53 - Oma Jansen und Opa Bader

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Mo. 30.4. a.d. 1571

Lina geht vor uns die Treppe hinauf, wendet sich nach rechts und führt uns in einen gemütlich eingerichteten Raum. Neben dem großen Himmelbett stehen dort noch ein weiteres großes und ein Kinderbett. Lina zeigt uns die Klingel, mit der wir nach ihr rufen können. Linde erklärt sie alles, was für die Kinder bereit gestellt wurde. Dann greift sie nach einem großen Krug und gießt uns warmes Wasser in eine Schüssel, damit wir den Staub der Landstraße abwaschen können.

Schließlich macht sie einen Knicks.
„Wenn die Dam'n es möcht'n, kann ik Euch gleich auch dat Speelzimmer zeig'n. Es is direkt hier geg' nüber."
Ich schiebe Linde zu der Schüssel und beginne selbst, dem Perterchen Hände und Gesicht zu waschen.
„Geh nur schon mit, Linde. Ich schick dir die Großen gleich nach."
Während Linde mit Peter auf dem Arm Lina über den Flur folgt, wasche ich schnell auch Susanna und Jakob. Sofort flitzen die beiden hinter den anderen her.

Endlich kann ich einmal kurz durchatmen. Es war so schön zu sehen, wie sehr Hannes bei der Begrüßung von den Kindern gestrahlt hat. Es ist erleichternd, dass Linde ein gleichaltriges Mädchen zur Seite hat, dass ihr schnell die Scheu nehmen wird. Aber bei der Begrüßung durch Jansen und Barkhausen ist mir die Luft weggeblieben. Damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet.

So fühlt es sich also an, wenn man Herrschaft ist. Seltsam. Es sind die selben Menschen, die mich noch im Winter wie Dreck behandelt haben. Und ich bin dieselbe, die hier immer mit bangem Herzen hingeschlichen ist. Wie anders ist hier alles geworden, seit der Brudenhusen weg ist und Hannes mit gütiger Hand das Haus führt.
Ich wasche auch mir kurz Hände und Gesicht, trockne mich mit dem feinen Leinentuch ab und folge dann den Kindern ins nahe liegende Spielzimmer. Es ist ein heller, freundlicher Raum. Als ich eintrete, ist Susanna bereits mit einer wunderschönen, edel gekleideten Puppe beschäftigt. Und Jakob stellt einige geschnitzte Tierfiguren aus einem Korb im Kreis auf den Boden.
„Schau mal, Mutter. Was ist das für ein Tier?"
„Soweit ich weiß, ist das ein Löwe."
Jakob betrachtet die große Katze mit Zottelmähne ehrfürchtig. Linde und Lina sitzen bei Peter auf dem Boden und lassen für ihn ein paar Kreisel tanzen. Dabei unterhalten sie sich nett. In einer Ecke steht ein Schaukelpferd. Daneben liegt ein Ball und noch einiges anderes an Spielzeug ist zu sehen.

Ich setze mich leise auf einen Stuhl und beobachte die Kinder und die Mädchen. Nach einer Weile kommt Frau Jansen zu uns. Wieder knickst sie vor mir. Dann schaut auch sie dem Treiben zu.
„Das sind also Eure Kinder, Frau Adam. Sie sind wirklich freundliche und gut erzogene Wesen. Ich kann verstehen, dass Ihr Sehnsucht nach ihnen hattet."
Ich mag die wie verwandelte Frau ja sowieso gerne, aber mit ihrer nächsten Geste erobert sie mein Herz im Sturm. Sie geht in die Knie und winkt die beiden Großen zu sich.
„Ich bin die Frau Jansen. Verratet ihr mir, wie ihr heißt?"
Jakob und Susanna sind schnell zu ihr gelaufen und stellen sich nun artig vor.
„Wisst ihr was, ihr zwei? Wenn ihr möchtet, dann dürft ihr mich Oma Jansen nennen. Wenn ich mit jemandem rede, müsst ihr ein bisschen Geduld haben und still abwarten. Aber sonst habe ich immer Zeit für euch. Ihr könnt mir jede Frage stellen."

Meine beiden sind redlich verwirrt und schauen unsicher zu mir herüber. Ich nicke ihnen lächelnd zu. Susanna streckt Frau Jansen schüchtern die Hand hin. Hinter Jakobs Stirne sehe ich es arbeiten. Und plötzlich geht ein Strahlen über sein Gesicht.
„In Oma und in Jansen sind A's. Ich mag A's. Sie sehen aus wie ein Dach."
Frau Jansen fällt die Kinnlade herunter. Und Linde und ich fangen schallend an zu lachen. Wir sind es ja nun seit Monaten gewohnt, dass Jakob jedes Wort untersucht, ob es ein A hat. Aber Frau Jansen und Lina müssen wir das erstmal erklären. Die Hausdame fasst sich als erste wieder.
„Darf ich Euch dann zum Essen bitten? Es wird inzwischen angerichtet sein."
Also stehen wir alle auf und begeben uns hinunter.

In der Halle kommt uns Hannes entgegen. An seiner Seite geht ein alter Mann, der hellwache, freundliche Augen und ein verschmitztes Lächeln hat.
„Anna, darf ich dir Albrecht Bader vorstellen, meinen derzeitigen Verwalter, der tapfer die Stellung hält, bis der junge Nachfolger eingearbeitet sein wird."
Albrecht Bader zwinkert mir zu und verbeugt sich.
„So tapfer bin ich gar nicht. Es macht mir einfach Freude, mit dem neuen Herrn zusammen zu arbeiten und noch einmal etwas Sinnvolles zu tun."
„Bader, darf ich Euch Anna Adam vorstellen? Das ist meine Lebensretterin."
Bader verbeugt sich vor mir.
„Und das sind Frau Adams reizende Kinder. Der Älteste ist Jakob. Er hat sich in diesem Winter selbst das Lesen und Schreiben beigebracht. Das Mädchen heißt Susanna, und der kleine Ausreißer dort ist Peter."

Zum zweiten Mal heute bin ich verblüfft. Denn nun beugt sich Albrecht Bader zu meinen Kindern runter und lächelt sie an.
„Na dann – herzlich willkommen, ihr beiden. Nennt mich einfach Opa Bader. Das mag ich am liebsten."
Meine Kinder lächeln scheu zurück und nicken.
So schnell kann man zu Großeltern kommen!

Hannes führt uns nun ins Speisezimmer, wo eine lange Tafel für uns gedeckt ist und zwei weitere Herren auf uns warten. Hannes führt mich zu meinem Platz an seiner Seite, hebt dann kurzerhand Peter auf den Kinderstuhl neben mir und schiebt Jakob und Susanna zu den nächsten beiden Stühlen. Einer der Diener steckt den beiden jeweils noch ein dickes Kissen unter den Po, damit sie überhaupt auf den Tisch kucken können.
„Linde, magst du dich neben Susanna setzen?"
Linde nickt und ist froh, dass sie nicht selbst entscheiden muss. Uns gegenüber setzen sich Albrecht Bader und die beiden jüngeren Herren, die sich so ähnlich sehen, dass sie offensichtlich Brüder sind.
„Anna, darf ich dir Friedrich und Wilhelm Weise vorstellen?"
Die beiden erheben sich bei der Nennung ihrer Namen noch einmal und verbeugen sich vor mir.
„Meine Herren, das ist Anna Adam."
Hoffentlich hat die Vorstellerei endlich ein Ende. Das macht mich ganz kribbelig.

Das Essen wird nun aufgetragen. Linde sucht etwas für Susanna aus den angereichten Schüsseln und hilft ihr mit dem Besteck. Ich füttere Peter. Und Jakob bleibt erstmal sitzen und beobachtet ganz genau Hannes, wie er sich Speisen nimmt, wie er das Besteck benutzt, wie er isst. Während wir Erwachsenen uns angeregt unterhalten und dabei die Köstlichkeiten aus der Küche genießen, schaut er genau hin und versucht dann, alles ganz genau so zu machen wie Hannes. Es ist für ihn nicht leicht mit dem Besteck, das er ja gar nicht kennt. Aber er gibt sich große Mühe. Besonders putzig sieht es aus, wenn er sich die Serviette nimmt und versucht, sich so elegant wie Hannes damit den Mund abzuwischen. Ganz kurz begegnen meine Augen denen von Hannes, und darin entdecke ich genauso viel Vergnügen an dem Lerneifer des Jungen.

Als wir schließlich alle satt sind, erhebt Hannes sich, reicht mir seinen Arm und bringt mich zu einer weiteren Tür.
„Hier ist das Zimmer für die Damen, Anna. Wir Herren werden bald zu Euch stoßen."
Er verbeugt sich vor mir und geht dann mit den drei Herren durch eine gegenüber liegende Tür. Das wird dann wohl das Herrenzimmer sein.

Linde folgt mir mit den Kindern.
Frau Jansen kommt zu uns und fragt uns, was wir trinken möchten.
„Das ist lieb, Frau Jansen. Aber ich glaube, jetzt ist es Zeit, dass Linde die Kinder zum Mittagsschlaf hinlegt."
„Sehr wohl. Ich werde sogleich Lina schicken. Dann können die beiden Mädchen das gemeinsam tun."
Sie verschwindet wieder. Kurz darauf betritt Lina den Raum, hält Jakob und Susanna die Hände hin, Linde trägt Peter. Und so zieht die ganze Schar ab nach oben.

Ich trete derweil ans Fenster und schaue in den Park. Ich bin ja früher immer nur die Allee entlang und dann an der Seite zum Wirtschaftseingang gelaufen. Diesen Teil vom Park kenne ich noch gar nicht. Frisch ausschlagende Bäume und bunte Beete mit den ersten Frühlingsblumen locken mich sogleich, nach draußen zu gehen. Als darum die Herren wieder zu mir stoßen, äußere ich einfach den Wunsch nach einem Spaziergang im Park. Albrecht Bader verabschiedet sich daraufhin. Doch die Herren Weise bleiben bei uns. Durch eine Seitentür können wir direkt aus diesem Raum in den Garten gehen.

Während wir durch die laue Frühlingsluft spazieren, kommen wir auf Jakob zu sprechen. Friedrich Weise meldet sich zu Wort.
„Ihr Ältester ist ein sehr aufgewecktes, lerneifriges Kind, Frau Adam. Ungewöhnlich. Er hat so genau hingeschaut und hingehört. Er scheint ganz nach der Mutter zu kommen."
Ich schaue Hannes nicht an, weil ich weiß, dass wir sonst beide anfangen zu lachen.
„Ob er nach der Mutter kommt, weiß ich ehrlich gesagt nicht, denn als ich als ganz junge Magd zu Bauer Adam kam, war seine Frau bereits sehr krank und kurz vor der Niederkunft. Sie starb im Kindbett. Und sein Vater starb durch die Machenschaften des Brudenhusen."
Friedrich Weise hält die Luft an. Doch sein Bruder rettet ihn aus der misslichen Lage.
„Dann scheint es um so mehr Euer Verdienst zu sein, dass der Knabe so fröhlich und so neugierig durch die Welt läuft. Ihr wart offensichtlich in der Lage, den Kindern trotz der Armut ganz viel Liebe und Halt zu geben. Ich habe beim Mittagsmahl erst wenig von ihm gesehen. Aber seine Beobachtungsgabe, seine Auffassungsgabe und sein sonniges Wesen haben mich sofort gefangen genommen."

Hannes steuert auf einen großen alten Baum zu. Beim Näherkommen entdecke ich, dass eine Bank um den ganzen Stamm herumläuft. Und dass davor ein Gartentisch mit Getränken und Gebäck bereitgestellt wurde. Hannes lädt mich ein, auf der Bank Platz zu nehmen, schenkt uns allen einen Tee ein und reicht die Gebäckschale herum.

Es ist verrückt. Es ist so verrückt! Das hier ist eine vollkommen andere Welt. Tausend Erinnerungen an fröhliche Plauderstunden mit Freifrau v... mit meiner Mutter werden wach. Jetzt verstehe ich! Sie hat damals mit mir geübt, mich in der feinen Gesellschaft zu bewegen, ohne dass ich es gemerkt habe.
Ich war einen Moment in Gedanken abgeschweift und höre nun dem Gespräch der Herren wieder zu. Grade verabreden sie, dass wir morgen die Schule besuchen wollen. Dort können die Weises sich noch ein besseres Bild von Jakob machen. Dann verabschieden sich die Brüder, weil sie wieder an die Arbeit gehen wollen.

Hannes und ich bleiben allein unter dem Baum zurück. Eine Weile herrscht Schweigen. Dann fasst sich Hannes ein Herz.
„Anna? Als ich dich vorgestern verlassen habe, warst du redlich verwirrt und kaum in der Lage zu denken. Wie geht es dir heute?"
Ich sehe ihn an und kann wieder lächeln.
„Gut. Ich habe mir des alten Jaspers weisen Rat geholt, habe mich bei Lene und Irmel ausgeheult, habe den Brief meiner Mutter und die Heiratsurkunde auswendig gelernt – und dann habe ich die Kinder in den Badezuber gesteckt und bin losgefahren. Ich freue mich auf meinen Vater, wenn er mich denn sehen will. Und die Begrüßung durch Jansen, Barkhausen und Bader war so herzlich, dass ich mich hier nun auch viel sicherer fühle."
Hannes hat aufmerksam zugehört, hat zwischendurch meine Hand gedrückt.
„Wollen wir es dann morgen wagen und die Briefe an deinen Vater schreiben?"
„Von Herzen gern. Ich möchte keine Zeit verlieren, damit er es recht bald erfährt."

Briefe

Di. 1.5. a.d. 1571

Hannes hat mir gestern am Nachmittag noch das ganze Haus gezeigt. Ich kannte ja bisher nur den Dienstboteneingang und meine Kammer unter der Treppe. Am Abend haben wir gemeinsam mit Albrecht Bader gespeist. Linde und die müden Kinder haben ihr Essen oben bekommen. Eine Weile haben wir noch am Kamin geplaudert, aber dann wollte ich auch ins Bett. Ich habe einfach noch im Dunklen am Fenster gestanden und in die Nacht hinausgeschaut, damit ich begreife, was da grade alles mit mir geschieht. Dann habe ich mich zu Jakob und Susanna in das große Himmelbett gekuschelt.
Ungewohnt. Und herrlich bequem!

Kaum ist Jakob als erster aufgewacht, flitzt er schon nur im Hemd ins Spielzimmer. Susanna wacht vom Klappern der Tür auf, und ab da ist auch für Linde und mich nicht mehr an Schlaf zu denken. Wir klingeln nach Lina, kümmern uns um die Kinder und bereiten dann auch uns auf den Tag vor. Lina bringt uns mehrere ganz schlichte Kleider zum Wechseln, damit wir uns wohlfühlen können. Frau Jansen hat sich wirklich gut vorbereitet und umsorgt uns beide aufmerksam.
Linde ist inzwischen viel gefasster, weil sie merkt, dass sie von niemand ausgelacht wird. Fröhlich schnatternd gehen die Mädchen rüber ins Spielzimmer, und Lina lässt sich von Linde ganz genau erzählen, wie es so ist, mit der Herrschaft an einer Tafel zu sitzen!
Ich selbst schaue den Kindern eine Weile beim Spielen zu und rufe sie dann zum Frühstück. Ein kleiner Tisch ist hier für uns gedeckt worden, und wie gestern staunen meine Kinder, dass es so eine große Auswahl gibt. Anschließend gehen Linde und Lina mit den Kindern in den Schlosspark und versprechen mir hoch und heilig, dass sie Peter nicht an den Ententeich heranlassen.

Ich hingegen nehme mein Kästchen unter den Arm und lasse mich von einem Diener zu Hannes Arbeitszimmer führen.
Als ich angekündigt werde und eintrete, sehe ich Hannes und Albrecht Bader über einigen Listen brüten. Doch Hannes kommt mir sogleich entgegen, um mich zu begrüßen und zu einem Stuhl zu geleiten.
Es fühlt sich seltsam an, von Hannes so zuvorkommend wie eine feine Dame behandelt zu werden. Es ist so selbstverständlich für ihn.
Wie gut, dass ich sicher weiß, dass er das nicht wegen der „Gräfin" macht sondern ganz allein für mich.

„Anna, könntest du noch einen Augenblick Geduld haben? Wir sind hiermit gleich fertig. Und dann können wir uns Zeit nehmen für die Briefe."
„Natürlich Hannes. Es macht mir Freude, dir bei deiner Arbeit zuzusehen."
Still setze ich mich in seinen großen Stuhl und lausche aufmerksam ihrem Gespräch. Bader hat eine Aufstellung angefertigt, welcher Bauer im Lehen wieviel Land besessen, davon wieviel geerntet hat. Wieviel Land er durch Brudenhusen verloren hat und wieweit dadurch seine Ernte zurückgegangen ist. Die beiden Männer versuchen herauszufinden, welche Ländereien, Wälder und Vieh es im Lehen gibt und welche Erträge normalerweise unter den jetzigen Bedingungen zu erwarten sind. Hannes möchte abschätzen, welche Neuerungen und Aufbauhilfen nötig sein werden, und wieviel Geld und Güter das Lehen dazu abwirft.
Ich bin stolz auf ihn. Und ich sehe, wie konzentriert und zufrieden er dabei ist. Hannes ist an seinem Platz angekommen. Auch die Zusammenarbeit mit Bader scheint hervorragend zu sein. Mit Ruhe und Gelassenheit arbeitet sich der alte Mann durch die Unterlagen und kann mit seiner langjährigen Erfahrung vieles planen oder verstehen. Er ist ein geduldiger Lehrer und Hannes sein eifriger Schüler.

Nachdem Bader seine nächsten Arbeitsaufträge bekommen hat, verlässt er den Raum nach nebenan, und Hannes wendet sich wieder mir zu.
„So, Anna. Verzeih, aber das war wichtig, damit er ..."
„Da gibt es nichts zu verzeihen. Du hast Arbeit, und es war sehr spannend und auch beglückend, dich dabei zu beobachten."
Wir wenden uns dem Schreibtisch zu, und ich hole den Brief meiner Mutter und die Heiratsurkunde aus der Schatulle. Noch einmal überfliegen wir beide Dokumente und reden lange darüber, was wir jeweils meinem Vater schreiben wollen. Ich weiß nicht einmal, wie ich ihn anreden soll in dem Brief. Auf einmal bin ich ganz zögerlich. Und ich habe ja schon Ewigkeiten nichts mehr mit einer Feder geschrieben! Aber nach einer Weile kommen uns beiden doch die richtigen Worte.

Hannes schreibt von Graf zu Graf, stellt sich vor, erzählt vom seinem Lehen und dem Waisenhaus. Er bedauert, dass er Freifrau Magdalena von Lenthe nicht mehr persönlich kennengelernt hat. Und dann berichtet er, dass er das Lehen nun übernommen hat und dabei im Christophorushaus eine Entdeckung gemacht hat. Er erzählt von mir, von dem Schlüssel, von der Schatulle. Und vom Inhalt. In der Zwischenzeit kopiere ich die Heiratsurkunde und Mutters Brief an mich. Anschließend beraten wir uns noch einmal kurz, und dann endlich fange ich auch an zu schreiben.

Hochverehrter Graf Caspar von Brabeck,

Darf ich es wagen und Vater zu Euch sagen? Mein ganzes Waisenleben lang habe ich mich danach gesehnt, meine Mutter und meinen Vater zu kennen, Eltern zu haben. Ich wusste ja nicht, dass ich bei meiner Mutter bin, auch wenn sie sich für mich immer wie eine Mutter angefühlt hat. Nun endlich, endlich habe ich mein kleines Erbe bekommen – eine Schatulle mit diesem Brief von ihr und dieser Heiratsurkunde. Graf Johann von Grubenhagen hatte die unendliche Güte, mir zu dieser Entdeckung zu verhelfen. Und nun ist es mein sehnlichster Wunsch, meinen Vater kennen zu lernen. Ich kann nur beten, dass Ihr mir diesen Wunsch erfüllen werdet.

Nachdem Mutter starb, wurde ich schnell in Stellung vermittelt. Ich wurde die Magd eines unfreien Bauern und seiner schwer kranken Frau. Sie starb im Kindbett und hinterließ mir ihre kleine Familie. Bauer Adam heiratete mich, und wir bekamen zwei weitere Kinder. Dann starb er bei einem Unfall. Nun bin ich einundzwanzig Jahre alt, die Witwe eines unfreien Bauern, Ziehmutter eines Waisen, Mutter zweier nachgeborener Bauernkinder und auf einmal die Tochter eines Grafen.

Ich habe durch Mutter eine gute Bildung genossen. Aber ich könnte es verstehen, wenn Ihr eine einfache junge Frau mit drei kleinen Kindern an der Seite lieber nicht in Euer Leben lassen wolltet. Wie Ihr Mutters Brief entnehmen konntet, war es ihr sehnlichster Wunsch, Euch und mir dies zu ermöglichen.

Ich lege nun mein Schicksal in Eure Hände, sehne mich danach, Euch kennen lernen zu dürfen und verbleibe voller Hochachtung

Eure Tochter Anna Adam, geborene Anna Teresa von Lenthe

Einmal noch lesen wir uns die beiden Briefe vor, sortieren hintereinander erst seinen Brief, dann die Abschriften der alten Dokumente und zum Schluss meinen Brief, damit mein Vater den als Letztes liest, und versiegeln den dicken Umschlag. Lange sitzen wir schweigend da und schauen nur auf diese Papiere. Ich weiß kein Wort zu sagen, nun kann ich nur noch abwarten. Und auf einmal rollen bei mir die Tränen. Tränen der Anspannung, der Vorfreude, der Ungewissheit, der Erschöpfung.
Hannes erhebt sich leise, schließt einfach alle Türen ab, zieht die Vorhänge zu und nimmt mich ganz fest in die Arme.
„Schäm dich deiner Tränen nicht, Anna. Du hast in den letzten sechs Monaten so viel unglaubliches, aufwühlendes, gefährliches und wunderbares Neues erlebt und erfahren. Du darfst verwirrt und eingeschüchtert und mit deinen Kräften am Ende sein. Ich bin mir sicher, dass diese Briefe den alten Herrn nicht kalt lassen werden. Und bis dahin würde ich dich gerne verwöhnen dürfen, damit du wieder zu Kräften und zu deinem gewohnten Lebensmut findest."

Ich kann nur leise nicken. In Hannes Armen fühle ich mich so sehr geborgen. Ich sollte das nicht genießen, ich sollte nicht mal daran denken. Aber in diesem Moment kann ich nicht anders. Ich lasse mich einfach fallen. Erst, als ich mich ganz wieder beruhigt habe, machen wir uns auf den Weg, um die Kinder und die Mädchen zu suchen. Gemeinsam spazieren wir dann in die Stadt, um das Waisenhaus zu besuchen. Linde und Lina sind inzwischen richtige Freundinnen geworden. Diesmal trägt Lina das Peterchen, und die beiden Großen hüpfen fröhlich an den Händen von Linde den Weg entlang.

Sie staunen sehr, was es in der Stadt alles zu sehen gibt, bleiben auf dem Markt beim Töpfer und beim Korbflechter hängen, Susanna streichelt eine Katze und Lina hat alle Hände voll zu tun, dass Peter nicht in jede Pfütze rennt.

Schließlich erreichen wir aber doch die Reste der alten Klostermauer. Allmählich werde ich aufgeregt. Ich bin sechs Jahre nicht mehr hier gewesen und spüre jetzt ein vorfreudiges Kribbeln. Ich freue mich auf den Ort meiner glücklichen Kindheit. Hinter einem Gebüsch taucht das große alte Haus auf. Linde lässt Susanna und Jakob laufen. Die beiden flitzen sofort los, denn sie hören Stimmen und Kinderlachen.

Am liebsten würde ich mitrennen!
Wir gehen einfach zu den Kindern in den Garten. Dort sitzt auch Maria Hannover und erzählt den Jüngeren eine Geschichte. Ich umarme sie herzlich, stelle ihr meine Kinder vor und bitte dann, dass ich einmal durchs Haus gehen darf. Wir lassen die Kinder und die Mädchen im Garten und betreten das Haus, er bleibt still an meiner Seite, wohin ich mich auch wende.
Ich atme den vertrauten Geruch ein, setze mich auf die kleine Bank bei den Kindergarderoben, streiche mit meiner Hand über die Wandtäfelung und steige schließlich die Treppe hinauf. In jeden Raum schaue ich hinein, sitze auf meinem früheren Bett, schaue aus den Fenstern und begrüße schließlich Jochen Hannover im Büro der ... meiner Mutter.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich von ganz weit her aus den Tiefen meiner Erinnerungen wieder zurückkehre und verstehe, dass Hannes grade mit mir spricht.
„Sollen wir dann mal zusammen mit Jakob zur Schule gehen? Die anderen können so lange hier bleiben."
Das Gebäude der Schule ist nicht weit vom Christophorushaus, und so begeben wir uns zurück in den Garten und machen uns mit Jakob auf den Weg.

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5.2.2022

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