51 - Ich bin ...

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SA. 28.4. a.d. 1571

Nur mühsam finden meine Gedanken einen Weg durch den schier undurchdringlichen Nebel in meinem Kopf. Mir ist schwindelig. Und erst, als ich die Augen aufklappe, merke ich, dass ich in Hannes Armen liege, der mich besorgt ansieht.
„Geht es dir gut, Anna? Langsam! Bleib noch liegen, du bist plötzlich ohnmächtig geworden."
Ich klappe die Augen wieder zu und konzentriere mich ganz darauf, dass Hannes mich sicher hält.
Erst nach einer Weile öffne ich die Augen wieder.
„Was ist passiert?"
Hannes schüttelt den Kopf.
„Wir haben mit dem Schlüssel von deinem Hals die Schatulle geöffnet, die ich im Christophorus-Haus gefunden habe. Es war ein versiegelter Brief darinnen. Du hast angefangen, den Brief zu lesen. Aber schon nach wenigen Sätzen bist du einfach mit einem leisen Seufzen umgefallen. Ich konnte dich grade noch auffangen."

Es klingt seltsam. Vertraut und doch so fremd. Ich bin noch nie zuvor in meinem Leben ohnmächtig geworden!
„Was ... steht denn in dem Brief?"
„Ich habe ihn nicht gelesen. Ich habe nur auf dich geachtet."
Ich fühle mich geborgen in seiner aufmerksamen Fürsorge, aber nun muss ich doch herausfinden, was in diesem Brief steht.
„Hilf mir bitte auf."
Ganz langsam richte ich mich auf und lehne mich gegen Hannes, der mich weiterhin hält.
„Wo ist der Brief?"
Er reicht mir die eng beschriebenen Seiten. Ich fange an zu lesen, höre aber schon nach der Überschrift wieder auf.
„Kannst ... Könntest du mir vorlesen? Und mich weiter halten?"

Hannes legt seinen Arm fester um mich, greift mit der anderen Hand das Schreiben und beginnt, laut zu lesen. Als er die letzte Zeile gelesen hat, legt er den Brief beiseite und nimmt mich lange in die Arme. Er sagt nichts. Er lässt mich in Ruhe begreifen, was das alles für mich bedeutet. Ich bin die legitime Tochter eines Grafen und einer Freifrau. Ich bin tatsächlich in der Obhut und Liebe meiner leiblichen Mutter aufgewachsen, weil treue Freunde ihr dies ermöglicht haben. Und mir. Und wenn ich das will, kann ich mit einer Urkunde in der Hand zu meinem Vater gehen und als seine Tochter ein standesgemäßes Leben führen. WENN ich das will.
Ich begreife die Tragweite noch nicht. Bin ich jetzt jemand anderes? Oder habe ich nur plötzlich einen anderen Namen? Und was sind jetzt meine Kinder? Kann bitte jemand dem Sturm in meinem Kopfe Einhalt gebieten?

„Halt mich bitte fest. Ich bin so verwirrt."
So sitzen wir da auf dem Findling mitten im Wald, Hannes hält mich und es passiert nichts -  außer, dass ich ab und zu verwirrt den Kopf schüttele. Irgendwann stiehlt sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Was ist?"
„Ich glaube, du könntest inzwischen wenigstens ab und zu ein Nicken zwischen das ganze Kopfschütteln streuen. Oder einfach drauflosreden, damit ich dir beim Sortieren helfen kann."
Leichter gesagt als getan.
„Ich frage mich die ganze Zeit, was passieren wird, wenn ich bei meinem Vater auftauche. Ich werde sehr einfach gekleidet sein und drei Kinder an der Hand haben, die meilenweit unter Stand sind. Wie würde er mich aufnehmen? Wie würde er auf die Kinder reagieren? ... Wenn er verlangt, dass ich sie hergebe, mache ich auf dem Absatz kehrt!"
Hannes lacht wieder leise, und seine Augen glänzen vor Vergnügen.
„Wenn er das tut, ist er selbst schuld. Dich und deine Kinder kriegt man nicht mit einer Säge auseinander. Das habe ich ja selbst erlebt."
Kurz drückt er mich.

„Nein. Ich denke, du solltest da nicht einfach auftauchen. Sonst erliegt der alte Herr noch einem Herzschlag vor Freude. Wir machen eine Abschrift von der Urkunde, ich schreibe ihm einen höchst offiziellen Brief und erkläre die Situation, du schreibst einen persönlichen Brief und erzählst von deinem Aufwachsen mit deiner Mutter. Du lässt weder Jacob Adam aus noch die drei Kinder noch deine Liebe zu ihnen. Und am Schluss fragst du ihn einfach, ob er dich sehen möchte. So hat auch er Zeit, die Neuigkeiten bei sich sacken zu lassen, zwischen den Zeilen zu lesen und sich in Ruhe zu entscheiden. Was hälst du davon?"
Ich nicke stumm und bedenke das.
„Er muss ein alter Mann sein. Hoffentlich ist er noch gesund, und ich komme nicht zu spät! Doch, ich glaube, ich möchte ihn kennenlernen. Ich bin erwachsen, er wird mich also nicht hindern können zu gehen, wenn ich mich dort nicht wohlfühle."
Hannes schüttelt den Kopf.
„Na, da spricht aber die geknechtete Bäuerin aus dir. Warum gehst du davon aus, dass er dich zu irgendetwas zwingen will? Du bist nun eine freie Frau adliger Herkunft, Du hast Bildung, Würde und Verstand. Und einen festen Willen. Und – ich bin ja auch noch da ..."

Ich richte mich auf und schaue Hannes fest an.
„Aber du lässt mich das selbst regeln!"
Und wieder lacht er. Das heitere Lachen, das ich so sehr liebe. Er steht auf, macht eine tiiiiieeeeefe Verbeugung vor mir und zwinkert mir zu.
„Ich würde es nie wagen, Euer Hoheit zu bevormunden!"
Schnell gebe ich ihm einen Klaps auf den Arm.
„Wenn Du nicht willst, dass ich Euer Hoheit zu dir sage, dann lass das bitte auch bei mir."
Wir nehmen jeder unser eigenes Kästchen unter den einen Arm, ich ergreife seinen dargebotenen anderen Arm und so spazieren wir wieder aus dem Wald hinaus.

Kurz, bevor wir die anderen erreichen, bleibt Hannes noch einmal stehen.
„Anna? Darf ich dich und die Kinder nach Gieboldehusen einladen? Als meine sehr willkommenen Gäste? Ich würde gerne mit dir zusammen die Briefe an deinen Vater schreiben und abschicken. Und die Hannovers haben tausend Fragen an dich über das Christophorus-Haus. Und ein Schneesturm ist im Moment auch nicht zu erwarten."
Endlich! Endlich sind wir wieder gelassen und albern. Wie sehr ich das vermisst habe!
„Jetzt sofort?"
„Naja, ich würde sagen: ihr kommt in den nächsten Tagen, bleibt ein paar Nächte, und du kannst den Kindern zeigen, wo und wie du aufgewachsen bist. Du kannst ihnen zeigen, wo du zur Schule gegangen bist. Du erzählst ihnen einfach von dir. Ich werde mir auch Zeit für die Kinder nehmen. Wenn ihr der Schule einen Besuch abstattet, können meine Lehrerbrüder unauffällig nach Jakob schauen. Und wenn die Kinder beschäftigt sind, schreiben wir die Briefe."

„Aber was werden sie im Dorf sagen, wenn ich einfach so in die Stadt fahre? Was wird dein Gesinde* sagen?"
„Du Zweiflerin! Ich werde einen Boten mit einer Kutsche schicken. Dann muss der Elias nicht schon wieder ran. Und du fragst Grete oder Linde Ferz, ob sie als Anstandsdame und für die Kinder mitkommen."
Das klingt nach einer guten Lösung. Doch dann schaue ich an mir herab und erröte.
„Aber, Hannes! Ich kann doch nicht ..."
„Grrr. Du kannst! Was auch immer du sagen wolltest – du kannst! Geh nach Haus, bereite deine Kinder vor. Übermorgen kommt die Kutsche, du ziehst dein schönes Gewand an, fährst den Kindern einmal mit einem Lappen über die Nase. Und los geht's. Komm!"

Hannes bietet mir wieder seinen Arm an und führt mich zurück zu den Männern am Zaun. Klaas grinst uns entgegen. Aber Hannes schüttelt ganz leicht und warnend den Kopf, daraufhin ist Klaas still. Hannes schnürt seine Schatulle wieder an seinem Sattel fest, ich halte meine sorgfältig im Arm. Dann steigt er auf, winkt noch einmal und reitet wieder hinter dem Mühlenhügel davon.
Ganz still stehe ich da und schaue ihm versonnen hinterher. Die Männer arbeiten einfach weiter, und ich hänge meinen Gedanken nach.
Wenn ich das nicht sofort mit jemand teilen kann, platze ich vor Anspannung! Gott, mit wem darf ich das teilen? Zu wem könnte ich gehen?
Dann gebe ich mir einen Ruck.
„Klaas, wenn jemand fragt – ich bin beim alten Jasper."
Eilig mache ich auf dem Absatz kehrt und laufe zurück ins Dorf.

Was bin ich froh!
Jasper sitzt vor seiner Kate auf der Bank in der Sonne. Ich rufe seinen Namen, und er lauscht in meine Richtung.
„Was gibt es, Mädch'n? Du klingst aufgeregt."
Schnell laufe ich zu ihm hin, bitte ihn, mit mir hineinzugehen und rutsche drinnen ihm gegenüber auf die Bank. Und so sprachlos, verwirrt und erschüttert ich vorhin noch war, als ich nur anfing, die Tragweite dieses Briefes zu erfassen, so aufgeregt sprudelt nun alles aus mir heraus. Ich erzähle ihm von Hannes heimlichem Besuch grade eben, von dem Schlüssel um meinen Hals, von den beiden Kästchen, von dem Brief.
Auf einmal fängt der alte Mann schallend an zu lachen.
„Also noch jemand, zu dem wir in Zukunft 'Durchlaucht' sag'n müss'n!"
„Jasper! Niemals!!!"
Tastend greift er nach meiner Hand und lächelt.
„Verzeih mir, mien Mädch'n. Dat musste jetzt einfach sien. Niemals würd ik auf diese Idee komm'n! Du bleibst unsere Anna."

Dann werden wir beide ganz still.
„Jasper, was mach ich denn jetzt?"
Er schmunzelt.
„Was möchtest du denn jetzt mach'n?"
„Ich ... möchte wohl meinen Vater kennenlernen. Aber ich möchte nicht dort leben. Meine Heimat ist hier. Ich möchte so gerne bei Hannes sein. Aber ich habe nicht mal ein Kleid, das auch nur gleich gut ist wie die der Zimmermädchen im Schloss. Wie soll mich da jemand respektieren?"
Wieder lacht Jasper.
„Du weest aber schon, dat du grade wedder dumm Tüch redest, oder? Du hast mir vertellt, wie allein deine Anwes'nheit un dein Sing'n ein'n ganz'n aufgescheucht'n Haushalt verändert hab'n. Wie kümmst du auf die Idee, dat sie dich nich acht'n könnt'n? Un dat du standesgemäß gekleidet bist, dafür wird dann wohl recht bald der klingelnde Büddel sorg'n. Un versprich mir eins, Mädchen. Lass dir Kleider näh'n, die dir gefall'n un bequem sind. Lass dir von niemand aufschwätz'n, wie du nach der neuest'n Mode auszuseh'n hast. Denn es wird dir viel, viel leichter fall'n, dich in diese seltsame neue Rolle zu find'n, wenn du dich in deiner Haut – un deiner zweit'n Haut – wohl fühlst. Schlichte Stoffe, schlichte Farb'n. Sei un bleib ganz du selbst. Dann wird es dir geling'n."

Ich rücke rüber neben ihn auf die Bank, lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab und betrachte stumm das flackernde Licht der kleinen Kerze.
Ich habe einen Vater. Ich werde ihn kennenlernen. Und meine geliebte Frau von Lenthe war tatsächlich meine Mutter. Wie viele Nächte habe ich wach gelegen oder davon geträumt, dass ich eine so wundervolle Mutter haben dürfte, wie sie es für mich war. Welch ein zauberhaftes Geschenk des Schicksals. Und doch – wie grausam für sie, dass sie mir das nie sagen durfte, dass sie mir ihre Liebe nur heimlich schenken durfte, dass ihre Tochter sie nicht ein einziges Mal in den Arm nehmen und sagen durfte:"Ich liebe dich, Mutter."
„Ich danke dir sehr, Jasper. Für alles, was du mir in den Jahren hier an Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt hast."
Ich stehe auf.
„Heijo, Mädchen. Dat klingt ja fast schon wie en Abschied. Hast du dich nun umbesonn'n?"
„Ich weiß es noch nicht, Jasper."
„Aber ik. Ik hörs. An deiner Stimme. Genieß es!"

Ich stehe auf und laufe mit meinem feinen Kästchen zu Irmel, wo meine Kinder in der Diele fröhlich spielen.
„Kannst du vorm Abendessen den kleinen Jasper rumschicken, dass ich alle Verbündeten zu mir einlade für den Abend? Wenn die Kinder schlafen?"
„Aber natürlich, Anna. Bis nachher. ... Du kiekst irgendwie ... anners aus als in den letzt'n Woch'n. Gut! Ik freu mich."
Ich gehe mit meinen Kindern nach Hause. Und dort schiebe ich als erstes das Kästchen auf den Dachboden, damit die Kinder nicht zu neugierig werden. Meine Schritte sind leichter als in den letzten Wochen, ich habe ein Lächeln auf den Lippen. Ich will ja gar keine Gräfin sein. Aber der Druck und die Rastlosigkeit, die Trauer und Verwirrung sind etwas Neuem gewichen, das ich selbst noch gar nicht greifen kann. Ich weiß nur: es tut mir gut. Und heut Abend werde ich es allen erzählen. Ich bin gespannt, was sie dazu sagen werden.


„Nur Mut!"

SA. 28.4.1571

Nach dem Abendessen habe ich mir Susanna und Peter auf die Beine gesetzt, Jakob mir gegenüber auf die Tischkante, und dann habe ich alle drei in die Arme genommen.
„Ich hab ein Geheimnis entdeckt. Wollt ihr es hören?"
Die Kinder sind zwar müde von dem langen Tag bei Irmel und an der frischen Luft. Aber nun beginnen ihre Augen doch zu glänzen. Jakob nickt eifrig und schaut mich aus großen Augen an.
„Natürlich Mutter. Wir werden auch nichts verraten!"

Behutsam erzähle ich ihnen vom Waisenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, schwärme mit sicher leuchtenden Augen von meiner Mutter, zeige auch ihnen den Schlüssel, erkläre ihnen noch einmal, wer Hannes eigentlich ist. Und dass Hannes diese zwei Kästchen gefunden hat.
„Wisst ihr, Hannes ist ein ganz Schlauer. Er hat sich erinnert, dass ich einen kleinen Schlüssel bei mir trage. Und da hat er sich gedacht, er will doch mal ausprobieren, ob mein Schlüssel nicht vielleicht diese Kästchen öffnen kann."
„Wo ist dein Kästchen, Mutter?"
„Steig mal die Leiter hinauf, Jakob. Und dann sei gaaaanz vorsichtig."
„Wie mit der Lampe?"
„Wie mit der Lampe!"
Jakob flitzt zur Leiter und steigt nach oben. Wir hören nur ein „oooh!" von oben. Dann nimmt Jakob das Kästchen in den einen Arm und umklammert es ganz fest vor seinem Bauch, während er sich mit der anderen Hand vorsichtig die Leiter hinunter hangelt.
„Hier, Mutter. Ich war auch ganz vorsichtig."
„Ja, mein Sohn. Das hast du ganz wunderbar gemacht."

Ich stelle das Kästchen neben Jakob auf den Tisch. Peter ist grade in meinem Arm eingeschlafen, und so lege ich ihn auf die Pritsche. Aber Susanna und Jakob starren staunend auf den Deckel mit den zarten eingelegten Mustern. Susannas kleine Hand fährt ganz sachte über die hellen Linien.
Dann öffne ich langsam den Deckel.
„Schaut mal, was darinnen ist. Mein Vater, den ich nie kennengelernt habe, hat meiner Mutter einen Ring geschenkt. Und der ist hier drinnen."
Ich nehme den Ring heraus und stecke ihn mir an den Finger. Es ist ein breiter goldener Ring mit einem leuchtend grünen Stein in der Mitte. Ich kenne ihn gut. Schon als kleines Mädchen hat mich dieses intensive Leuchten magisch angezogen. Nun ist er an meiner Hand. Ich fühle eine seltsame, kribbelige Verbundenheit mit meiner Mutter.

Plötzlich geht die Sonne auf in Jakobs Gesicht.
„Mutter! Wenn der Hannes das Kästchen gefunden hat. Und jetzt hast du es. Dann ... Mutter, der Hannes ist da!"
Jubelnd fällt er mir um den Hals. Unendliche Erleichterung erfüllt mich, dass das nun kein Grund mehr ist zu erschrecken.
„Ja, mein Lieber. Hannes war heute kurz da, um mir das Kästchen zu bringen und auszuprobieren, ob mein Schlüssel tatsächlich passt. Und um mir zu sagen, dass uns übermorgen eine feine Kutsche abholen wird, damit wir ihn ein paar Tage besuchen können."

Susanna war kurz vorm Einschlafen, aber bei Jakobs Freudengeheul wird sie wieder wach. Auch ihr kleines Gesicht strahlt, als sie erfährt, dass wir übermorgen den Hannes besuchen.
„So, ihr Zwei. Und wenn ihr jetzt ganz schnell schlaft, dann ist es ganz schnell morgen. Und dann können wir schneller zu Hannes fahren. Husch!"
Eilig krabbeln die beiden auf die Pritsche, kuscheln sich in ihre Decken und falten die Hände.
Jakob strahlt vor Glück.
„Mutter, ich will beten!"
Und dann beginnt er.
„Bevor ich mich zur Ruh begeb,
zu dir o Gott mein Herz erheb.
Und sage Dank für jede Gabe,
die ich von Dir empfangen habe.

Und ich sage Dank, dass ich endlich den Hannes wiedersehe! Amen."
Auch Susanna murmelt im Halbschlaf „Amen", und ich streiche den beiden noch einmal über den Kopf.
„Amen! Gute Nacht, ihr Zwei."

Ich muss schmunzeln. Ich schirme das Licht meiner Lampe ab und setzte mich einfach an meinen Tisch. Ich lasse meine Gedanken wandern. Ich nehme das Bild meines Vaters aus dem Kästchen und betrachte es ganz lange, finde Freude und Schalk, aber auch Ernsthaftigkeit und eine Spur Trauer in seinen Zügen. Das kleine Bildnis scheint ganz wunderbar treffend gearbeitet zu sein. Ja, ich möchte ihn kennenlernen. Ich möchte ihm von Mutter erzählen, die ihre ganze Liebe zu ihm in uns Kinder gegeben hat. Er wird sicher stolz auf sie sein. Dann träume ich weiter vor mich hin und warte auf die Freunde.

Noch dauert es eine Weile, bis die Dämmerung hereinbricht und dann endlich meine Freunde an meine Tür klopfen. Mit großer Dankbarkeit sehe ich sie an und bitte sie herein. Nacheinander rutschen Jorge, Irmel und die beiden Jaspers, Vogt Drebber, Pastor Johann Crüger, Klaas Rand und die alte Lene, Bauer Ferz und Knecht Rudolph auf die beiden Bänke an meinem langen Tisch.
Das sind die Menschen, die mein Leben immer reich gemacht haben!
Ich schenke allen Kräutertee ein, stelle die beiden Öllampen auf den Tisch und setze mich dazu. Der blinde Jasper schmunzelt, Klaas ist ganz entspannt, alle anderen sind seltsam stumm und betrachten ehrfürchtig das fein gearbeitete Kästchen, das nun mitten auf dem Tisch steht.

„Danke, dass ihr gekommen seid. Ich soll euch Grüße ausrichten. Von Hannes."
Gemurmel erhebt sich.
„Er war heute kurz hier, weil er etwas gefunden hat, das mir gehört."
Ich ziehe das Kästchen zu mir heran und nehme die Kette mit dem Schlüssel von meinem Hals. Dann erzähle ich auch ihnen vom Waisenhaus, von Freifrau von Lenthe, von Hannes Entdeckung ganz hinten im Gebetbuch und von seiner Suche nach sich selbst - und nach meiner Herkunft.
„Jochen Hannover hat im Christophorus-Haus gründlich aufgeräumt und dabei dieses Kästchen gefunden. Einer Notiz im Testament zufolge gehört es mir. Und Hannes hatte Recht. Der Schlüssel an meinem Hals passt tatsächlich zum Schloss."

Sogleich leuchten die Augen des kleinen Jasper abenteuerlustig auf.
„Mach auf! Was is darinn'n?"
Irmel sieht ihn streng an.
„Bist du wohl stille. Lass Anna weiter red'n!"
Aber das Leuchten will nicht verschwinden.
„Ich wusste erst gar nicht, ob ich es aufmachen will. Aber dann habe ich mich getraut."
Ich schließe auf und öffne den Deckel. Als ich meine Hand nach dem Brief ausstrecke, ruft Irmel plötzlich selbst dazwischen.
„Anna! Was ist dat für een kostbarer Ring an dein'm Finger?"
„Das ist ... Ach, ich lese euch einfach den Brief vor. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr bitte, bitte nie vergesst, dass ich einfach eure Anna bin!"
Der Vogt kratzt sich irritiert den Bart, und Johann Crüger murmelt etwas.
„Irgendwie kommt mir dieser Satz bekannt vor."
Aber ich löse das Geheimnis nicht gleich, sondern fange stattdessen an, den Brief vorzulesen.

Plötzlich ist es ganz still. Ich wage kaum, den anderen in die Augen zu sehen. Dann fängt Klaas an, schallend zu lachen.
„Oh, ihr kleingläubig'n Zweifler. Ik habs doch gesagt! Ihr seid eenfach fürenanner bestimmt!"
Mit einem frechen Grinsen zupft er mich an einer losen Haarsträne.
„Frau Gräfin!"
Irmel dagegen nimmt mich in die Arme.
„Also, bei dir schaffe ik dat aber nich, plötzlich auf Herrschaft zu schalt'n. Ja, du bleibst immer meine Nachbarin Anna. Oh, ik gönn es dir so sehr! Du bist bei deiner Mutter aufgewachs'n, un dein Vater lebt wahrscheinlich noch. Du kannst ihn besuch'n. Dat willst du doch, oder?"
Ich entspanne mich wieder etwas. Ich habe so lange in diesem Dorf gelebt, sie schaffen es nicht, mir unterwürfig zu begegnen. Das würde ich nun gar nicht ertragen. Zum ersten Mal kann ich verstehen, warum Hannes sich so sehr dagegen gewehrt hat. Ich nicke.
„Ja, ich möchte ihm einen Brief schreiben und ihn fragen, ob er mich sehen möchte. Darum hat Hannes mich und die Kinder eingeladen, in die Stadt zu kommen. Er will ebenfalls einen Brief schreiben, damit mein Vater das alles auch glaubt. Übermorgen wird er eine Kutsche schicken. Wir bleiben dann ein paar Tage dort. Ich weiß nur überhaupt nicht ..."
Ich verstumme. Alle schauen mich an. Dann ergänzt die alte Lene meinen Satz.
„... ob du dich dabei wohlfühl'n kannst. Oder ob die Mensch'n dort dich un deine Kinder schief ankirk'n. Stimmts?"
Ich nicke.
„Wisst ihr – ich war dort bis vor wenigen Wochen noch eingesperrt wie eine Gefangene. Und nun tauche ich auf als Gast der Herrschaft, mit meinen Kindern. Und alles, was ich uns anziehen kann, ist ärmlicher als die Bekleidung der Dienstboten dort. Ich ... es fühlt sich so falsch an!"

Klaas stöhnt auf.
„Dat du dich so fühlst, kann ik ja versteh'n. Aber trotzdem möcht ik dich manchmal schütteln. Ik seh da den Büddel inner Kiste. Er kiekt aus wie die Geldkatze von Hannes. Un wenn darinn'n is, was ik vermut, dann musst du nich mal Hannes drum bitt'n. Dann gehst du zur Schneiderin in Gieboldehus'n un bestellst dir für dich un die Kinners mehrere Kleider, in denen du dich wohlfühlst, suchst dir eene Zofe, die etwas Erfahrung hat un dich nach dein'n Wünsch'n fein für die Gesellschaft macht, un gehst an Hannes Seite mutig drauflos."

Irmel hat immer noch den Arm um meine Schulter gelegt. Und während ich sprachlos bin allein bei der Vorstellung, Klaas Rat zu folgen, schaut Irmel ihn streng an und schimpft.
„Du stellst dir dat so eenfach vor. Aber so eenfach is dat nich. Alles wird neu sien. Jeder wird ihr fremd sien. Un denk nur dran, wie Hannes zu dir gesproch'n hat, als er plötzlich wusste, wer er is. Wenn die Bedienstet'n im Schloss oder gar ihr Vater so antort'n, wird es furchtbar weh tun."

Zum ersten Mal mischt sich nun auch Johann Crüger ins Gespräch ein.
„Ach Anna, lass dich nicht beirren. Du hast so viel Gottvertrauen. Du weißt es im Moment nur nicht. Er wird deinen Weg weiter segnen, so wie Er dich immer gesegnet hat. Egal, ob mit oder ohne Geld, du bist gesegnet mit einem wundervollen Wesen. Nimm dir nicht selbst die Chance zu erleben, dass du in egal welchem Gewand die Menschen für dich gewinnen kannst. Wenn du es nicht versuchst, wirst du es nie erfahren!"
Ich bin inzwischen völlig verwirrt, weil alle recht haben – und sich dennoch alles falsch anfühlt.
Sie haben recht, und ich habe Angst.

Ich wende mich an Bauer Ferz.
„Oswald. ... Denkst du, dass mich die Grete oder die Linde begleiten könnte? Sie könnte als Anstandsdame durchgehen und sich um die Kinder kümmern, wenn ich anderweitig beschäftigt bin."
Oswald nickt sofort.
„Ik denk, dat wird geh'n. Linde liebt es, mit den Kinners zu spiel'n. Sie ist recht geschickt darin. Ik werd sie morg'n rüberschick'n, damit se die Kinners besser kenn'nlern'n kann. Un da beschnackst du alles annere mit ihr."

Allmählich werde ich ruhiger und kann den Gedanken annehmen, dass ich eine völlig andere Zukunft haben werde, als ich mir jemals hab träumen lassen. Wir plaudern noch etwas, und dann verabschieden sich meine Gäste mit herzlichen Worten.
Dieses Dorf wird immer mein Zuhause sein, egal wohin es mich verschlagen wird.

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2.2.2022

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