015 - Das Gebetbuch - SO. 3.12.1570

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Nachdem ich nun fast den ganzen Tag fort gewesen bin, empfängt Hannes mich mit Freude und Erleichterung. Ich habe ihm den Rest der Suppe von Lene mitgebracht, die er begierig löffelt. Ich selbst esse dann etwas Brot, wir trinken beide Buttermilch, die ich aus der Ziegenmilch gewinne. Während ich die Hühner füttere, die Ziegen melke und die Milch zur Weiterverarbeitung beiseite stelle, den Hafer für den Frühstücksbrei schrote und einweiche, hockt sich Hannes auf meine Pritsche, mit meinem Gebetbuch in den großen, feingliedrigen Händen, und schaut mir bei der Arbeit zu. Ich sehe an seinen Augen, dass er schon wieder am liebsten mittun möchte, aber nicht weiß, wie. Noch kann er den rechten Arm nicht benutzen. Jede Bewegung schmerzt in der Wunde. Und in der Seele auch.

„Frau Adam ... Ich ... habe wieder geträumt."
Schnell schaue ich ihn an und mustere sein Gesicht. „Was war es diesmal, Hannes?"
Er lächelt in sich hinein. „Es ... war eigentlich ein schöner Traum. Viel farbiger und leichter. Ich nehme jetzt mal an, dass ich Hannes bin, auch wenn ich wieder kein Gesicht hatte. Und Ludo auch nicht. Aber er war da. Wir waren in einem Garten mit einer hohen Mauer. Eine strenge Stimme hat uns ermahnt, wir sollten uns benehmen. Aber kurz danach sind wir in ein Gebüsch gekrochen und durch eine Tür in der Mauer entwischt. Wir sind unter die Erde und von dort in den Keller eines nahen Hauses gegangen. Mehr hab ich nicht gesehen, aber das Haus ansich hat sich gut angefühlt. Dann war alles schwarz. Und zum Schluss habe ich kurz gesehen, wie ein sehr fein gekleideter junger Mann an einem großen Fenster steht und ins Weite starrt. Seine Hand war richtig in den Vorhang gekrallt. Aber er hatte nur traurige Augen, den Rest vom Gesicht konnte ich nicht erkennen." Kurz lacht er auf. „Ich scheine mein ganzes Leben lang immer auf der Flucht gewesen zu sein."

Ich hocke mich mit meinem Stickzeug in der Hand auf den Schemel an der Feuerstelle, damit ich Licht habe. Auf seine letzte Bemerkung gehe ich lieber nicht ein.
„Das ist doch eine ganze Menge, Hannes. Was denkt ihr selbst zu diesen beiden Momenten?"
Er zögert. „Ich denke, dass Ludo und ich zusammen gehören. Und dass wir gut miteinander waren. Und der traurige Mann ... Ich fühle, dass das nicht ich bin." Eine ganze Weile schweigt er. „Vielleicht ist es Ludo, und er sucht nach mir."
Endlich! Es fügen sich Teile zueinander, und es sind schöne dabei.     Im nächsten Moment erwischt er mich jedoch ganz kalt.

„Was erinnert Ihr aus Eurer ganz frühen Jugend? Wart Ihr schon immer im Waisenhaus?"
Ich zucke zusammen. Fast hätte ich mich mit der Sticknadel gestochen.     Warum trifft mich das so? Ich lebe schon immer damit, hatte schon immer meinen Frieden damit. Und auf einmal bringen mich Hannes Fragen so sehr durcheinander, ich kann gar nicht sagen, wie.     Aus lauter Verunsicherung schweige ich, bis Hannes sich einen Ruck gibt.

„Frau Adam? Darf ich Euch etwas fragen?"
Seine Frage kommt vorsichtig und unsicher. Ich schaue ihn erwartungsvoll an, und ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Was denn, Hannes?"
Er zögert noch einen Moment. „Ist es Euch unangenehm, wenn ich nach dem Leben im Dorf und nach Eurem Leben frage? Manchmal antwortet Ihr einfach, aber dann beim nächsten Mal wieder wirkt Ihr, als wolltet Ihr die Worte nicht aussprechen sondern am liebsten runterschlucken. Es ist wie bei einer Schnecke, der man auf die Fühler haut."
Schnell senke ich den Blick auf meine Hände, sortiere die Stickarbeit und beginne einen neuen Saum.

Was soll ich darauf denn antworten? Es ist einfach sehr ungewohnt für mich. Und Fragen nach meiner Herkunft empfinde ich als unangenehm. Oder wollte er eigentlich etwas ganz anderes fragen?
„Wisst Ihr, Hannes, ich bin es nicht gewohnt, dass jemand nach mir fragt, dass jemand wissen will, wer ich bin, dass es irgendjemand kümmert, wo ich herkomme oder hin will. Ich weiß, wie ich heiße, was ich kann und dass meine drei Kinder das Wichtigste auf der Welt sind für mich. Mehr interessiert doch nicht. Das ... das verwirrt mich einfach."

Aufmerksam hat Hannes mir zugehört. Nun schüttelt er den Kopf. „Frau Adam, darf ich mit Eurer Erlaubnis sagen, dass das Unsinn ist?"
Verblüfft fliegt mein Kopf hoch.
„Ihr seid nicht unwichtig. Für mich seid Ihr zum Beispiel der Grund, dass ich überhaupt noch lebe. Ihr und Euer zugiger Dachboden seid im Moment meine ganze Welt. Und darüber hinaus seid Ihr eine wirklich arme, verwitwete, unfreie Bauersfrau, die lesen kann, ein teures Buch besitzt, eine Ausbildung als Feinstickerin hat. Eine einfache Frau, die durchscheinen lässt, dass sie sich mit den Höflichkeitsformen und Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft auskennt. Eine zierliche Frau, die es mutig mit vier fremden Kerlen aufnimmt, die das Leben ihrer Kinder, das Leben eines jeden Wesens über den Hunger, über den Hass, über den Verrat und die Unmenschlichkeit stellt. Ihr habt Rückgrad, Ihr habt Anmut und Erziehung, Ihr strahlt Hoffnung aus, wo alles verloren scheint. Und so jemand soll unwichtig sein? Das soll mich nicht neugierig machen dürfen? Diese Welt bräuchte noch viel, viel mehr Anna Adams, nicht nur die eine."

Irgendwann habe ich meine Stickerei sinken lassen und nur noch ins Feuer gestarrt, habe schließlich die Hände vors Gesicht geschlagen, weil ich den Blick seiner freundlichen Augen nicht mehr ausgehalten habe.     Noch nie im meinem Leben hat mich jemand so angesehen. Meine Ziehmutter im Waisenhaus, die Freifrau von Lenthe, hat mich mit so viel Wissen, Anstand und Herz erzogen, ihre Nachfolgerin hat mich kaltherzig als Magd hier aufs Dorf geschoben, mein Jakob hat nach dem Tod seiner Frau getrauert und mich dann geheiratet. Er war immer anständig zu mir, er war ein Mensch, der mit Humor und Zuversicht das Leben angepackt und die Menschen um sich herum wertgeschätzt hat. Mir ging es gut mit ihm. Aber dennoch war ich nur eine unfreie Bauersfrau. Und nicht dieses Wunderwesen, von dem Hannes zu reden scheint.

Hannes wartet ab, gibt mir Zeit, fragt dann schließlich weiter, ganz leise. „Bin ich Euch zu nahe getreten? Das war nicht meine Absicht."
Lange ist es still in meiner kleinen Kate. Hannes wartet bange auf eine Antwort, ich lausche in mich hinein. Da taucht ein Lied aus meiner Seele auf, und ich beginne „Nun komm der Heiden Heiland" zu singen, das alte Adventslied von Martin Luther, das wir auch heute Morgen schon in der Kirche angestimmt haben. Mein seltsamer Gast schließt lauschend die Augen und summt nach einer Weile leise mit.

Als das Lied verklungen ist, habe ich wieder den Mut, ihn anzusehen.
„Nein, Hannes, Ihr seid mir nicht zu nahe getreten. Es ist einfach, als sprächet Ihr von einer anderen Person, nicht von mir. Soviel Wertschätzung ist seltsam fremd und ungewohnt. Ich danke Euch."

Wie beschämt senkt er den Kopf. Dabei fällt sein Blick auf das Gebetbuch in seiner Hand. Er schlägt es auf und blättert darin, bleibt bei einer Seite stehen und liest leise. Er liest Luthers Abendsegen, und ich spreche auswendig mit.

Ich danke dir, mein himmlischer Vater,
durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn,
dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast,
und bitte dich,du wollest mir vergeben alle meine Sünde,
wo ich Unrecht getan habe,
und mich diese Nacht auch gnädiglich behüten.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele
und alles in deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir,
dass der böse Feind keine Macht an mir finde.

Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen.

Eine ganze Weile ist es still, während ich Stich um Stich an den Schlitzen des feinen Wamses entlang säume und Hannes mit geschlossenen Augen auf der Pritsche hockt. Er sieht aus, als lausche er in sich hinein. Minuten vergehen, bis er die Augen wieder öffnet, seufzt und leise den Kopf schüttelt.
„Ich versuche alles, wirklich alles, ob auf irgendetwas hier eine Antwort in meinem Kopf auftaucht. Sei es die Einrichtung dieser Hütte, seien es Eure Erzählungen vom Dorfleben, seien es meine Kleidung, die ich mit geschlossenen Augen durch meine Hände gleiten lasse auf der Suche nach einem Gefühl oder irgendeiner Erinnerung. Geräusche, Gerüche. Aber da ist nur Leere. Es ist, als riefe ich Worte und Bilder in eine große leere Höhle, und es hallte kein Echo von den Wänden wider."

Ach, wenn ich ihm doch helfen könnte!     Seine verloren gegangene Seele irrt umher und wartet darauf, wieder gefunden zu werden.

„Mir ist, als bliebe mir tatsächlich nichts anderes übrig als genau das: Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.  Mein verlorenes Leben, mein verwirrter Geist, meine umherirrende Seele liegen in Gottes Hand. ... Und Ihr seid mein Engel, der mir Obdach gibt, bis sich alles wieder zusammen fügt."

Ich weiß gar nicht, wo ich hinsehen soll.     Sein Engel ... seltsame Idee. Ich tue doch nur, was getan werden muss. Oder?
„Ich denke, es ist Zeit zu schlafen."
Um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Worte berührt haben, packe ich sorgfältig meine Stickarbeit zusammen und verwahre sie in meinem Kasten. Wieder etwas gefasster wende ich mich ihm zu, lächele ihn an und wünsche ihm eine gute Nacht. Hannes steigt die Leiter hinauf. An den Geräuschen kann ich hören, dass auch er sich zur Ruhe bettet. Meine Pritsche kommt mir ohne die Kinder so leer vor. Ich nähre noch einmal das Peterle. Und dann liege ich noch eine Weile wach im Dunklen.

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15.1.2020

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