Verzerrte Realität

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„100 Dollar – auf Cath", rief Melvin, winkte mit den Scheinen und schob einen halb nackten Kerl zur Seite, dessen hochgerissener Arm die Achsel in unmittelbarer Nähe zu seiner Nase freilegte. Es war scheinbar ein ungeschriebenes Gesetz, dass man hier unter der Stadt als Zuschauer seine Körperhygiene zu vernachlässigen hatte. Viele der meist männlichen Besucher hatten ihre Oberkörper teilweise oder komplett freigelegt, weil einem die stickige, schwülwarme Luft in den Katakomben den Schweiß aus den Poren trieb. Es gab angenehmere Arbeitsorte. Endlich quetschte er sich am letzten verschwitzten Körper vorbei und erreichte Boulder, um seinen Wetteinsatz abzugeben.

„Cath? Ist das die süße Zuckerschnecke da unten?", fragte ihn der Dicke verwundert und zog seine buschigen Augenbrauen hoch. „Warum steht sie überhaupt im Ring? Dafür ist die Kleine viel zu Schade. Wer weiß, ob der Gegner sie wirklich gleich tötet oder sich nicht zuerst mit ihr vergnügen will? Ich dachte, du wolltest antreten?"

„Ist nicht dein Problem, oder?" Zügig drückte er das Bündel aus abgegriffenen Scheinen in die Wurstfinger Boulders. „Bowlingball" wäre ein passenderer Name für ihn. Dessen schweißglänzende Glatze reichte ihm maximal bis an das Kinn, aber der fette Kerl wog locker das Doppelte von ihm. Eine Art weinroter Pyjama spannte sich über den ebenfalls kugelförmigen Bauch. Goldene Ketten mit dicken Gliedern und überdimensionale Armreife komplettierten das skurrile Bild eines persischen Paschas, der in das falsche Jahrhundert gerutscht war.

„Wie du meinst. Ist dein Geld – und deine Freundin –, was du verlierst. Wird kein schöner Anblick werden." Boulder warf nochmals einen Blick über die Balustrade in den Ring eine Etage tiefer, als wenn er sich versichern müsste, dass dort wirklich Cathrine stand und nicht er. Dann konsultierte er sein von Glasdiamanten eingehülltes Smartphone. „Die Quote steht 6:1 gegen sie. Bist du sicher?"

„Hör auf, mir zu predigen. Ziehst du mit oder nicht?"

„Alles klar. Leicht verdientes Geld für mich – hässlicher Anblick für dich. Aber hey, wer bin ich dir Ratschläge zu geben?"

„Eben." Damit wandte er sich von der fetten Schnecke ab und drängelte sich zur hüfthohen Brüstung durch.

Unter ihm breitete sich ein von drei Meter hohem Maschendrahtzaun umspannter Raubtierkäfig aus. Eventuell hatte der früher in einem Zirkus gestanden, bevor ihn jemand zweckentfremdete. Hunderte Leiber schwitzender, grölender Zuschauer drängten sich im Innenraum, viele mit freien Oberkörpern und deutlich sichtbarer Cybertechnik. Metallische Gliedmaßen, schlangenartige Muskelverstärker unter der Haut und kleine Boxen im Nacken, die das zentrale Nervensystem pimperten, waren keine Seltenheit – und höchst illegal, wie er inzwischen gelernt hatte.

Cathrine jedoch war die Attraktion. Sie stand bereits im Ring, sprang von einem Bein auf das andere, führte Luftschläge und Drehkicks aus. Bekleidet nur mit olivgrünem T-Shirt und Kakihose. Die Nervosität war ihr deutlich anzusehen. Er selbst hatte schon vier Kämpfe überstanden. Die Gegner waren schlecht ausgebildet, langsam und hatten vor allem keine Cyberimplantate. Am Ende hatte er sie am Leben gelassen und damit weniger verdient, als es mit einer blutigen Tötung möglich wäre. Viel war es nicht. Die 100 Dollar waren ihre gesamten Ersparnisse. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und nach jedem Kampf brauchte er ein paar Tage, um seine Blessuren auszukurieren. Heute wollte seine Kameradin es versuchen. Im Grunde machte er sich keine Sorgen. Seine bisherigen Gegner hätte sie vermutlich deutlich leichter ausgeknockt, wie er.

Wie sagte seine Freundin Lena doch immer: Er verlor selbst gegen einen Opa. Lena – und sein 2-jähriger Sohn Kim – die beiden waren weiterhin im Fake-Bunker gefangen und ihm fehlten die Mittel, um sie und die anderen zu befreien. Für dieses Ziel kämpften sie hier im wahrsten Sinne des Wortes. Anfeuerungsrufe und aufbrandender Applaus holten ihn ins Hier und Jetzt zurück. Cathrines Gegner trat in den Ring.

Oh ... Shit.

Der Kerl zeigte kein offen sichtbares Cybertech, wie es die Regeln wollten, aber es war ein Gigant. Geduckt schob er sich seitlich durch die Tür, da er ansonsten nicht hindurchpasste. Seine Kameradin überragte er locker um zwei Köpfe und jeder seiner knotigen Oberschenkel entsprach ihrem Taillenumfang. Was auch immer da irgendwelche kranken Wissenschaftler in dessen Gene gemixt hatten – Elefant, Bulle oder Nilpferd – fair war das nicht. Und die Wetten waren mit 6:1 massiv unterbewertet. 60:1 erschien ihm in diesem Augenblick angemessener. Das Pfeifen und gehässige Lachen der Gaffer am Ring machte deutlich, dass sie ähnlich dachten. Wie zum Teufel, sollte Cathrine diesen Muskelberg zu Fall bringen?

Ein gellendes Tröten verkündete den Beginn des Kampfes. Er würde so lange laufen, bis einer der Gegner eindeutig kampfunfähig war. Vorzugsweise tot mit viel Blut. Einen Ringrichter gab es nicht. Wozu auch? Alles, was sie im täglichen Nahkampftraining im Bunker verinnerlicht hatten, war erlaubt.

Es ging los.

Der Gigant machte es sich leicht und schritt stumpf auf Cathrine zu, um sie mit seinen Pranken zu zerquetschen. Geschickt tauchte sie unter seinen Armen durch und hämmerte mit den Fäusten in dessen Nierengegend. Genauso gut hätte sie auf einen Sandsack oder eine Betonmauer einschlagen können. Der Effekt wäre der gleiche und wurde mit Lachern des Publikums vergolten. Ein erstaunlich behänder Rückhandschlag des Riesen folgte und klatschte sie wie eine Fliege in das Gitter. Kopfschüttelnd rappelte sie sich auf. Welche Optionen hatte sie ohne Waffe? Kurz duckte sie sich unter dem nächsten Schwinger hinweg, sprang mit den Füßen voran und schlitterte zwischen seinen Beinen hindurch. Nicht, ohne ihre Fäuste mehrfach in die Weichteile zu zimmern und von hinten nochmals kräftig nachzutreten. Ein vielstimmiges „Uuuuhh" zeigte, dass die meisten Zuschauer männlich waren. Blieb zu hoffen, dass die irren Wissenschaftler beim Erschaffen dieses Frankensteins nicht zu kreativ gewesen waren.

Waren sie nicht.

Mit einem Grunzen, das bis zu ihm heraufscholl, kippte der Koloss wie in Zeitlupe nach vorne und schlug mit seinem Kopf ungebremst auf den harten Planken auf. Cathrine zögerte nicht, sprang auf seinen Rücken und drückte ihm mit einer Beinschere die Luft ab. Die Augen des Riesen schienen aus den Höhlen platzen zu wollen und sein Gesicht lief pink an. Sobald sein Körper der erschlaffte, ließ sie von ihm ab. Die Buhrufe des Publikums zeigten deutlich, dass sie für ihr Geld mehr Spektakel erwartet hatten. Aber Regeln, waren Regeln. Selbst in den finsteren Kellern der Shadows, in denen dieser Kampf ausgetragen wurde.

Melvin wandte sich ab, schlenderte zu Boulder rüber und hielt die Hand auf: „Hey, Chummer. Das macht dann 600."

„Das war unfair. Einfach zwischen die Beine ..." Murrend und nörgelnd zählte er die Scheine und drückte ihm einen flachen Stapel in die Handfläche. „Das nächste Mal wird sie keinen so leichten Gegner bekommen. Das kannst du mir glauben."

„Ist klar. Und das nächste Mal erwarte ich eine anständige Quote." Damit drängelte er sich grob durch die Menschentraube, die ihre Gewinne von der fetten Qualle abholen wollten. Offensichtlich war er doch nicht der Einzige, der auf Cathrine gesetzt hatte.

Während er ein Stockwerk tiefer aus den finsteren Treppenaufgang trat, löste eine Frau mit Rastalocken und halbrasierten Schädel die Kette an der Tür zum Ring, um seine Kameradin zu entlassen.

„Cathrine!" Er stürzte noch vorne und umarmte sie. „Das war klasse! Voll in die Kronjuwelen ..."

„Ja, ja." Sie schob ihn zu Seite, aber stützte sich auf seine Schulter. „Glaub mir, es gibt Angenehmeres. Was für ein stinkender Mutant. Hat ordentlich Wumms gehabt. Ein zweiter Treffer und er hätte ... was auch immer mit mir angestellt."

„Ist doch alles gut gegangen." Sie erklommen einige Treppenabsätze, auf denen sich undefinierbare Abfälle stapelten und traten auf eine finstere Gasse in den Shadows. „500 Dollars haben wir heute verdient."

„Na, toll. Die nächste Monatsmiete und Verpflegung."

„Ja, aber wenn wir erneut alles setzen ..."

„... und gewinnen, ohne vergewaltigt und danach getötet zu werden ..."

„... sieht es schon deutlich besser aus!"

Sie schaute ihn von der Seite an. „Mach dir keine Illusionen, Melvin. Jetzt haben die gesehen, was ich draufhabe. Die nächsten Gegner werden härter und die Quoten sinken. Das war nur ein Überraschungscoup. Bei deinem ersten Kampf war das genauso."

Langsam wanderten sie an den spärlich beleuchteten Schaufenstern hutzeliger Läden mit selbstgemalten Schildern wie „Wars ‚R' Us", „Leo's Bodypimp" und „Observe-me" entlang. Diese boten ihren Kunden gebrauchte Maschinenpistolen, verchromte Körperimplantate und illegale Überwachungstechnik. Die anderen Passanten in ihren langen Mänteln hielten ihre Köpfe betont gesenkt und würdigten sie keines Blickes. Niemand, der in den Shadows lebte, legte Wert darauf, mehr Aufmerksamkeit zu erregen als unbedingt erforderlich. Außer, Mann – oder Frau – war im Bereich körpernaher Dienstleistungen tätig. Friseure zum Beispiel.

„Hm ... vermutlich hast du recht", stimmte er ihr zu. „Wir brauchen Jobs, die uns deutlich mehr Kohle bringen, ansonsten erwischt es uns früher oder später und wir bekommen nie genug zusammen."

„Das Thema hatten wir schon. Aber jetzt benötige ich dringend eine Dusche und etwas von dieser Wundercreme gegen meine Prellungen. Einen zweiten Treffer hätte ich nicht überstanden. Wir können später diskutieren, wie wir weitermachen."

Kurz darauf betraten sie einen kaum schulterbreiten pechschwarzen Gang zwischen den Läden, der ihn an den Bunker erinnerte. Der beißende Gestank von Urin ließ ihn den Atem anhalten. Ein Graffiti beschmiertes Treppenhaus mit vergitterten Außenfenstern führte zu ihrer Wohnung im vierten Stock. Eigentlich war es nur eine Kammer mit feuchten Matratzen, Mikrowelle, Nasszelle und dem hier obligatorischen 3-D-Display, dass jedoch einen mit Sprung hatte. Ihr Domizil seit zwei Wochen, das sie mit dem Geld seiner ersten Kämpfe zahlten.

„Meta?", wandte er sich an den Fernseher. „Öffne die Bunkerstreams."

Dabei handelte es sich um Livesendungen, die das Leben im Fake-Bunker, in dem er 18 Jahre aufgewachsen war, aus diversen Perspektiven zeigten. Inzwischen hatte er kapiert, dass es in seiner ehemaligen Heimat praktisch in jedem Raum und jedem Korridor versteckte Kameras existierten.

Nachdem er mehrere schrillbunte Werbespots hatte über sich ergehen lassen, öffneten sich zwei Dutzend kleine Fenster, die optisch vor dem Gerät schwebten. Es gab diverse Live-Bilder, aber bei einigen handelte es sich um Zusammenfassungen des Tages. James Browdy, der Moderator und Produzent des Streams, präsentierte diese mit künstlich weißem Lächeln und launigen Sprüchen. Seine Redaktion erdachte dazu kurze Geschichten der einzelnen Bewohner, die dann häufig über mehrere Tage oder Wochen verfolgt wurden. Liebesdramen, Sex, Geburten, Streitigkeiten oder ihre militärische Ausbildung. Im Grunde nichts Besonderes, aber an den Kommentaren der Zuschauer war abzulesen, dass es diese emotional berührte. Wie dröge war deren eigenes Dasein, dass sie sich stundenlang als heimliche Voyeure am Alltagsleben der Eingesperrten aufgeilten?

In den ersten Tagen waren ihre Flucht, die das Publikum ebenfalls live verfolgt hatte, sowie der Tod des Schauspielers Henry McMalcom die dominierenden Themen. Noch immer hatte er deswegen Gewissensbisse. Er hatte den Mann nicht töten wollen. Zum Glück verschwand das jedoch im ewigen Strudel der Nachrichten. So, wie sie selbst in den finsteren Schatten dieses Molochs mit seinen 20 Millionen Einwohnern, der sich ironischerweise „Emerald" nannte. Grünes oder Glänzendes suchte man hier vergeblich. In den Shadows interessierte sich niemand für ihre Identität oder Vorgeschichte.

Mit Wischgesten sprang er durch die Live-Streams. Es war bereits später Abend. Aber trotzdem hoffte er wie jeden Tag darauf, einen Blick auf seinen Sohn Kim oder Lena zu erhaschen, die dort weiterhin gefangen waren. Einmal hatte er die beiden morgens für einige Minuten beobachten können, als deine Freundin den Kleinen im Erziehungstrakt abgab. Bilder aus ihrem privaten Raum, den sie sicherlich noch bewohnten, gab es leider nicht.

„Und?", fragte Cathrine von hinten und ließ ihn zusammenzucken, so versunken war er in seine Suche. „Irgendwas Spannendes?"

Sich umdrehend schaute er ihr zu, wie sie in ein kurzes Handtuch gehüllt ihre wallenden Locken trocknete. Ihre weiblichen Proportionen und die tiefbraunen Augen hielten seinen Blick gefangen. Seine große Liebe und sein Sohn hockten jedoch eingesperrt, nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt, in ihrem Betonkerker.

„Was ist?", fragte sie, als er sie länger anschaute und kein Wort sprach.

„Ähm ... nichts. Entschuldige, ich war in Gedanken. Im Bunkerleben scheint unsere Aktion nichts bewirkt zu haben." Dabei hatte er inständig gehofft, durch ihre dramatische Flucht eine Revolution auszulösen, sodass die Einwohner gegen die Bunkerführung aufbegehrten und sich selbst befreiten. „Um nochmals auf das Thema Geld und die Kämpfe zurückzukommen ..."

„MELVIN!", rief sie und deutete hinter ihm auf den Fernseher. „Halte den Stream sofort an!"

Rasch drehte er sich um und stoppte die Live-Ansicht mit einem Wisch. Was er sah, jagte ihm einen eisigen Speer durch die Eingeweide. Es war Lena, die in ihrer privaten Kammer einen vergnügt lachenden Kim auf dem Arm hielt.

Neben ihr im Bild stand ein glücklich grinsender Mann – er selbst.

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