Kapitel 6.1 - Die Ruine

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(Bild: Senga und Zack als Chibi by KareiKite)

71. Jir'Lore, 2145 n.n.O

Ohne Appetit hatte ich mich in die Schlange zum Buffet eingereiht. Und jetzt, wo ich dran war, konnte ich nur auf die schweren, tönernen Töpfe starren, in denen das Essen aufbewahrt wurde. Heute gab es Seemorcheln und Muscheln. Muscheln. Nicht gerade meine Lieblingsspeise. Doch nach dem Motto „Alles gehört allen" bekam ich natürlich auch genau das gleiche Essen, wie jeder andere im Schwarm. Blieb zu hoffen, dass es morgen irgendwas Leckereres gab.

Mechanisch streckte ich die Hand nach einem der Deckel aus und richtete ihn wieder, sodass er den Topf ordentlich abschloss. Nicht, dass da noch einige vorwitzige Fische auf die Idee kämen, unser Essen zu klauen. Sireks endlose Monologe über eben dieses Thema, wann immer ich in der Küche aushalf, hatten mich dafür sensibilisiert.

Doch ich konnte nicht ewig auf diese Töpfe starren. Schließlich warteten noch andere, die im Gegensatz zu mir vielleicht sogar Appetit auf Muscheln hatten. Also legte ich mir drei von diesen Seemorcheln und eine in mein „Speisenetz" und packte äußerst demotiviert noch eine Anstands-Muschel dazu, ehe ich den Deckel an Sina reichte, die hinter mir schwamm und sich ihr Speisenetz mit wesentlich mehr Leidenschaft füllte.

Einen Moment lang ließ ich den Blick über die ganzen Grüppchen schweifen, die hier gerade zu Abend aßen und suchte nach Varona. Wir hatten uns vorhin zum Essen verabredet und sie hatte mir erklären wollen, wie man Schnarchfischen spielt. Dann würde ich wohl noch einen Moment warten. Doch ehe ich mir einen Platz suchen konnte, zupfte etwas an meinem Speisenetz. Intuitiv zuckte ich zusammen und wollte eine wedelnde Bewegung mit der Hand machen, um aufdringliche Fische fortzuscheuchen, als meinen Fingerspitzen über Haut strichen. Jetzt erst sah ich richtig hin. Hinter mir schwamm Sirek und zwinkerte mir verschwörerisch zu, als er noch etwas in mein Speisenetz schob. Sofort hellte sich meine Miene auf und ich strich mit den meinen Fingern über den Handrücken des Flussbräutigams:>>Ist es das, was ich denke?<<, fragte ich begeistert.

Sirek nickte mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. >>Die gibt es morgen als Nachtisch. Ich dachte gerade, dass du so aussiehst, als könntest du schon heute welche brauchen.<<

Das konnte ich in der Tat. Immer. Ich liebte Sireks Algenbällchen. Eine Süßspeise, die der Koch auf der Insel herstellte, bei der eine Honig-Marmeladen-Irgendwas-Mischung zu kleinen Kugeln geformt und mit Algen umwickelt wurde. Dann kam um alles noch einmal eine spezielle Paste, die erst einmal getrocknet, wasserundurchlässig war. Alles im allem bestand das Endergebnis aus kleinen, süßen Kugeln, die man sich mit einem Haps in den Mund schmecken und zerkauen konnte. Mittlerweile war das zu meinem Lieblingsessen avanciert. Ich würde sie so gern einmal selbst herstellen, aber Sirek hütete das Rezept besser als Tote ihre Geheimnisse.

So bedankte ich mich mit einem breiten Lächeln und dem Versprechen, morgen früh, wieder bei der Essensausgabe zu helfen, als Sirek schon wieder davon wuselte, um die Tonkrüge nachzufüllen.

Wesentlich besser gelaunt wollte ich mir nun endlich einen Platz suchen und auf die noch immer abwesende Varona warten, als mir Zac und Achs auffielen, die Hand in Hand schwammen, anscheinend tief in ein Gespräch versunken. Irgendwie war das seltsam. Was tat Zac überhaupt hier? Musste er nicht in der Tischlerei arbeiten? An Land?

Dann schaute ich genauer hin. Obwohl Vater und Sohn mit ihren ausdruckslosen Gesichtern unbestreitbare Ähnlichkeit hatten, wirkten sie angespannt. Vielleicht war es die Art wie Achs zweite Hand sich plötzlich fest und widerspruchslos in Zacs Ellenbogen krallte. Oder, dass sie trotz ihres offensichtlichen Gesprächs beide angestrengt in unterschiedliche Richtungen blickten. Jedenfalls war ich mir sicher, dass es kein schönes Thema war.

Schließlich riss sich Zac mit einem Ruck los und schwamm davon. Mit einem kurzen Blick auf Achs, der seinem Sohn hinterher blickte, entschied ich mich spontan, Zac zu folgen. Im nächsten Moment bereute ich diese Entscheidung. Natürlich war ich auch mit Froschfüßen niemals so schnell wie ein Flussmensch im Wasser.

>>Zac!<<, rief ich ihm hinterher. >>Zacery! Warte doch!<<

Er stoppte tatsächlich. Überrascht stockte ich selbst. Irgendwie hatte ich nicht geglaubt, dass er wirklich warten würde, wenn ich ihn darum bat. Er schwamm sogar zurück. Wo er wohl eigentlich hin gewollt hatte? Als er seine Hand nach mir ausstreckte, zog ich hastig meine gedankliche Wand hoch.

>>Was?!<<, zischte er mir zu, als er mich berührte.

Oh-oh. Ich kannte diese Tonlage. Er war wütend, sehr sogar. Diesmal allerdings nicht auf mich. Er war neulich schon so aufgebracht gewesen – ob das noch immer der gleiche Grund war?

>>Ich- äh-<<, begann ich verdattert. Ich wusste ja selbst nicht genau, warum ich ihm nun gefolgt war. Also sagte ich das erste, was mir in den Sinn kam: >>Wollte meine Algenbällchen mit dir teilen. Ich glaub, du hattest noch keine?<< Die letzten Worte wurden immer leiser, während mir bewusst wurde, wie dumm es eigentlich klang. Dennoch hielt ich ihm das Netz mit der Nachspeise zögernd hin.

Ein ganz schwaches Lächeln zuckte durch meine Gedanken, als er auf das Essen in meiner Hand blickte. >>Danke.<<

Plötzlich geisterte das gedankliche Äquivalent zu einem Stirnrunzeln durch meinen Kopf. >>Warum hast du so viele?<<

>>Tja<<, machte ich und warf mir verwegen meine grünlich schimmernden Haare zurück. Da wir unter Wasser waren, schwammen sie mir direkt ins Gesicht, was den Effekt erheblich schmälerte. Doch ich tat trotzdem so, als könne das meiner Würde nichts anhaben. >>Ich habe Sirek halt um den Finger gewickelt.<<

Er schmunzelte. >>So. Hast du das?<<

>>Jepp. Um den Kleinen.<< Zur Demonstration hob ich eine Hand und wackelte mit meinem kleinem Finger.

Diesmal flutete sein Lachen durch meine Gedanken, auch wenn ich einen Teil seiner Wut noch immer spüren konnte. Aber es schien nicht mehr so allumfassend wie noch vor wenigen Augenblicken. >>Na dann sollte ich in Zukunft wohl immer dich schicken, um Nachtisch zu holen.<<

Ich warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. >>Ganz bestimmt nicht. Das ist mein Bonus. Den teile ich nicht mit dir. Da kannst du selbst zyklenlang in der Küche für schuften. Vielleicht hat Sirek dann erbarmen mit dir.<<

Er schüttelte den Kopf. Trotzdem spürte ich das kleine Grinsen in seinen Gedanken, als er meine Hand losließ. Doch diesmal war ich es, die hinterher griff und unsere Verbindung nicht abreißen ließ. >>Wo wolltest du eigentlich hin?<<

Ich spürte ein frustriertes Seufzten, das mich fast selbst Seufzten ließ. >>Zur Ruine. Bisschen allein sein.<<

Ich runzelte die Stirn. Er wollte allein sein. Ob ich ihn einfach zu dieser Ruine gehen lassen sollte? Sie sollte irgendwo knapp hinter der Mündung liegen, aber ich war noch nie dort gewesen, denn von der Meermündung hatte ich mich bisher möglichst fern gehalten. Das Salzwasser war einfach zu unangenehm.

Er sah mich an und ich spürte, wie etwas hinter seiner Wand vorging, doch welche Überlegungen das genau waren, wusste ich nicht. Also erwiderte ich seinen Blick einfach nur wortlos und fragte mich, ob ich es jetzt vielleicht übertrieb. Vielleicht störte ich ihn auch? Aber dann könnte er es auch sagen und-

>>Willst Du mitkommen?<<

Ich blinzelte überrascht. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit. >>Zur Ruine?<<, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach.

Er nickte langsam, während sein Lächeln durch unserer Gedankenverbindung geisterte. >>Vielleicht ist ein bisschen Gesellschaft doch nicht schlecht.<<

Intuitiv erwiderte ich sein Lächeln und nickte ebenfalls zaghaft. Die Ruine klang spannend. Hoffentlich war Varona nicht böse, dass ich sie versetzte.


Es dauerte nicht lange bis wir bei der Meermündung waren und uns Sina und Orell entgegenblickten. Zögernd hielt ich an. Als hätte Zac meine Verwunderung gespürt, griff er nach meiner Hand, während er den zwei zunickte. >>Keine Sorge. Wir haben hier immer Wachen.<<

>>Warum?<<, wunderte ich mich, während ich nicht umhin konnte, seine Hand auf meiner zu mustern. Umso länger sie dort lag, desto wärmer wurde meine Haut an diesem Punkt. In der allgegenwärtigen Kühle des Sees fühlte es sich fremd an, fast schon kribbelig.

>>Wegen den Meermenschen. Man weiß nie, wann diese Monster angreifen. Deshalb rotieren wir hier in Drei-Stunden-Schichten.<<

>>Aha<<, antwortete ich nichtssagend, als seine Hand wieder aus meiner herausglitt und seine Wärme mit sich nahm. Während ich ihm an den Wachen vorbei folgte, gingen mir seine Worte nicht aus dem Kopf. Meermenschen. Ich wusste noch immer kaum etwas von ihnen, denn keiner sprach freiwillig über sie. Als würden sie einfach verschwinden, wenn man ihre Existenz verleugnet. Doch sie lebten seit Jahrhunderten in den Meeren um Karather herum und ganz offensichtlich betrachtete der Schwarm sie als Feinde, Monster.

Dabei schienen sie den Flussmenschen gar nicht so unähnlich, nur dass sie eben im Meer lebten und dass Süßwasser für sie etwa genauso giftig war wie Salzwasser für uns. Doch anscheinend reichte diese natürliche Grenze nicht, um diese beiden Völker auseinanderzuhalten, denn hier im Brackwasser, einem küstentypischen Süß-Salzwasser-Gemisch gerieten sie immer wieder brutal aneinander.


Langsam bereute ich meine Entscheidung, mit ihm gegangen zu sein. Denn je weiter ich schwamm, desto schwerer wurde es. Obwohl Zac Rücksicht auf mich nahm und langsamer schwamm, machte mir der steigende Salzgehalt zu schaffen.

Erschöpft hielt ich an, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass es dadurch besser wurde. Die Strömung drückte mich zurück an Land und das Salzwasser juckte mir auf der Haut. Sogar das Atmen fiel mir schwer. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich glaubte sogar, dass meine Sicht schlechter wurde. Doch vielleicht war der Sand durch die Meeresströmung auch einfach nur aufgewühlter als bei uns im See.

>>Sind wir bald da?<<, fragte ich, als Zac zu mir zurückschwamm und mich besorgt am Ellenbogen fasste. Das Salzwasser tat auch ihm nicht gut – ich spürte sein Unbehagen deutlich durch unsere Gedankenverbindung. Irgendwie war das beruhigend.

>>Nur noch ein kleines Stück. Ich nehme dich mit, dann ist es leichter.<<

Ich zögerte. Schließlich schüttelte ich den Kopf und lächelte matt. >>Danke. Ich schaff das schon.<< Es war vielleicht albern, aber ich hatte damals nicht umsonst ausgehandelt, allein schwimmen zu dürfen. Das war meins. Das wollte ich nicht aufgeben.

>>Wie du meinst<<, hörte ich Zacs Stimme in meinem Kopf und spürte seine Skepsis. Trotzdem respektierte er meinen Wunsch, ließ mich los und schwamm langsam ein Stück versetzt vor mir, um mich durch seinen Körper wenigstens ein bisschen vor der stärker werdenden Meeresströmung zu schützen.

Endlich waren wir da. Ich wäre fast vorbei geschwommen, denn für mich sah es nur aus, wie ein weiterer, scharfkantiger Felsbrocken, der groß genug war, um noch ein gutes Stück aus dem Meer herauszuragen. Davon gab es hier viele, was die Seefahrt sicherlich nicht leichter machte. Schwimmen übrigens auch nicht, da die Strömungen zwischen den Felsen erheblich an Kraft und Druck aufbauten, sodass man nicht nur mit dem Salz, sondern auch mit dem Wasser zu kämpfen hatte. Innerlich seufzte ich – warum war ich noch mal mitgekommen? Plötzlich war Zac weg.

Ich blinzelte, um meine trübe Sicht zu klären. Erst dann sah ich das Loch, an dem ich ohne ihn einfach vorbei geschwommen wäre. Innerlich grummelnd schwamm ich darauf zu und tauchte in die Dunkelheit des Tunnels ein. Ein paar Meter weiter konnte ich nicht einmal die Hand vor Augen erkennen. Aber immerhin war hier keine drückende Strömung mehr, sodass ich mich an den Felsen entlangtasten konnte bis es heller wurde und ich die Wasseroberfläche durchbrach.

Während ich darauf achtete, dass meine Kiemen unter Wasser blieben (Salzwasser war wie die Luft neben einem Güllefeld, absolut ekelhaft aber besser als gar nicht zu atmen), sah ich mich fasziniert um.

So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Es war offensichtlich nur ein Vorraum. Er war leer, abgesehen von der obligatorischen Kiste für saubere Handtücher und trockene Kleidung, wie sie überall standen, wo ein offizieller „An-Land-geh"-Punkt der Flussmenschen war, sowie einem Gong mit dazugehörigen Schlägel. Wozu auch immer der gut sein mochte. Trotzdem war der Raum irgendwie eindrucksvoll. Die Wände waren alle abgerundet, sodass man das Gefühl hatte, in eine Art zersprungenem Ei zu stehen. Zersprungen, weil sich durch die Wände überall schmale, filigrane Risse zogen. Im ersten Augenblick hatte ich die Befürchtung, dass der Zahn der Zeit an diesem Raum genagt hatte. Doch dann schien draußen die Sonne durch die Wolken zu brechen. Plötzlich leuchteten alle Risse hell auf, zeichneten goldene Spuren an die Wände und der ganze Vorraum war taghell erleuchtet.

„Schön, nicht wahr?", fragte Zac und klang genauso fasziniert, wie ich mich fühlte. „Du musst das mal bei Sonneauf- oder -untergang sehen. Wenn dieser ganze Raum rot aufglüht, als stünde er in Flammen."

Ich nickte und setzte es auf meine lange Liste von Dingen, die ich mal machen wollte, gleich hinter „Papa einen Brief schreiben". Nur mit Mühe gelang es mir, mich von dem Anblick zu lösen und wieder zu Zac zu schauen. Er war nackt.

„Du Perverser!", schrie ich und tauchte entsetzt unter.

Ein paar Meter über mir streckte sich eine Hand ins Wasser und plötzlich hörte ich Zacs Stimme in meinem Kopf, als er mir etwas zurief. >>Senga – krieg dich ein. Ich war grad dabei mich umzuziehen!<<

Ich wusste gar nicht, dass es auch einfach reichte, eine Verbindung zum Wasser zu haben, um einen Ruf auszusenden, selbst wenn man ein Mensch war. Ob er mich auch hören konnte? Versuchsweise rief ich eine Antwort zurück: >>Dann mach das auch! Und sag Bescheid, wenn du fertig bist – nicht einen Augenblick früher!<<

>>Ja doch<<, antwortete er und zog seine Hand wieder aus dem Wasser. Flussmenschen und ihr gestörtes Verhältnis zu Scham, wirklich... Während ich innerlich grummelnd darauf wartete, dass Zac endlich fertig wurde, versuchte ich meine Verlegenheit und meine hitzigen Wangen in den Griff zu kriegen.

Als Zacs Hand erneut knapp unter der Oberfläche auftauchte, ging es wieder einigermaßen. >>Na komm!<<, rief er mir zu und ich schwamm langsam und misstrauisch zur Oberfläche. Immerhin war er trocken und hatte eine Hose an, während er mir auffordernd die Hand entgegen hielt.


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