50 - arbeitsreiche Wochen

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 FR. 27.4. a.d. 1571

Am nächsten Morgen wache ich mit der Sonne auf, öffne die Fenster und genieße die frische Luft. Voller Neugierde auf all die Veränderungen läute ich nach Seidel, lasse mir meine in der Zwischenzeit genähte Kleidung zeigen und entscheide mich für eine schlichte Kombination. Der erste Tag im neuen Leben kann kommen! Ein bisschen muss ich über mich selbst schmunzeln. Ich bin aufgeregt wie die Kinder vor Nikolaus.

Ich frühstücke allein und treffe anschließend Bader in seinem Büro an. Und dann starten wir konzentriert in einen Tag voller Papiere, Akten und Informationen. Sämtliche Liegenschaften des Lehens. Die Besitzverhältnisse und Steuern aller Dörfer und Bauern, wie sie vor Brudenhusen waren, und wie sie jetzt gelagert sind. Ein beachtlicher Haufen an Rechnungen für die ganze überladene Ausstattung des Schlosses, zum größten Teil mit Händlerangaben. So könnten wir vielleicht einen Teil davon direkt wieder loswerden.

Immer wieder hat Bader Abrechnungen gefunden, aus denen klar hervorgeht, was der Brudenhusen für beispielsweise das Waisenhaus angegeben hat – und was für deutlich höhere Kosten er mir in den Jahresbericht geschrieben hat. Mit diesen Abrechnungen ist Albrecht Bader dann zum Christophorus-Haus gegangen, und siehe da – Jochen Hannover hat tatsächlich die dazugehörenden Abrechnungen der Stolzer gefunden und festgestellt, dass die wirklichen Kosten noch niedriger lagen. Ich bitte ihn, mehrere dieser eindeutigen Betrugsfälle zu bündeln, damit sie für den Prozess gegen Brudenhusen und Hauser in Salzderhelden als Beweise herangezogen werden können.

Natürlich erzähle ich Albrecht Bader auch von Gunther von Thaden und seinem Freund, die bald hier eintreffen werden. Von Thaden kann ich ihm als einen jungen, interessierten, verantwortungsbewussten Kollegen beschreiben, über dessen Freund weiß ich außer der seltsamen Bemerkung leider noch nichts. Das bleibt abzuwarten. Aber Bader ist sehr froh, dass er bald mit der Einarbeitung beginnen kann. Er hofft, dass von Thaden mit dem dritten Zimmer der Dienstwohnung hinter der Treppe zufrieden sein möge. Das Wohnzimmer will er dann mit von Thaden gemeinsam nutzen.

Weil ich nun ein wenig Bewegung brauche, bitten wir die Brüder Weise zu uns und machen uns auf zur Schule. Unterwegs erzählt uns Bader, wie dort der Stand ist. Er hat sich nämlich in der Zwischenzeit ein paar unterbeschäftigte Burschen geschnappt, ist mit ihnen ins Schulhaus gegangen und hat angefangen zu sichten, was da ist, was neu angeschafft oder ersetzt werden muss. Und die Burschen haben sich der Lehrerwohnung oben im Haus angenommen. Es ist gründlich geputzt worden, die Kamine sind gereinigt, Türen und Fenster repariert.

Ich bin genauso neugierig wie meine beiden Lehrer, als wir das Gebäude auf dem ehemaligen Klostergelände betreten. Unten sind zwei Klassenräume rechts und links eines breiten Flures, dazu ein kleiner Anbau mit einer Küche. Im ersten Stock sind Arbeitsräume, ein Lager für Schul- und Lehrmaterial und ein großer ungenutzter Raum. Und unterm Dach ist eine Wohnung für den oder die Lehrer mit einem großen und zwei kleineren Räumen. Friedrich und Wilhelm Weise sind sofort Feuer und Flamme und streifen begeistert durch die Räume. Sie überlegen nun ganz konkret, wie sie hier ihr Leben und ihren Unterricht gestalten können.

Ich überlasse die beiden ihren Plänen und bitte sie, sich mithilfe dessen, was sie sich aus der Hauptstadt mitgebracht haben, erstmal häuslich einzurichten. Dann sollen sie bitte das bereits erstandene Schulmaterial vom Wirtschaftshof hierher bringen und beginnen, ihre Schule einzurichten. Ich möchte alle paar Tage über den Stand der Dinge und ihre Pläne informiert werden. Sie bekommen freie Hand, einen Tischler zu Hilfe zu holen. Und ich kündige zwei Knechte an, die ihnen bei schweren Arbeiten wie Möbelrücken behilflich sein sollen. Die beiden Brüder stürzen sich sogleich in die Arbeit. Ich kann spüren, wie viel Freude es ihnen macht, dass sie sich alles selbst aufbauen dürfen. Bis es soweit ist, sollen sie ruhig ins Schloss kommen für die Mahlzeiten.

Bader und ich gehen am Hospiz vorbei, berichten von den Einkäufen und versprechen, sie bald herüberzuschicken. Und dann – gehen wir endlich ins Christophorus-Haus, die Kinder und die Hannovers begrüßen.

Der April verabschiedet sich nun langsam und macht wärmeren Tagen Platz. Darum finden wir die Kinder alle im Garten, wo sie spielen, handarbeiten oder gemeinsam mit dem Knecht die Gemüsebeete des Waisenhauses bearbeiten. Sie sind ordentlich gekleidet und sehen schon viel gesünder aus als vor vier Wochen. Als sie uns kommen sehen, lassen die Großen alles fallen, was sie in der Hand haben, und kommen lachend auf uns zu. Onno hat grade Holz für die Köchin gespalten und schlägt mit breitem Grinsen die Axt in den Hauklotz, bevor er auf mich zuläuft und sich mit einem Strahlen vor mir verbeugt. Ursula hat im Kräuterbeet Unkraut gejätet, springt nun auf, holt ihren Bruder und kommt ebenfalls auf mich zu.
„Schau, Hannes. Da ist der liebe Herr wieder, der uns Oma und Opa Hannover geschickt und uns zu essen gegeben hat. Verbeug dich schnell!"
Dann macht sie selbst einen Knicks. Ich staune, WIE anders es hier nun ist!
„Ursula, Onno! Wie schön zu sehen, dass es euch so gut geht. Und dass ihr keine Angst mehr vor mir habt."
Wieder strahlen die beiden.
„Wir sind so glücklich, hoher Herr, dass Ihr gekommen seid. Wir haben tatsächlich immer satt zu essen!"
Ursula hat alle Scheu verloren.
Und der Kleine kräht dazwischen:"Un is hab Ssssuhe."
Dabei hebt er übermütig einen Fuß, so hoch er kann, – verliert dadurch das Gleichgewicht und plumpst auf seinen Hosenboden. Die Verblüffung in seinem Gesicht ist zum Brüllen komisch.
In diesem Augenblick tritt Maria Hannover aus dem Haus, kommt zu uns und hebt ihn wieder auf.
„Hast du dir weh getan, Hannes?"
Der schüttelt den Kopf und grinst.

„Herr, wir freuen uns so sehr, Euch wohlbehalten wieder hier zu sehen. Es ist so viel Arbeit, hier wieder Leben hineinzubringen. Und es ist so wunderbar, in glückliche Kindergesichter zu schauen, ihre Hilfsbereitschaft zu erleben, ihnen Hoffnung und Vertrauen zurückzugeben."
Ich wende mich ihr zu.
„Wie geht es Euch und Eurem Mann? Ist er noch nicht von Papiermassen erschlagen worden?"
Sie schüttelt lächelnd den Kopf. Kurz wendet sie sich zu den Kindern.
„Geht wieder an eure Arbeit. Der hohe Herr wird nun sicher öfter kommen, um nach euch zu sehen. Und ich glaube, er hat aus der Hauptstadt auch manches für uns und euch mitgebracht."
Schnell flitzen die Kinder wieder auseinander und machen sich an ihre vorherigen Beschäftigungen.
„Lasst uns hineingehen, Herr."
Wir folgen Maria Hannover durch den Hintereingang ins Haus. Eine Magd kommt an uns vorbei, macht einen Knicks und sieht dabei auch viel entspannter aus als vor ein paar Wochen. Die Tür zur Wohnung der Stolzer ist nicht mehr verschlossen sondern mit einem Holzkeil aufgesperrt, damit die Kinder rein und raus können.

Als wir im Büro bei Jochen Hannover angekommen sind, kann ich grade noch mit einem schnellen Schritt den Stapel Bücher erreichen, der eben vom Schreibtisch zu fallen droht.
„Verzeiht, Herr. Ich bin ungeschickt."
„Ach, Unsinn, Hannover! Ihr wühlt Euch hier durch sechs Jahre Misswirtschaft, kümmert Euch um alle Reparaturen, seid für die Kinder da – mit all der Arbeit könnte man gleichzeitig zwei Leben füllen. Ich habe niemals erwartet, dass hier im Haus und Büro schon alles sortiert, verstanden und aufgeräumt ist."
Dankbar sieht er mich an. Wir holen von nebenan aus dem Salon ein paar Stühle, setzen uns gemeinsam hin und beraten miteinander, was ich alles mitgebracht habe, was alles in der nächsten Zeit geregelt oder abgearbeitet werden muss, wie eine Zusammenarbeit mit der Schule gelingen kann. Hannover hat eine Liste von den Kindern, die in den sechs Jahren unter der Stolzer in Stellungen vermittelt wurden. Und er hat alle Habseligkeiten in der Kammer sortiert. Kurz und stumm schaut er mich an, dann redet er weiter mit den anderen. Seit Blick durchfährt mich wie ein Stromstoß.
Anna! Er hat etwas gefunden!
Jetzt muss ich mich sehr konzentrieren, um weiter zuzuhören. Aber Maria Hannover und Albrecht Bader haben Erbarmen mit mir. Sie verabschieden sich bald, ich bitte noch um ein paar Minuten alleine, Maria Hannover bringt Bader nach unten.

Kaum ist die Tür hinter ihnen geschlossen, fängt Jochen Hannover leise an zu lachen.
„Ja, Herr. Ja, ich habe etwas gefunden, das auf Anna Adam hinweist."
Ich krieche ihm fast über den Tisch, und sein Lachen wird noch vergnügter. Dann steht er auf, geht nach nebenan und kommt mit einer hölzernen Schatulle wieder zu mir.
Mir fällt die Kinnlade herunter.
„Das ... das gibt's doch nicht!"
Hannover sieht mich irritiert an.
„Ich habe auch so ein Kästchen. Exakt so eines. Frau Agnes von Minnigerode hat es an ihre Schwägerin, die Äbtissin im Stift Minnigerode, vererbt. Und die hat es vor ein paar Wochen mir gegeben. Aber es existiert kein Schlüssel dafür. Ich fasse es nicht. Die Kästchen sind exakt gleich!"
Ungläubig staunend nehme ich die hölzerne Schatulle in die Hand und betrachte die Intarsien im Deckel.
„Exakt das gleiche? Das ist in der Tat erstaunlich. Und – zu diesem Kästchen gibt es auch keinen Schlüssel. Ich habe wirklich das ganze Kontor, die Kammer und Stolzers Privaträume auf den Kopf gestellt, halb die Möbel auseinander genommen, bin in jede Ritze gekrochen. Kein Schlüssel, der dazu passt."

„Warum seid Ihr so sicher, dass dieses Kästchen Anna Adam gehören sollte?"
„Weil ich tatsächlich alle anderen Bündel nebenan einem Kind zuordnen konnte. Zu Anna gibt es nichts. Und – an dem Schloss sind Kratzspuren. Da hat sich jemand vergeblich dran zu schaffen gemacht. Und – bei Anna steht in dem Büchlein nichts, was sie mitgebracht hat als Säugling. Aber – im Testament der Freifrau von Lenthe regelt sie, wer nach ihrem Tod was bekommen soll. Und da steht ganz schlicht: Anna – Kasten."
Mir treten die Tränen in die Augen. Es gibt etwas, was Anna zugedacht war, etwas, was ihr ein Band zu der geliebten Ziehmutter hätte sein können. Und sie hat es nie erfahren. Eigentlich wollte ich erst nächste Woche den Zug über die Dörfer antreten. Aber nun ...
„Danke, Hannover. Sie haben gute Arbeit geleistet und mir damit sehr geholfen. Wir werden nachher unsere Einkäufe fürs Haus und für die Kinder herschicken. Machen Sie einfach so weiter. Ich sehe hier an allen Ecken, dass es aufwärts geht. Und dass die Kinder glücklich sind."

Ich muss mich zusammenreißen, nicht nach Hause zu rennen, das kostbare Kästchen unter dem Arm und einen Gedankensturm im Kopf.



Wer bist du? 

SA. 28.4.1571

Als ich gestern am Nachmittag vom Christophorus-Haus wieder im Schloss angekommen war, bin ich sofort in den Dienstbotentrakt gegangen und habe nachgefragt, ob inzwischen ein Bote aus Lütgenhusen mein Gepäck aus Duderstadt vorbeigebracht hat. Zu meiner großen Freude war es bereits angekommen. Barkhausen hatte das umfangreiche Bündel entgegengenommen und bei sich verwahrt. Mit fliegenden Fingern hatte ich das Bündel aufgeschnürt und meine Schatulle aus Minnigerode herausgeholt. Ja, die beiden Kästchen waren vollkommen identisch. Kein Zweifel. Es musste einen Zusammenhang geben.

Ich war mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochgefahren und wusste plötzlich, wie das Rätsel um die Kästchen zu lösen sein würde. Es gibt weit und breit nur einen einzigen Schlüssel, zu dem es kein Schloss gibt. Und hier zwei Schlösser, zu denen es keinen Schlüssel gibt. Und alle drei Gegenstände kommen aus derselben Stadt!
Ich muss zu Anna!
Ich wache ziemlich gerädert auf am nächsten Morgen, aber entschlossen schwinge ich die Beine aus dem Bett, ziehe mir Reitkleidung an und begebe mich zum Frühstück.
Ich schnappe mir Ruven, lasse mir Hurtig satteln und mache mich auf den Weg. Ich überlege nur, wie ich zu Anna kommen kann, ohne dass in Rhumaspring und Lütgenhusen jeder mitkriegt, dass ich so inoffiziell auftauche.
Ich werde es auf mich zukommen lassen müssen.

Die Pferde haben einen Tag gestanden und greifen darum gerne aus. Vor Rhumaspring wage ich ein Experiment. Ich habe in den letzten Wochen genug über Karten von meinem Lehen gehangen und weiß darum, dass es Wege gibt, die an den Dörfern vorbeiführen. Ich verlasse also die Straße, schlage einen Feldweg ein und suche mich hinter dem Quellhügel durch Richtung Süden. Wir stellen schnell fest, dass es einen brauchbaren Weg jenseits der Rhuma gibt, der tatsächlich bis zum Wald um Lütgenhusen führt. Irgendwann können wir auch die Mühle auf dem Hügel sehen und uns daran orientieren. Jetzt reiten wir nur noch Schritt, damit wir schnell reagieren können, falls jemand diesen Weg entlang kommt. Doch wir haben Glück. Alles ist still. Also lasse ich Ruven hier zurück und reite allein weiter.

Erst kurz vor dem Mühlenhügel sehe ich – leider zu spät – Klaas und den kleinen Jasper, die zusammen mit Mathes Müller dessen Zäune reparieren, damit seine Ziegen nicht dauernd ausbrechen. Schnell reite ich näher und informiere sie, dass ich heute nur inoffiziell da bin, weil ich etwas mit Anna besprechen möchte. Ein Grinsen huscht über Klaas Gesicht, aber er hält seinen Mund. Dann schickt er den kleinen Jasper los, Anna zu holen und so lange ihre Kinder zu seiner Mutter zu bringen.

Wir unterhalten uns locker, ich gratuliere Mathes zu seiner kleinen Tochter, und dann kommt Jasper mit Anna um den Hügel herum. Ihr Gesicht ist geprägt von Anstrengung und Verwirrung, und es wirkt fast, als müsste Jasper sie hinter sich herzerren, weil sie gar nicht mitkommen will. Sie bleibt einfach stehen und schaut mich von weitem stumm an. Es wirkt, als gehörte ich nicht mehr in ihr Leben und sie wisse nicht, wie sie es mir sagen solle. Ich möchte vor diesem Gefühl in ihrem Gesicht und in meinem Herzen am liebsten davonlaufen, aber das kommt nicht mehr in Frage. Also hole ich tief Luft, übergebe Jasper die Zügel von Hurtig, schnüre die sorgfältig verpackten Schatullen vom Sattel ab und gehe auf Anna zu.

Sie knibbelt nervös an ihren Fingern und sieht mich nicht an, als ich vor ihr stehe.
"Anna? ... Darf ich für einen Moment deine Zeit in Anspruch nehmen?"
Anna nickt stumm.
Auwei, wie kriege ich denn hier jetzt wieder Vertrautheit rein?
„Komm, Anna. Lass uns ein paar Schritte gehen."
Ich reiche ihr meinen Arm, mit sehr gradem Rücken nimmt sie ihn an, wir gehen los und biegen bald in einen Waldweg ein. Wir reden nicht. Außer Sicht- und Hörweite der anderen steuere ich auf einen Findling zu und fordere Anna auf, sich zu setzen. Noch immer sieht sie mich nicht an.

Ich wickele erst das eine Kästchen aus dem Tuch.
„Schau mal, Anna. Dieses Kästchen habe ich von Agnes von Minnigerode geerbt. Sie hat es ihrer Schwägerin, der Äbtissin schicken lassen. Und die hat es mir gegeben."
Annas Augen sind starr auf das Kästchen gerichtet.
„Das ... das kann nicht sein. Dieses Kästchen gehörte Freifrau von Lenthe! Ich habe einmal gesehen, wie sie es grade schloss, als ich in ihren Kontor kam."

Wie ich es dachte!
Ich wickele das zweite Kästchen aus, und nun staunt Anna noch viel mehr.
„Was ... was ist das? Wieso ... die sehen ja ganz gleich aus."
In dem Moment wird mir bewusst, dass ich selbst schon nicht mehr weiß, welches nun welche Schatulle ist. Ich fange an zu lachen.
„Entschuldige, Anna. Ich lache dich nicht aus. Ich kapiere nur grade, dass ich mir nicht gemerkt habe, welches welches Kästchen ist. Wir werden sie also öffnen müssen, um es herauszufinden."

Irritiert schaut sie mich an.
„Aber ... warum zwei? Was bedeutet das? Hast du einen Schlüssel? "
Ich schüttele den Kopf und sehe sie warm an.
„Ich nicht, Anna. Aber ... du."
Ihre Augen werden groß, und sie fährt intuitiv mit der Hand an ihren Hals.
„Du meinst ..."
Ungläubig schüttelt sie den Kopf.
„Warum sollte sie mir den Schlüssel um den Hals hängen?"
„Weißt du, Anna. Wir haben im Christophorus-Haus eine Kammer gefunden, wo zu jedem Kind ein Bündel mit Habseligkeiten lag. Mit Namen beschriftet. Und ein Büchlein, wo säuberlich aufgeführt war, welches Kind was mitgebracht hat, als es ins Haus kam. Es hat alles gepasst. Nur von dir stand dort nichts. Und nur dieses Kästchen konnte keinem Kind zugeordnet werden. Nach langem Suchen hat Jochen Hannover in ihrem Testament eine Notiz gefunden. 'Anna – Kasten'. Sonst nichts."

Ganz sachte nimmt Anna die eine Schatulle in die Hand, streicht vorsichtig über die feinen Intarsien auf dem Deckel und sucht dann nach dem Schloss.
„Und du meinst ..."
„Probiers aus!"
„Und welche?"
„Tja, das weiß ich nicht mehr. Aber der Schlüssel wird es uns zeigen."
Zaghaft tüdelt Anna unter ihren Tüchern nach dem Kettchen und zieht den Schlüssel hervor. Sie löst die Kette und nimmt den Schlüssel in die Hand. Stumm mustert sie ihn und schiebt ihn dann schließlich in das Schloss der einen Schatulle. Aber sie dreht nicht um. Ich streiche ihr über den Rücken.
Leise flüstere ich in ihr Ohr.
„Trau dich!"
Da endlich dreht sie vorsichtig den Schlüssel herum. Es knirscht. Und das Schloss schnappt auf. Wir halten den Atem an. Anna kneift die Augen zu. Ich lasse ihr Zeit. Erst nach einer Weile öffnet sie die Augen und hebt ganz langsam den Deckel an. Wir finden einen Brief – an mich. Dazu ein paar Schmuckstücke von Tante Agnes und eine Abschrift ihres Testamentes, dass sie das Lehen mir vermacht.
Himmel, ist das spannend! Was kommt jetzt noch?
Ich lese die Dokumente jetzt nicht, dafür ist später noch immer Zeit. Ich bin nur froh, dass ich den richtigen Riecher hatte und Annas Schlüssel wohl tatsächlich zu diesen beiden Schatullen gehört. Warum auch immer diese beiden Schatullen gleich sind und bei den beiden Freundinnen waren.

Also nehme ich das zweite Kästchen und halte es mit dem Schloss voran zu Anna hin.
„Komm, mach weiter."
Anna zieht den kleinen Schlüssel aus dem ersten Schloss heraus. Dann zögert sie wieder.
„Ich trau mich nicht, Hannes."
Ich schüttele den Kopf.
„Was kann dir denn passieren? Uns wird schon kein Gift entgegenspritzen. Du kannst hier vielleicht etwas über dich selbst erfahren!"
Anna lässt die Hände sinken.
„Und wer sagt, dass ich das will? Ich war immer zufrieden, das Christophorus-Haus war mein Zuhause, Freifrau von Lenthe war mir wie eine kluge und gütige Mutter. Ich kenne nichts anderes. Will ich wissen, wer ich bin? Wer mich hergegeben hat, weil ich ... nicht sein durfte? Ändert das irgendetwas an meinem Schicksal? Wird irgendetwas dadurch besser?"
Ich bin verblüfft. Nachdem es mich monatelang so wahnsinnig gemacht hat, nicht zu wissen, wer ich bin, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Anna keine Antworten auf diese Fragen haben will. Ich lasse meine Hände mit dem zweiten Kästchen sinken.

„Anna?"
Sie sieht mich an.
„Was KÖNNTE denn darinnen sein?"
Anna zuckt mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Darinnen könnte etwas sein, was ich als Säugling mitbekommen habe. Etwas, das mir sagt, wer meine Eltern sind. Es ... Ich weiß doch nicht! In den letzten Monaten hat sich so viel verändert, dass mir richtig schwindelig ist. Ich weiß nicht, ob ich es aushalte, wenn sich jetzt NOCH was ändert. Und wenn ich es einmal aufgemacht habe, dann kann das Wissen um den Inhalt nicht mehr zurück ins Dunkle. Dann ist es heraußen und wird schon wieder alles verändern."
Leise fängt Anna an zu weinen.
Ich nehme sie einfach in die Arme und wiege sie hin und her. Niemand sieht uns, niemand wird uns dafür verurteilen. Sie klammert sich an mich wie eine Ertrinkende.
„Soll ich gehen, Anna? Einfach die beiden Kästchen nehmen und wieder gehen?"
Sie zögert einen Moment, dann schüttelt sie den Kopf. Sie holt tief Luft, richtet sich auf und greift nach dem zweiten Kästchen. Es hakt etwas, als sie den Schlüssel im Schloss herumdreht. Aber er passt tatsächlich auch hier. Wieder zögert sie einen Moment. Plötzlich schiebt sie das Kästchen zu mir.
„Schau du zuerst nach!"
Also klappe ich den Deckel mit der schönen Intarsienarbeit auf und schaue hinein. Ich sehe einige schöne Schmuckstücke und einen Beutel, ein Bündel offensichtlich älterer Briefe oder vielleicht Dokumente und einen Ring. Als ich den Beutel anhebe, spüre ich das Gewicht und höre das leise Klimpern einiger Münzen. Außerdem befindet sich ein dicker, versiegelter Brief in der Schatulle.
„Anna? Da ist Schmuck und Geld. Und ein Brief."
Sie schlägt die Hände vors Gesicht.

Entschlossen klappe ich die Schatulle zu und stelle sie neben mich. Ich nehme sanft ihre Hände in meine und ziehe sie zu mir.
„Was ist nur mit dir geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Anna, so kenne ich dich gar nicht. Ich habe dich noch nie so zaghaft und unsicher erlebt. Sag mir, bitte, was los ist."
„Die Kinder. Sie fragen täglich nach dir. Und ... Jakob hat mir neulich gesagt, dass er sich einen Vater wünscht. Und dass er gerne weiter lernen möchte. Ich weiß nicht mehr, was ich denken oder fühlen oder antworten soll. Ich war mir so sicher, dass es wichtig ist, ihn hier im Dorf zu lassen. Aber er scheint gar nicht daran zu hängen. Sein Geist hat Flügel bekommen durch das Lesen und Schreiben. Und nun will er fliegen!"
Ich halte die Luft an. Jakob wünscht sich einen Vater. Und da ich den Knaben kenne als sehr direkt und ehrlich, weiß ich auch: er hat sich mich als Vater gewünscht. Das macht mich glücklich. Aber Anna so verwirrt und zerrissen zu sehen, macht mich verrückt.
„Anna? Ich bin mir sicher, dass du das nicht von alleine sagen würdest. Darum frage ich jetzt einfach nochm ..."
„Nein! ... Nein. Es ist zu früh, Hannes. Eins nach dem anderen. Ich ..."
Schnell greift mein tapferes Mädchen nach der Schatulle und klappt den Deckel auf, bevor sie es sich noch einmal anders überlegt. Sie nimmt den Brief, bricht das Siegel und faltet den Bogen auseinander.

Ihre Augen weiten sich, während sie die ersten Zeilen liest. Und dann – sackt sie bewusstlos in meinen Armen zusammen.


Meine sehr geliebte Anna!

SA. 28.4. a.d. 1571

Meine sehr geliebte Anna!                                                           13. Juli anno domini 1565

Um ehrlich zu sein – ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Wenn Du dies hier liest, bist Du entweder noch bei mir im Christophorus-Haus und einfach an meiner Seite so erwachsen geworden, dass ich Dir das Rätsel um Deine Herkunft gelöst und Dir den Brief selbst gegeben habe. Oder ich bin viel zu früh gegangen, und Du hast – mit Hilfe meiner Nachfolge oder auf anderem Wege - herausgefunden, was der Schlüssel an Deinem Hals für eine Bedeutung für Dich hat. Ich fühle allerdings, dass mein Körper mich allmählich im Stich lässt, dass Gott meine Aufgabe, über Dich zu wachen, für beendet ansieht, dass ich bald gehen werde und Dich seiner Wacht und Liebe und seinem guten Plan überlassen muss.

Ich wüsste zu gerne, wie alt Du jetzt bist, wo Du lebst, ob Du eine Familie hast. Ob Du immer noch mit Deinen geschickten Händen zauberhafte Dinge schaffst, mit Deiner Stimme Herzen öffnest, mit Deinem wunderbar sonnigen und starken Wesen die Menschen um Dich herum gewinnst. Wer bist Du heute, Anna? Ich werde im Himmel auf Dich warten, und Du wirst mir dann erzählen, wie es Dir ergangen ist.

Anna, ich bin Deine Mutter. Und ich habe Dein ganzes Leben lang darunter gelitten, dass ich Dir das nie sagen durfte. Ich bete täglich, dass meine tätige Liebe zu Dir den Umstand aufwiegen möge, dass Du ohne Wissen um Vater und Mutter aufwachsen musstest. In diesem Brief möchte ich Dir erzählen, wer ich bin, wer Dein Vater ist, warum es uns nicht möglich war, als Familie gemeinsam glücklich zu sein. Wie wir beide ins Christophorus-Haus gekommen sind, wie Du aufgewachsen bist und was die Dinge in diesem Kästchen, dessen Schlüssel Du Dein Leben lang um den Hals getragen hast, mit Dir zu tun haben.

Ich bin Magdalena Anna Sophie von Lenthe. Die Graftschaft Lenthe liegt westlich von Hannover. Als ich vierzehn Jahre alt war, wurde ich zu der befreundeten Familie von Brabeck östlich von Hannover gebracht, um dort gemeinsam mit drei weiteren höheren Töchtern aus gutem Hause eine standesgemäße Erziehung zu erhalten. So lernte ich Agnes von Bothmer zu Lauenbrück und ihre Schwester Sophia kennen. Ich lernte dort auch Hertha von Brabeck kennen – und ihre beiden älteren Brüder. Wir vier Mädchen wurden in eine harte Schule genommen, aber wir hatten einander und genossen unsere jungen Jahre sehr. Agnes und Sophia haben vor mir geheiratet, aber ich blieb noch eine ganze Weile bei Hertha.

Sophia heiratete einen Herzog und lebte auf Schloss Salzderhelden, wo sie zwei Söhne bekam. Ihre Schwester Agnes heiratete einen Herrn von Minnigerode, der aus Glaubensgründen aus dem Thüringischen Eichsfelde ins Grubenhagensche gezogen war. Die beiden waren glücklich, die Ehe blieb aber kinderlos.

Als ich achtzehn war, spürte ich, dass mein Herz zu schlagen begann. Es schlug für den jüngeren Bruder Caspar von Brabeck, und bald stellte sich heraus, dass seines auch für mich schlug. Da er der Nachgeborene war, schienen die Anzeichen unserer Liebe auch unsere Eltern nicht zu stören. Wir waren jung und unbedarft und baten um die Erlaubnis, heiraten zu dürfen. Also wurde Verlobung gefeiert, auch wenn es bis zur Hochzeit noch eine Weile dauern sollte.

Doch das Schicksal war gegen uns. Denn der ältere Bruder Gernot von Brabeck starb zwei Jahre später bei einem Reitunfall, Caspar wurde Erbe – und ich war auf einmal nicht mehr standesgemäß. Als seine Eltern ihn zwingen wollten, eine passendere Frau zu heiraten, damit uns beiden kein Spielraum für Träume mehr blieb, brannten wir durch. Wir fanden Unterschlupf bei Agnes, und wir fanden auch einen Pfarrer, der uns traute.

Nun war ich also Magdalena Anna Sophia von Brabeck. Wir waren glücklich. Niemals hätten wir damit gerechnet, welch harte Maßnahmen unsere Eltern ergreifen würden, um ihren Willen durchzusetzen und uns zu demütigen. Nach zwei Monaten benachrichtigte Caspar seine Eltern, wo er sei und dass er bereit sei, zurückzukehren und zu gegebener Zeit das Erbe anzutreten unter der Bedingung, dass ich als seine rechtens angetraute Gattin akzeptiert würde. Nur wenige Tage später sahen wir uns zum letzten Mal. Wir wurden aufgestöbert, auseinandergerissen und unsere Ehe wurde annuliert. Caspar wurde verheiratet gegen seinen Willen mit einer etwas älteren Frau, die Landbesitz mit in die Ehe brachte. Hertha von Brabeck wurde jeder Kontakt zu mir verboten, aber ich weiß, dass sie ihrem Elternhaus entfremdet war und nur zu ihrem Bruder Kontakt pflegte, nachdem auch sie so schnell wie möglich verheiratet worden war. Sie starb im Kindbett wie ihre Schwägerin. Danach blieb Caspar allein.

Ich wurde nach Hause zu meinen Eltern verbracht, musste wieder meinen Mädchennamen annehmen und bitteschön die Füße still halten. Mir wurde per Vertrag verboten, jemals wieder zu Caspar Kontakt aufzunehmen oder seinen Namen zu benutzen. Aber dann spürte ich, dass ich guter Hoffnung war. Also musste ich zusichern, dass mein Kind, so es denn bis ins Erwachsenenalter leben würde, niemals erfahren dürfe, wer sein Vater sei. Meine Eltern selbst wurden geächtet. So versuchten sie vergebens, mich standesgemäß zu verheiraten. Zumal ich jedem Bewerber niederen Adels, der sich trotz meiner „Schande" vom versprochenen Geld locken ließ, jeweils gleich beim ersten Gespräch mitteilte, dass ich guter Hoffnung sei. Die meisten blieben nichtmal bis zum Essen.

Du siehst, Anna – Deine Mutter war eine trotzige, lebenshungrige und selbstbewusste junge Frau. Ich weigerte mich auch, dich an einem stillen Ort zur Welt zu bringen und sofort herzugeben. Ich drohte damit, dann das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit öffentlich zu machen. Und sie wussten, dass sie mich nicht wirklich würden daran hindern können. Also wurde ein Ausweg gesucht.

Und gefunden. Meine Freundin Agnes blieb mir treu. Die Wogen des Skandals schwappten nicht bis ins Herzogtum Grubenhagen. Agnes erbte von einer Patin ein Lehen im Süden des Herzogtums, das Schloss Gieboldehusen. Und als ein Ort gesucht wurde, an dem ich mit meinem Kind würdig leben könnte, ohne der Familie weiter Schande bereiten zu können, bot sie mir an, zunächst in einem abgelegenen Landhaus mein Kind zu bekommen und dann mit Dir in der kleinen Stadt Gieboldehusen die Leitung des Waisenhauses zu übernehmen. So wurdest Du am 20. Mai 1549 ohne Vater und Mutter geboren, meine geliebte wunderbare Anna Teresa. Agnes und ihr Mann waren sich nicht zu schade, mir eine Zukunft zu bieten und es mir zu ermöglichen, Dich selbst groß zu ziehen. Sie ließen mir völlig freie Hand für die Leitung und Gestaltung des Christophorus-Hauses und zahlten mir ein fürstliches Gehalt. Meine Eltern brachten es nach ein paar Jahren des Schweigens auch nicht mehr fertig, mich völlig zu ignorieren, und seitdem bekam ich auch von ihnen Zuwendungen.

So konnte ich mein und Dein Leben und das Leben vieler, vieler Waisenkinder so gestalten, dass es lebenswert sein konnte. Ich gründete in dem Ort eine Schule, in die alle Kinder gehen durften. Ich suchte mir Knechte und Mägde aus für das Anwesen, die kleine eigene Landwirtschaft und die Schule, die meinem Bild von Erziehung entsprachen. Ich wollte nicht, dass auch nur eines dieser Kinder dermaßen fremdbestimmt wie ich ins Leben starten müsste. So ließ ich alle Kinder bleiben, bis zu erkennen war, wofür sie besonders geschickt und begeistert waren, ließ sie einen entsprechenden Beruf erlernen und vermittelte sie dann in Stellen, wo sie ihren Platz gut füllen konnten und mit ihren Gaben und ihrem Wesen willkommen waren. Die Kinder aus dem Christophorus-Haus waren gern gesehen, wo auch immer sie in Stellung gingen.

Meine liebe Anna! Hast Du Dich jemals gefragt, warum Du mehr Bildung, mehr Zuwendung bekamst als alle anderen? Ich habe mir mit allen Mühe gegeben, habe meine ganze Liebe, die ich Caspar nicht geben durfte, in diese wunderbare Aufgabe gesteckt. Dennoch konnte ich sicher nicht immer verhindern, dass ich Dich als etwas besonderes behandelt habe. Du warst mein Leben. Du warst immer alles, was mir von Caspar geblieben war, und es schmerzte unendlich, dass Dir Dein Vater, Dein Name und Dein Dir zustehendes Leben vorenthalten wurde. Ob Du glücklich bist in Deinem Leben jetzt?

Du hast sehr viel vom Wesen Deines Vaters. Du hast seine grünen Augen, seine aufrechte Haltung, seinen scharfen Verstand, seine freie Art von Gerechtigkeitsliebe und seine Musikalität. Das handwerkliche Geschick, das Aussehen, die Geduld und die Liebe zu allem Lebendigen hast Du von mir. Wann immer mich Trauer überfiel, weil ich mich einsam fühlte – wenn ich Dich angesehen habe, dann war ich glücklich, weil Du das wunderbarste Geschenk bist, was das Leben, was Caspar, was Gott mir geben konnte. So kurz meine Ehe war, so unglücklich ihr Ende – Ich habe Gott täglich gedankt dafür, dass Du Teil meines Lebens sein durftest.

Ich weiß nicht, was aus diesem Haus werden wird, wenn ich mal nicht mehr bin. Meine Freundin Agnes von Minnigerode starb im Frühjahr kurz nach ihrem Mann. Das Schloss, das Lehen vererbte sie ihrem Neffen, dem älteren Sohn ihrer Schwester Sophia, dem zukünftigen Herzog Johann III. von Grubenhagen. Aber er kam nie hierher, er ist jung, und er interessiert sich nicht für sein Lehen. Sein Leben spielt sich bei Hofe ab. Er ist wohl ein ziemlicher Springinsfeld, der den Tod seiner Mutter Sophia nie verkraftet hat und jede Verantwortung scheut.

Der alte Verwalter, der Agnes viele Jahre treu gedient hatte, ging in den Ruhestand zu seiner Tochter, ein neuer Verwalter wurde eingesetzt. Und ich kann leider nicht anders, als zu sagen, dass seitdem alles anders, alles schwierig geworden ist. Er hatte klare Vorgaben durch das Testament von Agnes. Er hatte mein Heim, meine Arbeit, meine Befugnisse nicht anzutasten. So kann ich mit meinem eigenen von den Eltern ererbten Geld noch gut bestehen hier. Aber wenn ich einmal nicht mehr bin – weiß ich nicht, was aus dem Christophorus-Haus, was aus der Schule, was aus den Kindern – und was aus Dir werden wird. Der Mann ist hart und habgierig. Und er betrügt seinen Lehnsherren, den jungen Herzog. Ändern kann ich es nicht. Ich kann nur jeden Tag, den der Herrgott mir noch schenkt, dafür beten, dass Gnade und Gerechtigkeit siegen werden.

Du hast einen Schlüssel um den Hals getragen, solange Du denken kannst. Oft und oft hast Du mich danach gefragt. Er erschien Dir zauberhaft und geheimnisvoll, grade weil er zu keinem Schloss zu gehören schien. Aber wenn ich Dir gesagt hätte, was dieser Schlüssel aufschließt, dann hättest Du weiter gefragt, hättest vielleicht heimlich versucht, das Geheimnis zu lösen. Dieses Kästchen habe ich von Agnes zu Deiner Geburt geschenkt bekommen. Sie wollte, dass ich alles, was mir jenseits eines materiellen Wertes wichtig ist, gut verwahre. Sie hat geahnt, dass ich einen sicheren Ort brauchen würde, um Dir alle Erinnerungen an Dein Leben und Deine Herkunft weitergeben zu können. Ich werde, wenn meine Stunde kommt, auch meinen Schmuck und Geld dort hinein legen, damit Du alles bekommst, was Dir zusteht. Meinen Schlüssel dazu werde ich rechtzeitig verschwinden lassen. So wirst nur Du in der Lage sein, das Kästchen zu öffnen.

Jedes Kind, das auf irgendeinem Wege zu mir gekommen ist, hatte irgendetwas bei sich – sei es nur die Kleidung am Leibe, sei es ein Brief, sei es ein Erinnerungsstück der Familie. Manchmal gab es noch einen Verwandten, der sich nicht kümmern konnte, aber doch ab und zu einen Besuch abstattete. Für jedes Kind habe ich in der Kammer neben meinem Kontor ein Fach eingerichtet mit den persönlichen Dingen. Jedes von ihnen hat bei seinem Auszug seine persönlichen Habseligkeiten und Erinnerungsstücke als Andenken bekommen. Für Dich gab es kein einfaches Fach. Für Dich gab es immer dieses Kästchen. In meinem Testament habe ich verfügt, dass es Dir nach meiner Beisetzung ausgehändigt werden soll.

Das Kästchen muss jetzt offen vor Dir stehen, sonst würdest Du den Brief nicht in Händen halten. Außer dem Brief, meinem Schmuck und Geld findest Du noch einige andere Dinge. Caspar hat mir einen Ring zur Hochzeit geschenkt, den wirst Du hier finden. Das letzte Zeichen, das ich von ihm bekam, nachdem wir so gewaltsam getrennt worden waren, war ein kleines Bildnis von ihm, das er heimlich durch einen Boten geschickt hat. Ich bin sehr glücklich, dass Du darum wenigstens auf diesem Bild einmal sehen kannst, wie Dein Vater aussah. Du findest die Briefe, die wir einander schrieben, als die Liebe in unseren Herzen zu blühen begann. Du findest auch die Urkunde, dass wir wirklich getraut wurden. Der Pfarrer hat uns diese Urkunde damals ausgestellt, damit wir Sicherheit vor unseren Eltern haben könnten. Dachten wir. Aber eines ist sicher: Du bist die legitime Tochter Anna Teresa von Brabeck Deines Vaters Caspar von Brabeck.

Meine liebe Anna! Nun wirst Du Dich erst einmal wieder fassen müssen nach all diesen unerwarteten Neuigkeiten. Du hast Deine Mutter verloren, bevor Du sie erkannt hast, weil das grausame Schicksal es so verlangt hat. Dein Vater lebt so viel ich weiß noch. Und mit dem Inhalt dieses Kästchens hast Du auch die Möglichkeit, ihn aufzusuchen und Dich ihm gegenüber als seine Tochter zu legitimieren. Ob Du das willst, ist eine andere Frage. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Dich so zu erziehen, Dir so viel Bildung und Anstand und Manieren beizubringen, dass Dir ein Leben in höheren Kreisen nicht allzu schwer fallen dürfte. Aber völlig ungewohnt und vielleicht beängstigend wird es dennoch sein. Es liegt in Deiner Hand, ob Du Dich dem aussetzen willst. Dein Vater wäre allerdings sicher glücklich, wenn er wüsste, dass es in Dir ein Band gibt, das uns noch immer verbindet.

Mir bleibt jetzt nur noch, für Dich zu beten, solange ich noch atme. Dich in die Hände des gütigen Gottes zu legen, der Dich mir geschenkt und uns beide bis hierher erhalten hat. Sei gesegnet mit aller Kraft und Liebe, die Gott in Dich hineingelegt hat. Ich kann getrost gehen, weil ich darauf vertraue, dass Gott seine schützende Hand über Dich hält.

In großer Liebe und Dankbarkeit, Deine Mutter Magdalena Anna Sophie von Brabeck

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1.2.2022

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