150 - 18. November anno domini 1620

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Die neblige Novemberkälte zieht durch die Fensterritzen, und der Wind heult leise im Kamin. Aber das Feuer brennt hell und warm, und so entschließe ich mich endlich aufzustehen. Meine müden alten Knochen knacken etwas. Grade bei solchem Wetter spüre ich dann doch die kargen frühen Jahre in Lütgenhusen. Aber ich kann mich nicht beklagen. Ich habe ein langes, erfülltes Leben gelebt, an der Seite von Hannes, um uns geschart unsere fünf Kinder. Und ich bin immernoch gesund.

Ich läute nach meiner Zofe, noch immer die gute Linde, die all unsere Kinder hat aufwachsen sehen. Sie ist zur Schule gegangen, hat, als unsere Kinder groß wurden, ein paar Jahre im Christophorus-Haus und in der Schule mitgearbeitet und ist dabei immer meine Vertraute geblieben. Sie kommt sogleich und hilft mir beim Ankleiden.
„Linde - Susanna und ich fahren heute über die Dörfer. Bringst du mir etwas richtig Warmes zum Anziehen?"
„Gleich, Anna. Du sollst nicht frieren bei der Kutschfahrt."

Susanna hat nicht geheiratet. Sie wollte nie etwas anderes, als an meiner Seite zu bleiben. Sie ist künstlerisch sehr begabt und hat so manches Bild in diesem Hause selbst gemalt. Sie lebt ihr Talent bei der Gestaltung des Gartens aus und bleibt die treue Seele an meiner Seite. Ich bin grade fertig, mich anzukleiden, da klopft es, und Susanna tritt ein.
„Guten Morgen, Mutter. Werden wir heute auch Schule, Waisenhaus und Hospiz besuchen?"
„Nein, meine Liebe. Das ist zuviel für einen Tag. Das erledigen wir dann morgen. Bist du auch warm genug angezogen?"
„Ja, Mutter. Der Nebel ist garstig. Aber immernoch besser als Regen."

Gemeinsam begeben wir uns zum Frühstück nach unten, wo wir auf unseren tüchtigen Verwalter, meinen Jakob Adam, meinen jüngsten Sohn Karl-Ludwig, dessen bezaubernde Frau Jakobine und seine zwei Kinder treffen. Auch Jakobs zwei Kinder sind dabei. Seine Frau ist leider vor ein paar Jahren an einer schweren Krankheit gestorben.
Karl-Ludwig ist als zukünftiger Erbe von Hannes fest in die Bewirtschaftung des Lehens und der Ländereien einbezogen und lernt fleißig von der Weisheit und Güte seines Vaters. Jakob als der ein paar Jahre Ältere hat schon länger Erfahrungen gesammelt und ist seinem Bruder der treueste Verwalter, den der sich wünschen kann. Unsere zweite Tochter Magdalena Clara ist verheiratet mit einem Herzberger und hat selbst nun drei Kinder. Da Herzberg so nah ist, sehen wir uns häufig. Aber bei so garstigem Wetter zieht man doch nur los, wenn es wirklich nötig ist. So wie heute.

Hannes hat schon lange gefrühstückt. Er ist immernoch ein Frühaufsteher, auch wenn er inzwischen eher die Kutsche als das Pferd nimmt, wenn er sich auf einen Weg macht. Da ihm aber Jakob und Karl-Ludwig das meiste inzwischen abnehmen, kommt das nicht mehr so häufig vor. Dafür leistet er uns nun häufiger als früher bei unserem Frühstück Gesellschaft.

„Guten Morgen, Anna, Liebes. Hast du trotz Kälte gut geschlafen?"
„Ja, Hannes. Wie immer. Linde achtet sehr darauf, dass es mir gut geht."
Er gibt mir einen Begrüßungskuss auf die Wange und setzt sich zu uns an den Tisch. Allerlei Speisen locken. Aber noch immer gibt es jeden Morgen neben allem anderen auch warmen Getreidebrei mit Früchten oder Dörrobst, eine der vielen kleinen Traditionen, die den Sprung von Lütgenhusen nach Gieboldehusen geschafft haben.

„Du siehst aus, als wolltest du heute noch raus, Anna. Wohin soll es gehen?"
„Ich werde heute auf die Dörfer fahren und mit den Frauen und Vögten reden, ob vor dem Winter noch etwas gebraucht wird, ob es eine Not zu lindern gilt. Und es ist Nachricht zu uns gedrungen, dass unser lieber Klaas Rand gestürzt ist. Er gibt nun das Amt des Dorfvogtes an den kleinen Jasper weiter, weil es ihm zu mühsam wird. Der Rücken ..."
Ich muss schmunzeln, denn der „kleine" Jasper ist nun auch schon über sechzig Jahre alt. Unserem guten Freund Klaas stecken die vielen Jahre harter Arbeit auf den Feldern in den Knochen. Sein Ältester hat inzwischen das Gut übernommen, aber Vogt ist er immernoch gewesen.

„Dann grüße unsere Freunde von ganzem Herzen. Hoffentlich findest du alle wohlauf. Wird Jakob dich begleiten?"
„Nein, Jakob hat in den Ställen zu tun. Ich werde ihm alles Wichtige notieren, dann können unsere Jungs gemeinsam die geeigneten Maßnahmen beschließen. Susanna wird mitkommen. Sie will ein Schwätzchen mit Evchen halten."

Hannes berät sich nun mit unseren Söhnen, was an den Ställen alles auszubessern und zu erweitern ist. Es macht mich glücklich, wie selbstverständlich Jakob Hannes Sohn und Karl-Ludwigs Bruder ist. Und wie selbstverständlich es dennoch für ihn ist, dass sein jüngerer Bruder der Erbe ist und er selbst ihm mit Herz und Verstand zur Seite steht.

„Hannes, hast du Neues gehört von dem furchtbaren Krieg im Süden? Hoffentlich einigen sie sich bald, und es ist wieder Frieden im Reich. Bezahlen müssen für den Unverstand der Mächtigen sowieso immer die Kinder, die Schwachen und die Alten."
„Leider nichts Gutes, Anna. Der Krieg weitet sich aus, denn nachdem der Habsburger die böhmischen Protestanten für den Prager Fenstersturz bestraft und niedergerungen hat, will er nun gleich alles erledigen. Er marschiert mit seinem Heer Richtung Kurpfalz. Wollen wir beten, dass dann wieder Frieden ist. Nicht auszudenken, wenn das Elend sich auch noch nach Norden ausbreiten sollte."

Sorge regt sich in meinem Herzen.
Vor einer solchen Übermacht könnten wir unser Land und die uns anvertrauten Menschen nicht schützen. Da kann dann nichtmal der Braunschweiger helfen.

„Susanna, bist du bereit? Dann lass uns aufbrechen."
Wir gehen in die große Halle, wo uns unsere Hausdame Ursula schon mit heißen Steinen für die Füße und einigen warmen Decken erwartet.
„Lasst Euch die Steine in jedem Dorf wieder anwärmen, Herrin."
Sie gibt uns unsere Umhänge und begleitet uns zur Kutsche, die vorgefahren ist. Sorgsam legt sie die heißen Steine hinein und wickelt uns warm ein.
Hannes konnte nie herausfinden, was das für ein Wappen auf den Habseligkeiten von Ulla und ihrem kleinen Bruder Hannes war. Aber sie sind beide klug und anstellig. Beide sind nach ihrer Konfirmation in unseren Haushalt gekommen und führen uns heute mit Geschick und Verstand das Schloss.

Einem Impuls folgend bitte ich unseren Kutscher, uns erst noch zum Buchbinder zu fahren. Dort angekommen, lasse ich Susanna in der Kutsche sitzen und gehe schnell in die kleine Werkstatt.
„Frau Gräfin, willkommen! Was kann ich für Euch tun?"
„Ich möchte einfach ein dickes leeres Buch, das ich selbst vollschreiben kann. Habt Ihr so etwas da, Meister?"
Der Mann lächelt und geht in einen kleinen Nebenraum. Dann kommt er zurück mit einem dicken Lederfolianten in den Händen.
„Ist das dick genug für Eure Zwecke, Frau Gräfin?"
Ich lasse die leeren Seiten durch meine Finger gleiten und denke nach.
„Ja, Meister. Das ist wunderbar. Bitte schickt es doch gleich ins Schloss und lasst Euch dafür ausreichend entlohnen. Ich selbst fahre heute über Land und möchte es dabei nicht mitnehmen."
„Sehr wohl, wird gleich gemacht."

Etwas erleichtert steige ich wieder zu Susanna in die Kutsche, und nun fahren wir direkt nach Wollershusen, um dort mit unseren Erkundigungen zu beginnen. In Lütgenhusen sind wir dann zu Gast im Pfarrhaus und werden zum Mittag herrlich bewirtet. Es schmeckt für mich immer nach Heimat.
Cristoph Crüger ist als junger Mann zu seinem Onkel nach Duderstadt gegangen und hat dort das Zimmermannshandwerk gelernt. Inzwischen ist er wieder da und hat eine Werkstatt im Nachbarlehen übernommen. Evchen ist im Dorf geblieben und hat einen Vikar geheiratet. Als Johann Crüger starb, hat der Vikar seine Pfarrstelle übernommen, und so ist uns Evchen weiter erhalten geblieben. Susanna genießt es immer sehr, wenn sie mit ihrer Freundin aus Kindheitstagen einen Plausch halten kann.

Als letztes besuchen wir Rhumaspring und fahren anschließend in der frühen Dämmerung mit drei Listen voller Wünsche und Notwendigkeiten nach Hause. Ich bin sehr müde und nachdenklich. Aber zu Hause empfangen uns wohlige Wärme und ein fürsorglicher Hannes. Wir erläutern den drei Männern die mitgebrachten Listen.

„Wirst du vielbeschäftigte Lieblingsfrau morgen mehr Zeit für deinen Gemahl haben?"
Hannes zwinkert mir zu.
„Aber sicher. Zwei Tage hintereinander brauche ich das Gerumpel nicht. Morgen besuche ich nur das Hospiz, die Schule und Peter im Christophorus-Haus. Er war schon allzu lang nicht mehr hier, also besuche ich ihn eben dort bei seiner Aufgabe mit den Kindern."
„Da will ich gerne mitkommen, Anna. Manchmal vermisse ich die Zeit, als unsere Kinder klein waren. Wie gut, dass wir inzwischen die Enkel um uns haben."
Nach dem Abendessen ziehe ich mich bald zurück, stehe erschöpft an meinem Fenster und schaue in die rabenschwarze Dunkelheit. Die Gedanken an den Krieg im Süden spuken nun den ganzen Tag schon durch alles, was ich getan habe, und geben keine Ruhe. Im letzten Jahrhundert hat es einige Zeit nach der Reformation den Religionsfrieden von Augsburg gegeben, und das ganze Reich hat aufgeatmet in der Hoffnung, dass nun wieder Ruhe einkehren würde. Aber der Schein hat wohl getrogen, denn nun gehen erneut Protestanten und Katholiken aufeinander los und zerreißen den Frieden, den Gott uns bringen wollte. Das macht mir große Angst.

Mühsam zwinge ich meine Gedanken zurück in mein eigenes Leben. Ich weiß nicht, ob Hannes daran gedacht hat.
Heute vor genau fünfzig Jahren ist er schwer verwundet in meine Kate gestolpert. Heute vor fünfzig Jahren haben wir uns kennen gelernt. Als wir einander näher gekommen waren, hat er mir aus dem Buch vorgelesen, das seine Mutter für ihre beiden Söhne vollgeschrieben hat. Vollgeschrieben mit Beobachtungen, Weisheiten und unendlich viel Herzensgüte. Auch unsere Kinder haben später gerne darin gelesen. Für sie waren es Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit. Und genau das werde nun ich tun. Angesichts der heraufziehenden Bedrohung möchte ich meinen Kindern die Erlebnisse, Erkenntnisse und Bewahrungen meines Lebens niederschreiben, damit sie nie vergessen und immer fest daran halten, dass Gott es gut mit ihnen meint.

Die Müdigkeit ist verflogen. Entschlossen drehe ich mich zu meinem Schreibpult und schlage das dort abgelegte neue Buch auf. Ich mache es mir auf meinem Stuhl bequem und spitze meine Feder an. Die Worte wollen mit Bedacht gewählt sein. Ich schlage das Vorblatt auf.

Eine Weile schaue ich die leere erste Seite an. Ich schließe meine Augen, rufe mir das Heulen des Sturms, die Geräusche der alten Kate, die Gerüche und das ganze Leben vor fünfzig Jahren in Erinnerung. Und beginne schließlich zu schreiben.

„Meine Augen brannten vom Qualm des viel zu kleinen Feuers, mein Rücken schmerzte unerträglich von der gebückten Haltung, meine Füße fühlten sich halb erfroren an. Die Kälte zog unter der klapprigen Brettertür und durch alle Ritzen der einfachen Lehmflechtwände herein, die Luft war feucht, alles in dieser kleinen Hütte war klamm und eiskalt. Dampfend konnte ich meinen Atem vor meinem Mund sehen. Aber ich hatte keine Wahl. Wenn die Kinder und ich nicht verhungern sollten in diesem Winter, musste ich die ruhigen Nachtstunden nutzen. Wieder kniff ich die Augen zusammen und streckte meinen Rücken einmal durch, bevor ich erneut auf dem kleinen Hocker zusammen sackte und versuchte, weiter an dem Hemdkragen des Verwalters Brudenhusen mit feinsten Stichen eine Blütenranke zu sticken.

Das Peterle fing an zu wimmern, und ich sprang auf, damit er die anderen beiden nicht weckte. Hastig griff ich zu, denn fast wäre mir ein Ärmel des feinen Batisthemdes in die Asche des Herdfeuers gefallen, und das hätte ich nie wieder heraus waschen können. Dann legte ich das Hemd sorgfältig zurück in den Kasten zusammen mit dem Stickzeug, bevor ich zur Pritsche eilte und das Peterle aus seinem Wiegenkasten hob. Seine Augen waren geöffnet, er hatte schon beide Daumen im Mund und quietschte dabei höchst unzufrieden. Als er mich jedoch sah, streckte er mir seine winzigen Händchen entgegen und fing an zu schmatzen. Mit dem klammen, in Lumpen gewickelten Fuß schob ich den Hocker an die morsche Hüttenwand, damit ich mich wenigstens anlehnen konnte, während ich das Peterle anlegte.

Meine Gedanken wanderten. Das waren die Momente, wo ich am glücklichsten und am traurigsten war. Ich war so glücklich, dass ich selbst eine gute Kindheit hatte, dass ich etwas gelernt hatte, dass ich hier beim Bauern Adam gut behandelt und schließlich geheiratet worden war, dass ich seinen großen Sohn Jakob und meine beiden Kinder von ihm hatte. Sie waren und sind mein Leben.     ..."

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17.6.2020

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