084 - Gieboldehusen - SA. 24.3.1571

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In der Bibliothek hatten wir am Vormittag eine Karte von dieser kleinen Stadt gesehen. Der Ort wird von den beiden kleinen Flüsschen Oder und Beber eingerahmt, die nördlich und südlich entlang fließen. Die Straße von der Grenze im Süden nach Herzberg im Norden führt grade hindurch. Östlich der Hauptstraße liegt das Schloss in einem Park, westlich der restliche Ort, der Markt, die Kirche mit ein paar Ruinen des alten Klosters. 1525 waren Kirche und Kloster im Bauernkrieg von Bauern aus dem Eichsfeld zerstört worden. Die Mönche zogen ins katholische Duderstadt. 1533 löste der hiesige Graf in der Reformation die Abtei auf, übernahm deren Besitz und baute die Kirche für die Gläubigen wieder auf. Auf dem Gelände des ehemaligen Klosters stehen heute neben der Kirche nur noch ein von protestantischen Schwestern geführtes Hospiz, das Waisenhaus, in dem Anna aufgewachsen ist, und ein kleines Gebäude, in dem die Schule untergebracht war.

Wir schlendern durch die Straßen der Stadt, ich rede ganz oft kurz mit den Einheimischen, stelle mich vor und höre ihnen zu. Nebenbei erzählt uns Jochen Hannover aus seiner umfangreichen Erinnerung viele, viele Geschichten über den Ort, die Menschen und die Geschichte. Er ist ein guter Erzähler, aber er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen arm und manche Häuser verwahrlost sind. Bei manchem Anblick, bei mancher Bitte eines Menschen müssen Karl und ich wirklich schlucken. Wieviel ein habgieriger Mensch doch anrichten kann!
„Owei! Hier hast du viel zu tun, Hannes!"
Ich kann nur nicken. Was mich tröstet und doch etwas zuversichtlich stimmt, ist die Stimmung der Menschen, die sich offensichtlich alle freuen, mich zu sehen. Es hat sich wohl schon herumgesprochen in der Stadt, dass der Brudenhusen und der Hauser fort sind und der Lehnsherr aufgetaucht ist. Es scheint, dass Angst und Groll gegenüber dem Brudenhusen nicht auf mich übertragen werden.

Wir laufen an der ehemaligen Klostermauer entlang fast bis zum Ortsende. Dort lebt Dörthe Bäcker mit ihrem Mann Lennart, dem Bäcker der kleinen Stadt. Sie ist die Tochter des ehemaligen Verwalters Albrecht Bader, ist im Schloss aufgewachsen und kennt darum Jochen Hannover von früher. Dörthe Bäcker hängt grade Wäsche im Hof auf, als wir auf die Bäckerei zugehen. Da Karl und ich ihr unbekannt und fein gekleidet sind, macht sie vorsichtshalber einen tiefen Knicks, auch wenn sie gar nicht weiß, vor wem.

Jochen Hannover übernimmt für uns die Vorstellung und fragt Dörthe Bäcker dann nach ihrem Vater.
„Wo ist denn der Vater, Dörthe?"
Sie lächelt.
„Oh, der sitzt hinten in der Sonne auf seinem Lieblingsplätzchen und genießt die erste Frühlingswärme. Wollt Ihr zu ihm?"
Sie erwischt einen vorbeiflitzenden Jungen grade noch am Ärmel und hält ihn auf.
„Lennart, bring doch bitte die Herrschaften zum Großvater."
Der Junge entdeckt uns erst jetzt, stutzt, macht einen Bückling, wechselt die Richtung und rennt einfach weiter. Dörthe Bäcker schüttelt den Kopf, mahnt ihn, auf uns zu warten, und entschuldigt sich dann für ihren Sohn. Karl und ich müssen uns das Lachen verkneifen. Wir bedanken uns bei der Bäckerin und folgen dem Jungen hinter das Haus.

Albrecht Bader sitzt in einem alten Lehnstuhl in einer sonnigen, windgeschützten Ecke des kleinen Gartens und schaut uns neugierig entgegen. Als er Jochen Hannover erkennt, beginnt er zu strahlen.
„Jochen, alter Freund. Wie schön! Wen bringst du mir denn da?"
Wieder stellt Hannover uns vor. Doch als der alte Mann sich erheben will, um uns die Ehre zu erweisen, mache ich zwei schnelle Schritte vorwärts und drücke ihn zurück in seinen Stuhl.
Ob dieser Mann der Aufgabe noch gewachsen ist? Er ist doch wirklich alt.
Ich lasse mir meinen Zweifel nicht anmerken.

„Herr Bader, Ihr seid der Lehnsverwalter für Agnes von Minnigerode gewesen. Ich bin ihr Neffe und Erbe des Lehens. Ich habe viel Schuld auf mich geladen, indem ich den Brudenhusen eingestellt, nie kontrolliert und mich nie hier gezeigt habe. Doch nun bin ich da und will es besser machen. Der Brudenhusen und der Hauser sind fort. Aber ich brauche dennoch jemand, der mir das Lehen verwaltet. Ich weiß, Ihr seid nun seit sechs Jahren fort. Aber ich traue lieber einem Manne, der meiner Tante lange Jahre treu gedient hat und das Lehen kennt, als einem jungen Hüpfer, dem Erfahrung und Ortskenntnis fehlen."

Der alte Mann hat einen erfrischend freimütigen Humor.
„Und da wollt ihr die Arbeit lieber einem Alten geben, der schon mit dem Kopfe wackelt? Lang werd ichs nicht mehr machen."
„Ich weiß wohl, Bader, dass Ihr Euch den Ruhestand und den Sessel in der Sonne redlich verdient habt. Und dass ich nicht zu befehlen habe, nur bitten kann. Mir geht es als erstes darum, dass jemand das Heft in die Hand nimmt, dass derjenige sich die Bücher der letzten Jahre anschaut und kontrolliert. Und dass er dann einen Jüngeren aussucht und einarbeitet. Wenn Ihr Euch gemeinsam mit mir der Aufgabe stellen wollt, bin ich zuversichtlich, dass wir innert einem Jahr hier Ruhe, Ordnung, Gerechtigkeit und Zufriedenheit in alles bekommen und einen Neuen genügend eingearbeitet haben. Und dann könnt Ihr Euch wieder in die Sonne setzen."
„Wenn sie denn scheint."
Der alte Mann grinst, und ich sehe ihm an, dass er sich freut, dass ich ihn so in den höchsten Tönen lobe.
„Und wie soll das gehen, Hoheit, wenn Ihr nur alle sechs Jahre hereinschneit?"
Er zwinkert mir zu, und ich habe immer mehr Spaß an der Sache.

„So, Ihr wisst also im Gegensatz zu allen anderen, wer ich bin?"
„Natürlich weiß ich das. Jochen und ich waren die engsten Vertrauten der Frau Agnes. Wir wussten, wer der Erbe ist. Stimmts, Jochen?"
Jochen Hannover nickt ihm zu.
„Nein, Bader, ich werde nicht erst in sechs Jahren wieder auftauchen. Ich werde über Ostern zur Krönung meines Bruders nach Salzderhelden reisen und dann wiederkommen. Und dann werde ich fest hier leben. Ich will so viel wie möglich von Euch lernen."
Bader lacht leise.
„Ihr begeht Fahnenflucht? Schluss mit Hoheit? Na sowas!"
Ich bin ehrlich begeistert von seinem Humor und seiner Freimütigkeit. Er wird es mir nie an Respekt fehlen lassen, aber er buckelt nicht sondern spricht frei heraus.
„Ja, Bader. Ich habe immer gefühlt, dass ich nicht auf diesen Platz gehöre. Mein Bruder wird der bessere Herzog sein."

Der alte Mann lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Ich lasse ihm Zeit, um nachzudenken. Dann nickt er bedächtig.
„Das will ich gerne tun, Hoheit. Ich bin bereit. Jochen, meinst du, ich kann die alten Zimmer wieder haben? Oder hat der Hochstapler etwas anderes damit angestellt?"
„Nein, Albrecht. Die drei Räume unter der Treppe wurden wenig genutzt. Du könntest sofort wieder dort einziehen."
Der alte Mann richtet sich auf und blickt mich gerade an.
„Dann, Hoheit, will ich morgen Mittag ins Schloss kommen und mit Euch gemeinsam die Aufgabe anpacken. Je eher desto besser."
Und jetzt, wo seine Augen tatenlustig und wach blitzen, sehe ich, dass er seine Sache sehr gut machen wird. Ich muss ihm nur seine Zeit dafür geben. So, wie er es schaffen kann.

„Dafür bin ich Euch ehrlich dankbar, Bader. Ich habe noch eine ganz andere Frage. Was könnt Ihr mir denn über die neue Leiterin des Waisenhauses erzählen? Die Freifrau von Lenthe ist ja nicht lange nach der Frau Agnes gestorben."
Der Alte zischt missbilligend.
„Die Hexe? Die ist ein raffgieriges Miststück, das Kinder von ganzem Herzen hasst. Sie ist der einzige Mensch auf Gottes Erdenboden, der dem Brudenhusen ebenbürtig war. Kaum war sie da, hat sie als Allererstes die Ziehtochter der Frau von Lenthe fortgeschafft. Dann alle anderen, die ihr zu alt waren."

Ich werde hellhörig.
„Die Ziehtochter?"
„Freifrau von Lenthe war noch ziemlich jung, als sie herkam. Sie war eine Jugendfreundin der Frau Agnes von Minnigerode. Und nur wenige Wochen später kam ein neugeborenes Mädchen ins Heim. Es wurde viel gemunkelt in der Stadt, aber die Minnigerodes haben Frau von Lenthe in allem unterstützt, und der Erfolg mit den Kindern hat ihr Recht gegeben. Freifrau von Lenthe hat das Mädchen geliebt und aufgezogen wie eine eigene Tochter. Arme Anna. Sie war so schlau, so freundlich, so geschickt. Und dann musste sie als Magd ins letzte Dorf. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört."
Ziehtochter! Er nennt Anna die Ziehtochter der Frau von Lenthe! Sollte Ludo Recht haben?

„Nun gut, Bader. Ich bin ehrlich erleichtert, dass Ihr bereit seid, noch einmal mitzutun. Ich freue mich darauf, dass Ihr morgen zu uns ins Schloss kommen werdet. Wir werden dann schnell die Arbeit aufnehmen, aber es ist mir wichtig, dass Ihr auf Euch achtet. Ihr sollt Euch nicht überarbeiten."

 Nach ein paar weiteren freundlichen Worten machen wir uns auf den Rückweg zum Schloss. Für heute bin ich so randvoll mit Eindrücken, Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Gedanken, dass mir bald der Schädel platzen möchte. Frau Jansen und der Koch haben es fertig gebracht, fürs Abendessen bereits eine große Auswahl an Gerichten herbeizuzaubern. Aber ich bin so müde, dass ich mich sofort anschließend zurückziehe und erschöpft einschlafe. Das letzte, was ich denken kann, ist: Anna.

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24.3.2020

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