mitgelenkt hat. Es tut so gut, gemeinsam ihrer zu gedenken. Ich spüre, wie sehr es mich als Kind zerrissen hat, dass sie einfach fort war. Bis in meine Träume in Lütgenhusen hat mich das verfolgt. Doch nun spüre ich auch, dass ich Mutter allmählich in Frieden gehen lassen kann. Gemeinsam besuchen wir ihr Grab und gedenken ihrer in der Stille und im Gebet. Durch das Buch hat sie uns etwas Großartiges hinterlassen und ein festes Band zu uns geknüpft, das uns erhalten bleibt.

„Wer wohl die weise, einfühlsame Herzogin an deiner Seite sein wird, Ludo?"
Während wir zurück zum Schloss laufen kommt mir dieser Gedanke.
„Das ist leicht zu beantworten. Clara, so Gott will. Sie hat an meiner Seite ausgeharrt, während Karl auf der Suche nach dir war. Sonst wäre ich endgültig wahnsinnig geworden. Und wir sind uns Tag für Tag in tiefen Gesprächen und stillen Momenten immer näher gekommen."
Ich schaue Ludo von der Seite an und sehe sein Strahlen.
„Habt ihr euch schon ausgesprochen?"
Ludo schüttelt den Kopf.
„Nein, ich wollte abwarten, bis klar ist, ob ein Herzog oder ein Berater eines Herzogs um ihre Hand anhält. Es wäre nicht anständig gewesen, sie und ihren verehrten Herrn Vater da im Unklaren zu lassen. Aber eben habe ich beschlossen, dass ich das noch vor der Krönung tun möchte. Vielleicht ..."
Sein Strahlen wird noch heller.
„Vielleicht ... kann ich dann beim Krönungsball bereits die Verlobung verkünden."
Mitten im Laufen halte ich inne und nehme meinen Bruder herzlich in die Arme.
„Tu das! Clara ist längst alt genug, um zu heiraten. Ich glaube, dass sie und der alte Pagenstecher schon lange darauf warten. Ich wünsche dir alles Glück, auf dass eure tiefe innere Verbindung euch immer erhalten bleibe und immer noch weiter wachsen möge."


stiller Rebell

SA. 7.4. a.d. 1571

Eine Woche vor der Krönung, am Abend vor Palmsonntag, gibt Ludo für alle bereits in der Stadt anwesenden Gäste ein großes Staatsbankett. Er hat sich vorgenommen, möglichst einige seiner Adligen etwas kennen zu lernen schon vor der Krönung, wo sich alle an eine strenge Ettikette halten müssen. Der große Saal des Schlosses ist mit einer endlos langen Tafel versehen, zwei lange Reihen akkurat ausgerichteter Stühle ziehen sich daran entlang, Kristallgläser glitzern im Schein der hunderten von Kerzen in den Kronleuchtern und Ludo und ich stehen am Eingang dieses Saales, um die Gäste zu empfangen. Der alte Herr von Pagenstecher hat die ehrenvolle Aufgabe, den Namen jedes eintreffenden Gastes laut zu verkünden. Ganze Familien mit wohlklingenden Namen erscheinen vor uns, fallen in tiefe Knickse, machen Verbeugungen und danken für die Einladung. Ich spüre ein Kribbeln der Ungeduld in mir, aber ich sehe gleichzeitig auch, dass Ludo dabei ganz ruhig ist und mit Geduld und Konzentration diesen Moment erlebt.
Wie gut, dass ER der Herzog wird. Ich würde hier wahnsinnig werden!
Der Saal füllt sich mit Menschen, die untereinander tuscheln, sich begrüßen, uns beäugen. Bedienstete laufen dazwischen hin und her und bieten Erfrischungen an, es summt wie in einem Bienenkorb.

Die einzig positive Unterbrechung dieser Narrenparade ist das Eintreffen von Karl von Pagenstecher mit seiner Schwester Clara am Arm. Ludos Augen leuchten auf, als er Claras Knicks mit einer Verbeugung beantwortet und ihr einen Moment lang tief in die Augen schaut. Und Karl erlaubt sich einfach entgegen aller Ettikette, mich fest in die Arme zu nehmen. Dabei flüstert er mir mit breitem Grinsen etwas zu.
„Ob unsere beiden Turteltäubchen wohl endlich zu Potte kommen?"
Ich boxe ihm mit einem Augenzwinkern vor die Schulter, ignoriere die empörten Blicke einiger älterer Hochwohlgeborener und schiebe Karl schnell weiter.

Von Pagenstecher kündigt grade eine Familie von Thaden an, als ich genauer hinsehe und mir das Lachen verkneifen muss. Ich blicke Ludo nicht an, weil ich genau weiß, dass auch er sich grade sehr beherrschen muss. Wir sehen vor uns ein würdiges Elternpaar, zwei herausgeputzte Töchter, die schon etwas verblüht sind, aber des langen und breiten mit all ihren Vorzügen angepriesen und uns auffällig direkt unter die Nase geschoben werden – und zwei Söhne. Der offensichtlich Ältere hat die Nase hoch im Wind und trägt seinen Stolz auf einem Silbertablett vor sich her.

Der Jüngere dagegen läuft angesichts der schamlosen Präsentation seiner Schwestern dunkelrot an und schreit förmlich nach einem Mauseloch zum Verkriechen.
Der junge Mann sieht bescheiden und sympathisch aus, er hat Manieren und scheint der Klügste in dem ganzen Haufen zu sein. Ich beschließe, dass ich mich seiner später etwas annehmen will. Ich beobachte, wie er sich so schnell und so unauffällig wie möglich von seiner Familie absetzt und sich in eine Ecke des Saales als stiller Beobachter des bunten Treibens zurückzieht. Ich bin nur noch mit halbem Herzen bei der endlosen Parade von weiteren Gästen, denn der jüngere von Thaden macht mich neugierig.

Als schließlich alle Gäste eingetroffen sind, begeben Ludo und ich uns zu unseren Sitzen am Kopf der langen Tafel. Da ich nominell noch der Herzog bin, begrüße ich unsere Gäste, gebe dann aber das Wort an Ludo weiter. Wir stoßen an, setzen uns und bekommen bestimmt zwei Stunden lang ein köstliches Gericht nach dem nächsten gereicht. Silberne Schüsseln und Platten in endloser Abfolge werden voll hereingetragen und wandern leer wieder hinaus. Ich genieße das leckere Essen. Aber eine leise Stimme in meinem Hinterkopf erinnert mich daran, dass der morgendliche Getreidebrei in Annas Hütte mit innigem Gebet, großer Dankbarkeit und fröhlich plappernden Kindern so viel glücklicher genommen und zufriedener gelöffelt wurde, als hier in steifem Gewand unter den Blicken aller Adligen dieses Landes diese Köstlichkeiten zu verspeisen.

Als Ludo schließlich die Tafel aufhebt und sich überall zwanglos plaudernde Grüppchen bilden, geht er drauflos, um sich mit einigen Herrschaften direkter zu unterhalten. Ich beneide ihn nicht um die höchst wichtige Aufgabe, nur ja niemand in der falschen Reihenfolge anzusprechen und dadurch jemand in seinem Rang herabzuwürdigen. Ich dagegen lasse meine Augen durch den Saal wandern auf der Suche nach dem jungen von Thaden. Wieder hat er sich an den Rand des Saales verzogen, wieder möglichst weit weg von seiner Familie, wieder hält er sich, ohne viel zu trinken, an einem Glas Wein fest und beobachtet angewidert das viele künstliche Getue im Saal. Ich geselle mich zu ihm.
Als er mich kommen sieht, versteift er sich, grüßt mich ausgesprochen höflich und ist nicht leicht in ein Gespräch zu ziehen. Aber nach einer Weile treffe ich doch seinen Humor und kann ihn wieder etwas auftauen. Immerzu sprechen mich Menschen an und wollen meine Aufmerksamkeit, aber ich weiche nicht von seiner Seite.

Als wir mal wieder ungestört sind, fängt er an zu drucksen. Dann gibt er sich einen Ruck.
„Verzeiht, Hoheit, wenn ich eine sehr neugierige Frage stelle."
Abwartend sieht er mich an, und ich nicke ihm lächelnd zu.
„Wie kommt es, dass Ihr Euer angestammtes Recht aufgebt und auf die Herzogenwürde verzichtet? Was ist so verlockend, dass Ihr dafür Ehre und Würde und Pflichtbewusstsein und Ruhm fahren lasst?"
Nun ist die Neugierde, gepaart mit dem unsicheren Gefühl, ob er mir nicht zu nahe tritt, nicht mehr zu übersehen in seinem Gesicht. Ich überlege nur kurz, wie offen ich sein will. Aber aus seiner Frage spricht unverhofft ganz viel Not, also antworte ich ehrlich und offen.
„Ich habe mich mein Leben lang immer lieber draußen als drinnen aufgehalten, ich wollte noch nie Herzog werden, und mein Bruder hat all die Jahre mit sehr viel mehr Interesse den wie-werde-ich-ein-guter-Herzog-Lehrstunden gelauscht als ich. Alleine diese endlose Begrüßungszeremonie vorhin würde mich in den Wahnsinn treiben, müsste ich das mein ganzes Leben lang machen. Mein Bruder hingegen hat mit Engelsgeduld jede Schmeichelei durchschaut und weggelächelt. Er wird diese Aufgabe mit Hingabe und Umsicht annehmen. Mich hätte es ein Leben lang gequält."

Ein tiefes Stöhnen entflieht dem jungen Mann neben mir.
„Ach, könnte ich doch auch einfach machen, was ich will!"
Wir schweigen einen Moment. Dann fasst er sich wieder.
„Was werdet Ihr stattdessen tun, Hoheit?"
Ich kann auch diese Frage leicht und schnell beantworten.
„Ich werde meinem Herzen folgen."
Dann öffne ich mich ihm, erzähle, dass es mir wohl ähnlich ging wie ihm jetzt, dass ich geflohen bin und dabei in meinem ererbten Lehen meine Bestimmung gefunden habe.
„Ich werde dort leben. Ich werde viel draußen sein, ich möchte Kontakt haben zu den Menschen, die mir anvertraut sind. Und der nächste Adelige, der das Bedürfnis hat, mich Hoheit zu nennen, ist einen ganzen Tagesritt weit weg!"
Ich spüre selbst, wie befreit ich klinge, wenn ich das sage. Und er lacht endlich.

„Ihr seid zu beneiden, Ho... Wie ... möchtet Ihr denn angeredet werden?"
Ich schmunzele.
„Die Menschen dort nennen mich einfach 'Herr', und ich bevorzuge die Sorte, die nicht auf Knien vor mir rutscht sondern mir ehrlich ins Gesicht sagt, wenn ich grade Unsinn mache."
Erstaunt zieht er eine Augenbraue hoch.
„Das lasst Ihr Euch gefallen?"
„Von Herzen gern. Denn es zeigt mir, dass diese Menschen mir vertrauen, statt sich vor mir zu fürchten."

Von Thaden seufzt.
„Ich wurde dazu erzogen, der Verwalter meines eigenen Bruders zu sein. Aber Ihr habt ihn vorhin erlebt. Er ist überheblich und stolz und behandelt die Menschen, die ihm sein Auskommen bescheren, von oben herab. Er ist gnadenlos und verlangt von mir, dass ich dasselbe tue. Ich bin gerne draußen, die Verwaltung seiner Ländereien macht mir Freude. Aber ich komme mit ihm nicht aus, und er hört nicht auf mich. Das vergällt mir alle Freude."
Nun werde ich hellhörig.
„Was würde passieren, wenn Ihr Euch weigertet, für Euren Bruder zu arbeiten, weil Ihr – sagen wir mal – in einem anderen Lehen eine Stelle als Verwalter anträtet?"
Gespannt erwarte ich seine Antwort.

„Ich wüsste nicht, wie ich an eine andere Stelle kommen sollte. Ich würde mit wehenden Fahnen dorthin eilen und mich keinen Heller um die Empörung meiner Familie scheren. Nur fort von dort!"
„Nur fort von dort ist aber eigentlich kein schönes Ziel. Wovon träumt Ihr, von Thaden?"
Erstaunt sieht er mich an.
„Das hat mich in meinem ganzen Leben noch nie jemand gefragt. Wovon ich träume!"
„Und? Wovon träumt Ihr?"
„Von einer Stelle als Verwalter bei einem Herrn, der mich und jeden anderen Menschen in seinem Lehen achtet und sein Herz dareinlegt, seiner Verantwortung für diese Menschen gerecht zu werden."

Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde, einen würdigen, kompetenten und menschlich zu mir passenden Nachfolger für den alten Bader zu finden!
„Dann würde ich sagen: fahrt nach der Krönung nach Hause, packt Eure Sachen und probiert aus, wie Euch das Leben in Gieboldehusen behagt. Ich habe einen sehr alten, humorvollen, selbstbewussten Verwalter aus dem Ruhestand zurückgeholt, weil der letzte nichts taugte. Und nun bin ich auf der Suche nach einem Jüngeren, der eingearbeitet werden kann, damit der alte Mann zurück auf sein wohl verdientes Altenteil kehren kann."
Stumm starrt er mich an und versucht, meinem Gesicht abzulesen, ob ich das ernst meine.
„Und: ja, das meine ich ernst. Ich habe das Gefühl, dass Ihr mein Mann seid. Wenn Ihr das wollt."

„W... das ... Ich ..."
Er verschluckt sich fast an seinen Worten.
„Herr, das ... Bitte, sagt mir, wie groß ist das Lehen? Was gehört alles dazu? Was wären meine Aufgaben? Ich ... will sicher sein, dass ich dem gewachsen bin und Euch nicht enttäusche."
„Eine kleine Stadt mit Markt und Umland, ein Hospiz, ein Waisenhaus und drei Dörfer mit Land. Dazu einen Teil der Südgrenze Richtung Eichsfeld. Selbstbewusste Bauern, die lange unter dem letzten Verwalter gelitten haben und sehr ausgebeutet wurden. Es gibt also viel zu tun, um wieder Gerechtigkeit und Ruhe ins Lehen zu bringen. Der Lohn dafür sind dankbare, treue Untertanen und ein Herr, der sich auf humorvolle Gespräche mit einem Gleichgesinnten bei Tisch freut."

Seine Augen schweifen in die Ferne. Er flüstert nur.
„Das ist viel. Ob ich das schaffe? Aber so eine Gelegenheit kommt nicht wieder!"
„Macht Euch keine Sorgen, von Thaden. Der alte Bader ist ein wundervoller und sehr geduldiger Mensch, der so viele Jahre lang dieses Lehen verwaltet hat, bevor er in den Ruhestand ging. Er wird Euch einarbeiten, bis Ihr jeden Stein im Land mit Vornamen kennt. Ich weiß, dass Ihr das schaffen könnt, wenn es Euer fester Wille ist. Denn Eure Einstellung dazu ist die Richtige. Alles andere wird sich finden."
„Herr, ich ... bin überwältigt. Ich wurde gezwungen, mit hierher zu reisen. Das alles hier ist mir so fremd und unehrlich und ... Und nun finde ich hier mittendrin mein Glück!"

Ich halte ihm meine Hand hin.
„Wie schnell werdet Ihr Euch lösen können?"
Er ergreift meine Hand, und seine Stimme zittert ein wenig.
„Keine Sorge! Sollen sie toben. Ich werde packen und nicht lange um Erlaubnis bitten. Wenn der Bruder des Herzogs nach mir ruft, können sie mich nicht halten. Sollen sie meinetwegen damit angeben, um sich meine Flucht schön zu reden. Wenn ich nur frei bin."

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26.1.2022

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