111 - Ich bin ... - SA. 28.4.1571

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Nur mühsam finden meine Gedanken einen Weg durch den schier undurchdringlichen Nebel in meinem Kopf. Mir ist schwindelig. Und erst, als ich die Augen aufklappe, merke ich, dass ich in Hannes Armen liege, der mich besorgt ansieht.
„Geht es dir gut, Anna? Langsam! Bleib noch liegen, du bist plötzlich ohnmächtig geworden."
Ich klappe die Augen wieder zu und konzentriere mich ganz darauf, dass Hannes mich sicher hält.

Erst nach einer Weile öffne ich die Augen wieder.
„Was ist passiert?"
Hannes schüttelt den Kopf.
„Wir haben mit dem Schlüssel von deinem Hals die Schatulle geöffnet, die ich im Christophorus-Haus gefunden habe. Es war ein versiegelter Brief darinnen. Du hast angefangen, den Brief zu lesen. Aber schon nach wenigen Sätzen bist du einfach mit einem leisen Seufzen umgefallen. Ich konnte dich grade noch auffangen."

Es klingt seltsam. Vertraut und doch so fremd. Ich bin noch nie zuvor in meinem Leben ohnmächtig geworden!
„Was ... steht denn in dem Brief?"
„Ich habe ihn nicht gelesen. Ich habe mich auf dich konzentriert."
„Hilf mir bitte auf."
Ganz langsam richte ich mich auf und lehne mich gegen Hannes, der mich weiterhin hält.
„Wo ist der Brief?"
Er reicht mir den großen, eng beschriebenen Bogen. Ich fange an zu lesen, höre aber schon nach der Überschrift wieder auf.
„Kannst ... Könntest du mir vorlesen? Und mich weiter halten?"

Hannes legt seinen Arm um mich, greift mit der anderen Hand das Schreiben und beginnt, laut zu lesen. Als er die letzte Zeile gelesen hat, legt er den Brief beiseite und nimmt mich fest in die Arme. Er sagt nichts. Er lässt mich in Ruhe begreifen, was das alles für mich bedeutet. Ich bin die legitime Tochter eines Grafen und einer Freifrau. Ich bin tatsächlich in der Obhut und Liebe meiner leiblichen Mutter aufgewachsen, weil treue Freunde ihr dies ermöglicht haben. Und mir. Und wenn ich das will, kann ich mit einer Urkunde in der Hand zu meinem Vater gehen und als seine Tochter ein standesgemäßes Leben führen. WENN ich das will. Und wenn er denn jetzt, sechs Jahre später immernoch lebt.
Ich begreife die Tragweite noch nicht.

„Halt mich bitte fest. Ich bin so verwirrt."
So sitzen wir da auf dem Findling mitten im Wald, Hannes hält mich und es passiert nichts außer, dass ich ab und zu verwirrt den Kopf schüttele. Irgendwann stiehlt sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Was ist?"
„Ich glaube, du könntest inzwischen wenigstens ab und zu ein Nicken zwischen das ganze Kopfschütteln streuen. Oder einfach drauflosreden, damit ich dir beim Sortieren helfen kann."

Leichter gesagt als getan.
„Ich frage mich die ganze Zeit, was passieren wird, wenn ich bei meinem Vater auftauche. Ich werde sehr einfach gekleidet sein und drei Kinder an der Hand haben, die meilenweit unter Stand sind. Wie würde er mich aufnehmen? Wie würde er auf die Kinder reagieren? ... Wenn er verlangt, dass ich sie hergebe, mache ich auf dem Absatz kehrt!"
Hannes lacht wieder leise.
„Da ist ja meine selbstbewusste Anna wieder! Wenn er das tut, ist er selbst schuld. Dich und deine Kinder kriegt man nicht mit einer Säge auseinander. Das habe ich ja selbst erlebt."
Kurz drückt er mich.

„Nein. Ich denke, du solltest da nicht einfach auftauchen. Sonst erliegt der alte Herr noch einem Herzschlag. Wir machen eine Abschrift von der Urkunde, ich schreibe ihm einen höchst offiziellen Brief und erkläre die Situation, du schreibst einen persönlichen Brief und erzählst von deinem Aufwachsen mit deiner Mutter. Du lässt weder Jakob Adam aus noch die Kinder noch deine Liebe zu ihnen. Und am Schluss fragst du ihn einfach, ob er dich sehen möchte. So hat auch er Zeit, die Neuigkeiten bei sich sacken zu lassen, zwischen den Zeilen zu lesen und sich in Ruhe zu entscheiden. Was hältst du davon?"

Ich nicke stumm und bedenke das.
„Er muss ein alter Mann sein. Hoffentlich ist er noch gesund, und ich komme nicht zu spät! Doch, ich glaube, ich möchte ihn kennenlernen. Ich bin erwachsen, er wird mich also nicht hindern können zu gehen, wenn ich mich dort nicht wohlfühle."
Hannes schüttelt den Kopf.
„Na, da spricht aber die geknechtete Bäuerin aus dir. Warum gehst du davon aus, dass er dich zu irgendetwas zwingen will? Du bist nun eine freie Frau adliger Herkunft, Du hast Bildung, Würde und Verstand. Und einen festen Willen. Und - ich bin ja auch noch da ..."

Ich richte mich auf und schaue Hannes fest an.
„Aber du lässt mich das selbst regeln!"
Und wieder lacht er. Er steht auf, macht eine tiiiiieeeeefe Verbeugung vor mir und zwinkert mir zu.
„Ich würde es nie wagen, Euer Hoheit zu bevormunden!"
Schnell gebe ich ihm einen Klaps auf den Arm.
„Wenn Du nicht willst, dass ich Euer Hoheit zu dir sage, dann lass das bitte auch bei mir."
Wir nehmen jeder unser eigenes Kästchen unter den einen Arm, ich ergreife seinen dargebotenen anderen Arm und so spazieren wir wieder aus dem Wald heraus.

Kurz, bevor wir die anderen erreichen, bleibt Hannes noch einmal stehen.
„Anna? Darf ich dich und die Kinder nach Gieboldehusen einladen? Als meine sehr willkommenen Gäste? Ich würde gerne mit dir zusammen die Briefe an deinen Vater schreiben und abschicken. Und die Hannovers haben tausend Fragen an dich über das Christophorus-Haus. Und ein Schneesturm ist im Moment auch nicht zu erwarten."
Endlich! Endlich sind wir wieder gelassen und albern. Wie sehr ich das vermisst habe!

„Jetzt sofort?"
„Naja, ich würde sagen: ihr kommt in den nächsten Tagen, bleibt ein paar Nächte, und du kannst den Kindern zeigen, wo und wie du aufgewachsen bist. Du kannst ihnen zeigen, wo du zur Schule gegangen bist. Du erzählst ihnen einfach von dir. Ich werde mir auch Zeit für die Kinder nehmen. Wenn ihr der Schule einen Besuch abstattet, können meine Lehrerbrüder unauffällig nach Jakob schauen. Und wenn die Kinder beschäftigt sind, schreiben wir die Briefe."

„Aber was werden sie im Dorf sagen, wenn ich einfach so in die Stadt fahre? Was wird dein Gesinde* sagen?"
„Du Zweiflerin! Ich werde einen Boten mit einer Kutsche schicken. Dann muss der Elias nicht schon wieder ran. Und du fragst Grete oder Linde Ferz, ob sie als Anstandsdame und für die Kinder mitkommen."
Das klingt nach einer guten Lösung. Doch dann schaue ich an mir herab und erröte.
„Aber, Hannes! Ich kann doch nicht ..."
„Grrr. Du kannst! Was auch immer du sagen wolltest - du kannst! Geh nach Haus, bereite deine Kinder vor. Übermorgen kommt die Kutsche, du ziehst dein schönes Gewand an, fährst den Kindern einmal mit einem Lappen über die Nase. Und los geht's. Komm!"

Hannes bietet mir wieder seinen Arm an und führt mich zurück zu den Männern am Zaun. Klaas grinst uns entgegen. Aber Hannes schüttelt ganz leicht und warnend den Kopf, daraufhin ist Klaas still. Hannes schnürt seine Schatulle wieder an seinem Sattel fest, ich halte meine sorgfältig im Arm. Dann steigt er auf, winkt noch einmal und reitet mit seinem Landsknecht wieder hinter dem Mühlenhügel davon.

Ganz still stehe ich da und schaue ihm versonnen hinterher. Die Männer arbeiten einfach weiter, und ich hänge meinen Gedanken nach. Dann gebe ich mir einen Ruck.
„Klaas, wenn jemand fragt - ich bin beim alten Jasper."
Eilig mache ich auf dem Absatz kehrt und laufe zurück ins Dorf.

Was bin ich froh!
Jasper sitzt vor seiner Kate auf der Bank in der Sonne. Ich rufe seinen Namen, und er lauscht in meine Richtung.
„Was gibt es, Mädchen? Du klingst aufgeregt."
Schnell laufe ich zu ihm hin, bitte ihn, mit mir hineinzugehen und rutsche drinnen ihm gegenüber auf die Bank. Und so sprachlos, verwirrt und erschüttert ich vorhin noch war, als ich nur anfing, die Tragweite dieses Briefes zu erfassen, so aufgeregt sprudelt nun alles aus mir heraus. Ich erzähle ihm von Hannes heimlichem Besuch grade eben, von dem Schlüssel um meinen Hals, von den beiden Kästchen, von dem Brief.

Auf einmal fängt der alte Mann schallend an zu lachen.
„Also noch jemand, zu dem wir in Zukunft 'Durchlaucht' sagen müssen!"
„Jasper! Niemals!!!"
Tastend greift er nach meiner Hand und lächelt.
„Verzeih mir, mein Mädchen. Das musste jetzt einfach sein. Niemals würde ich auf diese Idee kommen! Du bleibst unsere Anna."

Dann werden wir beide ganz still.
„Jasper, was mach ich denn jetzt?"
Er schmunzelt.
„Was möchtest du denn jetzt machen?"
„Ich ... möchte wohl meinen Vater kennenlernen. Aber ich möchte nicht dort leben. Meine Heimat ist hier. Ich möchte so gerne bei Hannes sein. Aber ich habe nichtmal ein Kleid, das auch nur gleich gut ist wie die der Zimmermädchen im Schloss. Wie soll mich da jemand respektieren?"

Wieder lacht Jasper.
„Du weißt aber schon, dass du grade wieder Unsinn redest, oder? Du hast mir erzählt, wie allein deine Anwesenheit und dein Singen einen ganzen aufgescheuchten Haushalt verändert haben. Wie kommst du auf die Idee, dass sie dich nicht achten könnten. Und dass du standesgemäß gekleidet bist, dafür wird dann wohl recht bald der klingelnde Beutel hier sorgen. Und versprich mir eines, Mädchen. Lass dir Kleider nähen, die dir gefallen und bequem sind. Lass dir von niemand aufschwätzen, wie du nach der neuesten Mode auszusehen hast. Denn es wird dir viel, viel leichter fallen, dich in diese seltsame neue Rolle zu finden, wenn du dich in deiner Haut - und deiner zweiten Haut - wohl fühlst. Schlichte Stoffe, schlichte Farben. Sei und bleibe ganz du selbst. Dann wird es dir gelingen."

Ich rücke rüber neben ihn auf die Bank, lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab und betrachte stumm das flackernde Licht der kleinen Kerze.
Ich habe einen Vater. Ich werde ihn kennenlernen. Und meine geliebte Frau von Lenthe war tatsächlich meine Mutter. Wie viele Nächte habe ich wach gelegen oder davon geträumt, dass ich eine so wundervolle Mutter haben dürfte, wie sie es für mich war. Welch ein zauberhaftes Geschenk des Schicksals. Und doch - wie grausam für sie, dass sie mir das nie sagen durfte, dass sie mir ihre Liebe nur heimlich schenken durfte, dass ihre Tochter sie nicht ein einziges Mal in den Arm nehmen und sagen durfte:"Ich liebe dich, Mutter."

„Ich danke dir sehr, Jasper. Für alles, was du mir in den Jahren hier an Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt hast."
Ich stehe auf.
„Heijo, Mädchen. Das klingt ja fast schon wie ein Abschied. Hast du dich nun umbesonnen?"
„Ich weiß es noch nicht, Jasper."
„Aber ich. Ich hörs. An deiner Stimme. Genieße es!"

Ich stehe auf und laufe mit meinem feinen Kästchen zu Irmel, wo meine Kinder in der Diele fröhlich spielen.
„Kannst du vorm Abendessen den kleinen Jasper rumschicken, dass ich alle Verbündeten zu mir einlad für den Abend? Wenn die Kinder schlafen?"
„Aber natürlich, Anna. Bis nachher. ... Du siehst irgendwie ... anders aus als in den letzten Wochen. Gut! Ich freu mich."

Ich gehe mit meinen Kindern nach Hause. Und dort schiebe ich als erstes das Kästchen auf den Dachboden, damit die Kinder nicht zu neugierig werden. Meine Schritte sind leichter als in den letzten Wochen, ich habe ein Lächeln auf den Lippen. Ich will ja gar keine Gräfin sein. Aber der Druck und die Rastlosigkeit, die Trauer und Verwirrung sind etwas Neuem gewichen, das ich selbst noch gar nicht greifen kann. Ich weiß nur: es tut mir gut. Und heut Abend werde ich es allen erzählen. Ich bin gespannt, was sie dazu sagen werden.

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22.4.2020

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