54 - die Schule

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Di. 1.5. a.d. 1571

Ich weiß gar nicht, ob Anna jetzt überhaupt aufnahmefähig ist, mit Jakob die Schule zu erkunden. Sie ist in den letzten Tagen so durchgeschüttelt worden, so überrannt von den Ereignissen und Erkenntnissen, dass sie ganz abwesend und still und klein wirkt. Albrecht Bader hat mir ein Kompliment gemacht zu ihr. Wenn er nicht wüsste, dass sie die letzten sechs Jahre in einer Bauernkate verbracht habe, dann hätte er nicht gemerkt, dass Anna nicht als Tochter eines Grafen aufgewachsen sei.
Ich bin so froh, dass Anna sich so gut reinfindet. Auch Linde schlägt sich nach anfänglicher Aufregung so gut. Ganz besonders habe ich mich über Frau Jansen gefreut, die so herzlich zu den Kindern ist und Anna nicht einen Moment lang das Gefühl gegeben hat, die arme Stickerin vom Dorf zu sein. Sie geht so natürlich und freundlich und hochachtungsvoll mit Anna um, dass ich jubeln möchte.

Wir gehen auf das alte Gebäude zu, das ehemals das Gästehaus des Klosters war. Es ist umrahmt von einer Wiese mit großen alten Bäumen. An einem der starkem Äste hängt eine Schaukel. Statt eines Zaunes ist eine niedrige Hecke um das Gelände gezogen, die so ordentlich aussieht, dass ich vermute, dass einer meiner Gärtner hier schon mitgeholfen hat. Neben der Türe hängt nun eine kleine Glocke, mit der die Lehrer das Ende der Pause einläuten können. Aber sie dient auch dazu, zu klingeln, damit die Lehrer die Tür für Gäste aufmachen können. Also strecke ich meinen Arm aus, um die neue, glänzende Messingglocke zu läuten. Aber da kommt schon Wilhelm Weise heraus und begrüßt uns und Jakob sehr freundlich.

„Kommt herein, die Herrschaften! Komm, Jakob. Der Herr hat mir verraten, dass du dir selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hast. Normalerweise lernen Kinder das in einer Schule. Da dachte ich, du magst dir vielleicht mal unsere Schule ansehen?"
Jakob nickt eifrig und schaut neugierig durch eine offene Tür. Es ist der erste Klassensaal. Der Tischler in Gieboldehusen und seine Gesellen und Lehrlinge haben sich sehr beeilt und gleich begonnen, neue Pulte und Bänke für die Schule zu bauen, weil doch einige der alten kaputt waren. Zusammen mit der großen Tafel, die ich aus Salzderhelden mitgebracht habe, und einigen Bildern von Pflanzen und Tieren an den Wänden sieht es schon richtig wie eine Schule aus.
Stumm geht Jakob in den Raum hinein und betrachtet die Bilder an den Wänden. Ohne zu zögern spult er die Namen der heimischen Pflanzen und Tiere herunter. Erst bei ein paar exotischen Tieren stockt er.
„Die kenne ich nicht. Die gibt's hier nicht."
Dann bleibt er vor der großen Tafel stehen.
„Wozu ist das Brett da?"
„Das ist eine Tafel, auf der ich ganz groß schreiben kann, damit alle Kinder im Raum es lesen können. Soll ichs dir zeigen?"
Wilhelm Weise greift nach einem Stück Kreide und fängt an, Buchstaben auf die Tafel zu schreiben. Eifrig schaut Jakob ihm zu.
J – a – k – o – b.
„Da steht Jakob."
„Das ist richtig. Magst du auch mal was schreiben?"
Er hält Jakob die Kreide hin. Der ergreift sie, zieht sich einen Stuhl vor die Tafel, steigt darauf, klemmt seine Zunge zwischen die Zähne und konzentriert sich. Dann schreibt er untereinander:
H – a – n – n – e – s.
A – n – n – a.
P – e – t – e – r.
„Und wenn ich Mutter vorne verlängere, dann kommt meine Schwester raus."
Und schon schreibt er vor das Anna ein Sus-.
S – u – s - A – n – n – a.

Wilhelm Weise steht stumm und staunend da. Anna hält die Luft an. Jakob dreht sich um und schaut dem Lehrer unsicher ins Gesicht. Seine Stimme ist ganz leise.
„Habe ich das schön genug geschrieben?"
Wilhelm Weise nickt bloß. Er kriegt immer noch kein Wort heraus. Einen Augenblick später fasst er sich dann wieder und geht auf Jakob zu. Ich halte Anna davon ab, sich einzumischen. Der junge Lehrer nimmt Jakob an der Hand.
„Ich habe noch nie einen so kleinen Kerl so toll schreiben gesehen. Du bist ja schon ein Meisterschreiber! Ja, das ist wirklich schön genug geschrieben.
Soll ich dir mal die anderen Zimmer im Haus zeigen? Hier kann man noch viel mehr lernen als Lesen und Schreiben."
Jakob nickt eifrig und hopst vertrauensvoll an der Hand des jungen Lehrers auf den Flur.

Anna will hinterher, aber ich halte sie fest.
„Anna? Könntest du laut aussprechen, was du grade denkst?"
Überfordert schüttelt sie den Kopf, sieht mich nicht an.
Erst nach einer Weile dreht sie sich zu mir um.
„Ich ... Was hab ich eigentlich erwartet? Dieses Kind ist so wissbegierig, es war klar, dass er das alles hier toll finden würde. Aber heißt es auch, dass dies das richtige Leben für ihn ist? Und was heißt das für mich? Und darum auch für seine Geschwister? Soll ich ihn im Waisenhaus wohnen lassen und selbst im Dorf bleiben? Soll ich versuchen, ein Zimmer in der Stadt zu bekommen, und mit allen Dreien hier leben? Und wovon lebe ich dann? Und was wird aus der Kate und dem Acker und den Steuern?"
Ich muss mich zusammenreißen, um ihr nicht verärgert dazwischen zu fahren.

Steuern! Glaubt sie allen Ernstes, ich werde ihr in diesem Leben auch nur ein einziges Hühnerei als Steuern abknöpfen? Sie soll bei mir leben!
Mir ist wohl bewusst, dass diese Möglichkeit nicht in ihrer Aufzählung vorkam. Und dass ihr Stolz und ihr Gerechtigkeitssinn es ihr verbieten, das auch nur zu denken.

Also gut. Hab mehr Geduld, Hannes, du überforderst sie grade. Eins nach dem anderen.
„Mach dir keine Sorgen, Anna. Es geht jetzt nur darum, ob die Weises ihn für geeignet für die Schule halten. Du musst heute überhaupt nichts entscheiden. Oder nie. Es ist dein Leben und deine Verantwortung."
Annas Gesicht entspannt sich etwas.
„Ach, Hannes. Es ist alles so viel auf einmal. Ich kann das nicht so schnell. Ich fürchte, Jakob macht sich jetzt Hoffnungen ..."
„Wir werden nachher mit ihm sprechen und ihm klarmachen, dass es noch eine Weile dauert, bis die Schule eröffnet wird. Und dass du nicht weißt, ob du es schaffen kannst, dass er zur Schule geht. Er muss Geduld haben und abwarten. Und ich denke, wir warten jetzt auch erstmal die Reaktion deines Vaters ab. Du gehst vor. Und wenn sich das alles geklärt hat, dann denken wir wieder an Jakob."

Plötzlich poltert es auf der Treppe, und Jakob kommt zur Tür hereingeflitzt.
„Hannes, komm mit! Mutter, ich muss euch was zeigen!"
Kurz zerrt er an Annas Hand, dann rast er wieder rauf. Wir sehen uns belustigt an und folgen ihm ins obere Stockwerk der Schule. Dort sehen wir ihn grade noch in einer Kammer verschwinden und treten auch ein. An einer Stange, die an der Decke entlang verläuft, hängen einige sehr große Leinwände. Manche sind alt. Aber eine ist neu – ich habe aus der Hauptstadt eine Landkarte von unserem Herzogtum mitgebracht. Und die hat Wilhelm Weise herunter geholt und in Jakobs Höhe an einen Haken gehängt.
„Schau, Mutter. Das ist unser Land. Das Rote ist die Grenze. Soooo groß ist unsere Welt!"
Er breitet seine kleinen Arme ganz weit aus, um das Land auf der Karte zu zeigen. Ich verkneife mir ein Schmunzeln.
„Das Blaue ist Wasser. Und die Klekse sind Dörfer und Städte. Schau – hier! Der Lehrer hat mir gezeigt, wo unser Dorf ist. Da, ganz unten. Die blauen Striche sind die Rhuma. Und der Kleks, das ist Lütgenhusen!"
Ganz aufgeregt hopst Jakob vor der großen Leinwand auf und ab.

Nun gesellt sich auch Friedrich Weise zu uns, und wir besehen auch die anderen Räume. Der große Raum im ersten Stock ist ein Speisezimmer und Aufenthaltsraum geworden. In langen Reihen stehen Tische mit Stühlen, bei der Tür ist eine Essensausgabe. Am anderen Ende des Raumes ist ein langes Regal. Und darin sind Bücher, Spielzeug und kleines Lernmaterial. Friedrich Weise erklärt uns das.
„Wenn das Wetter zu garstig und zu kalt ist, werden wir die Kinder in den Pausen nicht auf den Hof schicken. Dann können sie sich hier aufhalten. Falls Kinder aus den Dörfern hier sein werden, schlafen sie vielleicht auch hier. Dann sollen sie sich beschäftigen können in ihrer freien Zeit. In einem der kleineren Räume hier oben haben wir ein paar Betten geplant für solche Fälle. Sollten solche Kinder hier sein, dann werden wir auch mit ihnen essen, damit sie so etwas wie eine Familie haben. Wir würden aber gerne eine Köchin oder Magd anstellen hier, die uns bei all dem hilft und auch für die Kinder da ist."
Anna zeigt nun auch Interesse.
„Das ist eine sehr gute Idee. Die Kinder aus den Dörfern können nicht jeden Tag zwei bis drei Stunden hin und wieder zurückfahren. Oder gar laufen. Sollten welche hier zur Schule gehen, müssen sie vor allem im Winter ein Zuhause hier haben. Ich hatte allerdings auch gedacht, dass solche Kinder einfach im Waisenhaus wohnen könnten. Da sind sie bei ihren Schulkameraden, da gibt es eine Köchin und Aufsicht. Und ich nenne es sowieso lieber Christophorushaus, das klingt freundlicher und beschützter."
Die Brüder stimmen ihr zu, und ich freue mich, dass Anna sich endlich ein bisschen entspannt.

„Mutter, können wir jetzt zurück zu den anderen gehen? Ich mag auch noch etwas spielen."
Wir verabschieden uns von den Brüdern und gehen zurück ins Freie. Am Ende der Wiese sehe ich noch ein zerfallenes Plumpshäuschen und merke mir, dass das auch noch repariert werden muss. Auf dem Rückweg zum Christophorushaus hopst Jakob zwischen Anna und mir an unseren Händen. Kurz vorm Haus rennt er dann wieder einfach los. Anna bleibt stehen und schaut ihm hinterher.
„Er ist doch noch ein Kind! Wie soll er denn so lange still sitzen? Lesen und schreiben ist das eine. Aber bei dem Bewegungsdrang wird er sich doch eingesperrt fühlen."
Ich lausche einen Moment in mich hinein.
„Da könntest du allerdings recht haben, Anna. Als er angefangen hat mit dem Lesen, da hat er sich ja richtig festgebissen. Aber danach hat er dann eigentlich immer kurze Zeit geübt und ist dann wieder auf und davon. Dass er die ganzen Tiere und Pflanzen kannte, hat er von dir. Weil ihr spazieren geht – und euch dabei bewegt. Ich bin jetzt auch wieder ganz unsicher."


erfüllte Stunden

DI. 1.5.1571

Das Mittagessen nehmen wir wieder gemeinsam mit den Kindern und Linde ein. Danach bringen die Mädchen die Kleinen ins Bett. Hannes und ich gehen wieder im Schlosspark spazieren. Er hat inzwischen nachgedacht, wie wir den Brief zu meinem Vater befördern können.
„Ich habe beschlossen, Benjamin und Ruven in den Norden zu schicken. Bader hat in der Bibliothek eine Karte vom Hannoverschen gefunden. Die wird Tante Agnes wohl gehabt haben, weil es ihre Heimat war. Und da ist dann auch Schloss Brabeck drauf. Als der letzte Nachfahre wird Dein Vater sicherlich dort leben."
„Wirst du sie gleich morgen losschicken?"
„Natürlich, die beiden sind schon dabei, sich vorzubereiten und die wichtigsten Orte an ihrem Weg zu lernen.
„Sie werden in der Frühe starten. Du sollst nicht so lang warten müssen ..."
Dankbar schaue ich ihn an und lächele. Ich sehe dabei das Glück in seinen Augen.

Er hat noch immer nicht aufgegeben! Dieser Mann ist das Wunder meines Lebens.
„Was meinst du, wie lange es dauern wird?"
„Wir haben versucht, die Entfernung abzuschätzen. Sie werden sicherlich drei bis vier Tage unterwegs sein und müssen sich am Ende dann durchfragen. Je nach Befinden des alten Herrn und nach seiner Reaktion kann es dann schon noch ein bis zwei Tage dauern, bis sich eine Antwort auf den Rückweg macht. Ich rechne nicht unter einer Woche mit den beiden, eher zwei."
Ich zucke zusammen. Ich habe die ganze Zeit nur bis zum Schreiben dieser Briefe gedacht. An das Warten hinterher aber nicht.

Wie soll ich das denn jetzt aushalten???
Ich kann und will auch nicht sooo lange hier bleiben und warten. Wenn ich aber wieder zu Hause bin, kriege ich gar nicht mit, wenn ... falls eine Antwort kommt.

Hannes hat meinen Schreck gespürt.
„Gräm dich nicht, Anna. Ja, wir müssen eine Weile warten. Aber jetzt werden wir noch ein paar Tage miteinander verbringen, ich will mich auch mal im Spielzimmer blicken lassen. Die Hannovers erwarten dich im Christophorushaus, da wirst du mit dem Erzählen sicher eine Weile beschäftigt sein. Und dann fahrt ihr wieder nach Hause. Sollte ein Brief kommen, werde ich dich sofort verständigen oder selbst kommen."
„Ja. Das ist sicher das Beste."
So richtig glücklich klinge ich nicht, das höre ich selbst. Aber nun heißt es Geduld haben.

Ein kühler Windhauch streift uns, und Hannes schaut zum Himmel.
„Wir sollten reingehen, Anna. Da zieht schlechtes Wetter herauf. Gut für die Saat, aber schlecht für Spaziergänger."
Er lächelt mir zu und führt mich in einem Bogen über die Gartenwege zurück zum Schloss. Wir steigen gemeinsam die große Treppe hinauf und wenden uns zum Spielzimmer. Jakob und Susanna spielen schon wieder ganz vertieft mit all den Spielsachen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Und kurz nach uns kommt Linde mit dem grade aufgewachten Peter auf dem Arm herein. Der streckt gleich seine Arme nach mir aus und will kuscheln, bis er richtig wach ist.

Hannes dagegen hockt sich einfach zu den beiden anderen auf den Fußboden, wie er es bei uns in der Kate immer gemacht hat. Susanna krabbelt sogleich auf seinen Schoß und schmiegt sich an ihn. Jakob hingegen schnappt sich in der Ecke ein Steckenpferd und reitet immer im Kreis um uns herum, bis mir ganz schwindelig wird.
„Jakob? Kannst du mal in die andere Richtung reiten? Ich kann dir gar nicht zusehen!"
Jakob bremst und versucht, die Richtung zu wechseln. Aber inzwischen ist auch ihm schwindelig, was zur Folge hat, dass aus seiner Wende ein ziemlich lustiges Torkeln wird. Hannes greift geistesgegenwärtig zu, damit Jakob nicht zusammen mit dem Steckenpferd stürzt. Der lässt sich erstmal auf den Boden plumpsen, um wieder zu Atem zu kommen.
„Stimmts, Hannes? So wild ist es, wenn du auf Hurtig reitest. Zusammen seid ihr schnell wie der Wind."
Hannes muss lächeln.
„Ja, so in etwa. Hurtig kann keine so engen Kreise laufen wie du, dafür ist er zu groß. Aber schnell – ja, schnell ist Hurtig, und ich mag es sehr, auf seinem Rücken dahinzufliegen. Hast du denn schon einmal auf einem Pferd gesessen?"
„Nein. Der Elias vom Vogt ist langweilig. Der Esel vom Klaas schmeißt alle runter. Und andere Pferde haben wir nicht im Dorf."
„Möchtest du denn gerne reiten?"
Augenblicklich schießt Jakob in die Höhe und schaut Hannes ganz begeistert an.
„Au jaaaaa! Auf Hurtig??? Biiiiiitte!"
Hannes lacht.
„Wir können das gerne ausprobieren, wenn wieder schönes Wetter ist. Schau, draußen hat es angefangen zu regnen. Aber wenn wieder die Sonne scheint, dann nehme ich dich mal mit auf Hurtigs Rücken. Wenn es deiner Mutter recht ist! Sie hat das letzte Wort."

Sofort fällt mir Jakob um den Hals und fängt an, mich mit einem bettelnden Blick anzustarren. Ich schmelze dahin.
„Ja, Jakob. Du darfst zusammen mit Hannes auf Hurtig reiten. Er wird sicher gut auf dich aufpassen."
Jakob jubelt, flitzt zurück zu Hannes und spult aus dem Stand ungefähr einhundert Fragen runter. Hannes und ich müssen über seinen Eifer herzhaft lachen.
Da meldet sich das Peterchen auf meinem Schoß. Er ist nun richtig wach und hat Hunger. Linde steht auf und geht los, um den Kindern einen Nachmittagsimbiss zu besorgen. Kurz darauf kommt Lina mit einem Tablett. Frau Jansen hat uns Gebäck und Saft bereitgestellt.
Heute wird es allerdings sicher nichts mehr mit dem Reiten. Es regnet sich so richtig ein. Jakob steht mit sehnsüchtigem Blick am Fenster und murmelt vor sich hin.
„Strippenregen. Du musst aufhören! Ich will doch reiten ..."
Zum Glück bietet das Spielzimmer so viel Neues, dass die drei auch nach dem Imbiss problemlos beschäftigt sind. Ich setze mich an die Seite und schaue still zu, wie meine Kinder und Hannes aus dem Strahlen über ihr gemeinsames Vergnügen gar nicht mehr herauskommen.

Später machen Hannes und ich noch einmal einen Spaziergang durchs Haus, und er fordert mich auf, einfach drauflos zu träumen und laut auszusprechen, was ich von den Räumen und deren Ausstattung halte. Vor meinem geistigen Auge entstehen lichte Räume mit hellen Gewandschneidereien*, einladenden Sitzecken und warmen Teppichen. Ich sehe Menschen in Gemeinschaft, die mit Kindern oder Hunden spielen, sich gegenseitig Geschichten erzählen oder aus der Bibel vorlesen, wie es wohl der Herr Luther getan hat. Ich sehe fröhliche Tischrunden, die genießen, was man ihnen anbietet, und entspannt miteinander plaudern. Ich sehe Gäste, die sich wohlfühlen und gerne wiederkommen.

Als ich das Herrenzimmer als „etwas" überladen bezeichne, fängt Hannes an zu schmunzeln. Ohne Vorwarnung führt er mich zum einem großen Saal gleich neben der Eingangstür. Die angesammelten Scheußlichkeiten verschlagen mir die Sprache – und Hannes lacht mich aus.
„Da staunst du. Das, liebe Anna, sind eure sauer verdienten Groschen und dem Boden abgerungenen Ernten. In diesen „Kunst"werken steckt eure Arbeit. Und es sind soooo viele, dass ich versuchen will, einiges davon zu verkaufen."
„Na, da bin ich ja gespannt, wie du genau die überheblichen Menschen, die dir am allermeisten auf die Nerven gehen, hierher locken willst, um dir diese Ungeheuerlichkeiten abzukaufen. Und wie Du die wieder loswerden willst, ohne dass sie dich vorher in den Wahnsinn getrieben haben."
Jetzt lache ich, und Hannes schluckt.
„Najaaaa, eine Idee habe ich schon. Ich habe den Hofbaumeister in Salzderhelden gefragt, er wird seine Kontakte zu Händlern in den großen Hafenstädten im Norden spielen lassen. Und Bader hat einige der Rechnungen gefunden, so dass wir die Händler ausfindig machen und ihnen den Krempel zurück anbieten können."
„Ich wünsche dir, dass das gelingt. Ich habe keine Vorstellung, welchen Wert das alles hat, aber ich kann mir denken, dass man damit das gesamte Lehen mit dichten Dächern, eisernen Pflügen und gesunden Ochsen ausstatten könnte."
Hannes reicht mir seinen Arm, und wir schlendern weiter durchs Haus.
„Mehr, Anna. Viel mehr. In diesem Saal stehen alle enteigneten Ländereien, alle versklavten Bauern, alle erpressten Totengelder, alle verhungerten Kinder. Ich will nichts davon übrig behalten. Ich möchte schon das Haus umgestalten und wohnlicher machen, aber schlichter. Und nicht für solche Unsummen Geldes."

Auf einmal dämmert mir, warum er mich vorhin hat erzählen lassen, wie ich das Haus gestalten würde. Ich sehe ihn von der Seite an, während wir wieder die Treppe hinauf zu den Kindern gehen. Ich kann nicht anders, ich muss einfach fragen, aber meine Stimme versagt. Es kommt nur ein zaghaftes Flüstern heraus.
„Du hast immer noch nicht aufgegeben, oder?"
Hannes bremst abrupt, dreht sich zu mir und nimmt meine beiden Hände fest in seine. Seine Stimme klingt klar und sehr überzeugt.
„Nein, Anna. Nie. Niemals werde ich aufgeben. Weil du mein Leben bist."
Wie erstarrt stehen wir beide mitten im Flur und schauen uns tief in die Augen. Ich sehe so viel Hoffnung und Zuversicht und – Liebe in seinem Gesicht. Gleichzeitig weiß ich, dass er in dem meinen nur tiefste Verunsicherung und Zweifel und Angst entdecken kann.

Kurz schließe ich die Augen.
„Anna?"
Sein sorgenvolles Flüstern dringt tief in meine Seele und wärmt mich von innen. Als ich die Augen wieder öffne, kann ich mich erinnern an die vielen Abschiede, die wir schon hatten, kann ich spüren, dass unsere Wege sich doch immer wieder finden werden. Und ich kann ihm mit mehr Zuversicht entgegenblicken.
„Das sieht schon besser aus. Ich werde nie aufhören zu hoffen."
Einen Augenblick hält er noch meine Hände, lässt mir Zeit, mich wieder zu fassen. Dann gehen wir gemeinsam zurück ins Spielzimmer und tauchen ein in die fröhliche Stimmung der Kinder.

Beim Abendessen sind wir wieder zu Dritt mit Albrecht Bader, während die Mädchen oben die Kinder ins Bett bringen. Ich mag den alten, weisen und so humorvollen Mann sehr. Er tut Hannes gut. Er hat keine Scheu, er ist klug und weiß Hannes zu nehmen.
„Herr, was denkt Ihr, wann der junge Mann hier eintreffen wird, der meine Nachfolge antreten soll?"
„Hannes überlegt kurz.
„Ich denke, Ende der Woche wird er hier sein, wenn ihn seine Eltern nicht in den Keller gesperrt haben."
Verblüfft schauen wir ihn an. Nun erzählt Hannes ein wenig über den Auftritt der Familie von Thaden, über den so ganz anders denkenden Gunther und über den geheimnisvollen Mann, den er noch mitbringen will.
„Na, da bin ich ja mal gespannt, Herr. Aber wenn die beiden ein gutes Gespann sind, wie der Junge sagt, werden wir jede tüchtige Hand willkommen heißen."

Nach dem Abendessen verabschiedet sich Bader, um sich zur Ruhe zu begeben. Hannes und ich bleiben noch einen Moment beieinander und überlegen, wie die nächsten Tage aussehen sollen. Wir entscheiden schließlich, dass Hannes morgen bei gutem Wetter Jakobs Wunsch zu reiten erfüllen will, während ich einige Stunden im Christophorushaus verbringen werde, um den Geist meiner geliebten Mutter wieder aufleben zu lassen. Und am Donnerstag wollen wir dann heimreisen. Ich merke, dass Linde sich bei allem spannenden Neuen doch nach zu Haus sehnt. Und auch ich will zurück in die Stille meiner Kate.

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6.2.2022


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