Kapitel 9

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Der Raum war kalt. Zwei erhitzte Leiber pressten sich aneinander, die Haut schweißnass. Walter stöhnte, als er sich in Hannah ergoss. Sein warmer Körper lag halb auf ihr, Verlangen glomm in seinen braunen Augen. Dasselbe Verlangen, das sie selbst verspürte. Sie schloss die Augen und ließ sich treiben.

Später wickelte sie sich in das dünne Laken. Erschöpft, aber zufrieden beobachtete sie Walter, der sich gerade ankleidete. Er schenkte ihr ein herausforderndes Lächeln, das sie erwiderte.

Obwohl sie den Baron anfangs nicht hatte leiden können, war sie sofort von ihm angezogen gewesen. Dass sie keine Adelige war, kümmerte ihn nicht und da sie beide Menschen waren, die für gewöhnlich ihren Willen durchsetzten, hatte es nicht lange gedauert und sie waren miteinander im Bett gelandet.

Sie waren kein offizielles Paar, ihre Beziehung war auf rein körperlicher Ebene. Natürlich gab es Gerüchte. Aufmerksame Beobachter hatten bemerkt, dass der Baron auffallend oft bei Hannah zu Gast war. Andere hätten sich vielleicht geschämt und sich um Heimlichtuerei bemüht, aber Hannah hatte sich noch nie dafür interessiert, was die Leute von ihr dachten. Aus diesem Grund wäre sie früher oder später auf dem Scheiterhaufen gelandet, als die Jünger Lessamms Merin unter ihrer Kontrolle hatten. Nur ihr Bruder Ander, der bei allen beliebt war, hatte die Menschen von einer offenen Denunziation abgehalten.

Hannah wäre vorsichtiger geworden, wenn sie etwas auf den Klatsch gegeben hätte. Sie wurde zwar von den meisten respektiert und gab dem Großteil der Meriner Halt, aber einige neidige Stimmen behaupteten, sie hätte den Baron verhext.

Walter knöpfte sich die Weste zu. „Willst du nicht auch aufstehen?", fragte er. „Heute wird der Streit zwischen dieser Bauersfrau und der Frau des Tuchhändlers behandelt."

Hannah seufzte. „Ich verstehe den Grund dieser elenden Auseinandersetzung nicht einmal. Begreifen sie denn nicht, dass wir uns im Krieg befinden? Ihre Männer sind ausgezogen, um zu sterben! Und sie zanken sich darum, ob der alte Ziegenbock von Erna die Stoffballen von Amanda gefressen hat. Das ist doch vollkommen irrelevant. Nächstes Jahr gibt's niemanden mehr, der ihre Stoffballen kaufen könnte. Außer Acerianer und sie kann sich darauf verlassen, dass sie dann sicher nicht die Verkäuferin sein wird."

Walter flocht sich seine Haare zu einem Zopf. „Du darfst nicht so hart über sie urteilen. Sie versuchen, das Beste aus dieser Situation zu machen."

„Das Beste wäre, sich nicht wie Kleinkinder zu streiten, sondern zusammenzuhalten und diese vermaledeiten Acerianer aus unserem Land zu jagen und anschließend genauso mit den Oberen zu verfahren. Aber die Seylaner sind viel zu kleinkariert, als dass sie das begreifen würden."

Hannah fuhr sich mit den Finger durch ihre wilde rote Mähne. Es war ihr gleich, dass ihr das Laken hinabgerutscht war und Walter nun begierig auf ihren nackten Oberkörper starrte. Andere Dinge spukten ihr im Kopf herum.

„Das solltest du nicht mir sagen, sondern den beiden Merinern", meinte Walter. Er streifte sich seinen eleganten Brokatmantel über. Er war von einem dunklen Rot und erinnerte Hannah stets an geronnenes Blut. Sie betrachteten den schlanken Mann und versuchte seinen Anblick mit dem Bildnis seines Vaters in Einklang zu bringen. Sie hatte den Widerling nur einmal gesehen und sofort Abneigung verspürt. Die wulstigen Lippen und der fette Leib waren ihr in lebhafter Erinnerung geblieben. Walter jedoch besaß kein Gramm überschüssiges Fett.

„Würdest du kämpfen?", fragte Hannah unvermittelt.

Walter, der gerade seinen Mantel zuknöpfte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Wie meinst du das?", fragte er vorsichtig.

„Würdest du für Seyl kämpfen?"

„Ich...", er zögerte. „Ich wurde von den Oberen als Stadtvorsteher eingesetzt. Es ist nicht meine Aufgabe zu kämpfen."

Obwohl sich Walter ehrlich bemühte und gewisses Geschick an den Tag legte, konnte er Ander nicht ersetzen und das wusste er. So zuckte er nicht mit der Wimper, als Hannah ihm dies sagte.

„Die Oberen haben nun einmal so entschieden."

„Du bist also ein Feigling."

Jetzt war er zornig. Eine steile Falte tauchte zwischen seinen dicken Brauen auf. „Ich bin kein Feigling. Ich habe nicht so verfügt."
Hannah richtete sich auf. Nackt stand sie ihm gegenüber. „Gib doch zu, dass du darüber froh bist. Denn im Gegensatz zu meinem Bruder und den anderen Männern dieser Stadt wirst du nicht sterben."

„Müssen wir das jetzt ausdiskutieren?"

„Ja." Es war ihr gleich, dass sie Walter damit möglicherweise von sich stoßen würde. Es würde ihm einiges erleichtern. Sie hatte seinen Blick bemerkt. Die Zuneigung, die darin nach nicht allzu langer Zeit aufgeglommen war. Er durfte sie nicht lieben. Das würde alles verkomplizieren.

Er presste die Kiefer aneinander, während er sichtlich mit sich rang. Schließlich sackten seine Schultern unmerklich nach vorne und sie wusste, dass sie gewonnen hatte. „Also schön. Aber bitte zieh dir was an."

„Gefällt dir etwa nicht, was du siehst?", reizte sie ihn.

„Doch", brummte er. „Aber es ist kalt und du wirst noch krank."
Das brachte sie zum Lachen. „Du machst dir Sorgen um meine Gesundheit?"

„Darf ich etwa nicht?", knurrte Walter.

Hannah streifte sich ihr Kleid über, das in einem unförmigen Haufen auf dem Boden neben dem Bett lag. Sie strich es glatt und schnürte ihr Mieder. Lasziv schlüpfte sie in ihre Strümpfe, wohlwissend, dass Walter sie beobachtete.

„Ja", sagte er schließlich. „Ich bin froh, dass ich nicht kämpfen muss. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich diesen Krieg überlebe. Was glaubst du passiert, wenn Acerum erst einmal gewonnen hat? Diese Nordländer sind nicht für ihre Gnade bekannt. Sie werden sämtliche frei gewordenen Posten besetzen und wie diese frei werden, muss ich dir nicht erklären. Das hast du längst selbst begriffen. Ich bin so und so ein toter Mann."

Hannah schwieg für einen Moment. Die Morgensonne fiel durch einen schmalen Spalt zwischen den beiden beigen Vorhängen und schien ihr ins Gesicht. Ihre Nase kitzelte und sie musste niesen.

„Ich sagte doch, dass es zu kalt ist."

„Das hat nichts damit zu tun", erwiderte Hannah verschnupft. Sie wusste, dass Walter mit allem recht hatte. „Aber dann könntest du erst recht kämpfen. Was hast du zu verlieren?"

„Rotlöckchen, manchmal bist du echt schwer von Begriff." Sie verzog den Mund bei dem Spitznamen, den er ihr verpasst hatte. „Ich weiß, dass du verärgert bist, weil dein Bruder kämpfen muss und ich nicht. Mir ist bewusst, dass es nicht gerecht ist. Aber es war nie meine Entscheidung. Ich weiß, dass du eine Kämpferin bist. Du nimmst Ungerechtigkeiten nicht einfach hin. Aber der Gegner, den du dir gesucht hast, ist unmöglich zu besiegen. Willst du bei den Oberen vorstellig werden und von ihnen fordern, sämtliche Adelige ebenfalls in den Krieg zu schicken?" Er fing ihren Blick auf und erstarrte. „Das ist nicht dein Ernst."

„Natürlich nicht", entgegnete Hannah verärgert. „Ich weiß selbst, dass das keinen Sinn hat. So dumm bin ich nun auch wieder nicht."

„Du bist nicht dumm. Nur manchmal etwas vorschnell."

Hannah schüttelte den Kopf und setzte sich an die Bettkante. Walter nahm neben ihr Platz. „Ich würde kämpfen, denn ich bin kein Feigling. Aber ich bin ein Egoist. Ich möchte mein Leben so lange wie möglich auskosten. Ich möchte so lange wie möglich an deiner Seite sein." Seine Stimme wurde weicher, fast flehend. „Nimm mir das nicht übel."

Er nahm ihre Hand und drückte sie. Hannah konnte kaum fassten, dass sie tatsächlich Zuneigung einem Adeligen gegenüber empfand. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie geglaubt, Alastair Verdun sei der einzige Blaublütige, der anständig war. Dann hatte sie Alyn kennengelernt und nun saß Walter neben ihr. Vielleicht war sie voreilig gewesen, alle Adeligen über einen Kamm zu scheren. „Würdest du kämpfen, wenn ich dich darum bäte?"

Verdutzt zuckte Walter zurück. Sein Griff löste sich von ihr. „Warum solltest du das verlangen?"

„Mein Bruder ist dort draußen. Er ist kein Kämpfer. Er ist zu gutmütig. Er..." Ihre Stimme brach. Er würde die erste Schlacht nicht überleben.

„Wenn du darauf bestehst, dass ich ihn beschütze, würde ich es tun", erklärte Walter entschlossen. „Wenn ich dich andernfalls verlieren würde, dann wäre ich bereit dieses Opfer zu bringen. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Eher würde ich sterben."

Hannah errötete, dann setzte sie sich auf Walters Schoß und nahm sein Gesicht in ihre von der Arbeit aufgerauten Hände. „Das würde ich niemals verlangen. Keine Frau würde so etwas verlangen."

Begierig presste sie ihre Lippen auf die seinen und er erwiderte ihren Kuss mit derselben Intensität. Leicht atemlos löste sie sich von ihm. Er machte es ihr so schwer. Sie gestattete es sich für einen Moment in seinen Augen zu versinken, ehe sie sich abwandte und wieder erhob. Sie strich ihr Kleid glatt und mied seinen Blick. „Du solltest gehen", sagte sie leise.

Sie konnte spüren, wie er hinter sie trat. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Obwohl der Stoff ihres Kleides eine direkte Berührung verhinderte, wusste sie, dass seine Hand ebenso rau war wie die ihre. Er mochte vielleicht ein Adelsspross sein, aber sein Vater hatte ihn arbeiten lassen. Der alte Baron hatte Frauen geliebt. Seine eigene Gemahlin jedoch weniger und ihren gemeinsamen Sohn hatte er am liebsten weit weg gewusst. „Was ist los?", fragte Walter.

„Nichts", behauptete Hannah. Sie zwang sich, ihn anzusehen und versuchte dabei nicht zu schuldbewusst zu wirken. „Ich habe gerade eben an deinen Vater gedacht." Es war keine Lüge, aber nicht die ganze Wahrheit.

Er runzelte die Stirn. „Ich bin nicht er."

„Nein, das bist du nicht." Wie hätte sie das jemals annehmen können. Er war so anders. Obwohl er sicher nicht an einem Mangel an Selbstbewusstsein litt, hatte er sich ihr fast vorsichtig angenähert. Sie war es gewesen, die die Initiative ergriffen hatte und er war ihrer Einladung nur allzu bereitwillig gefolgt. Aber niemals gegen ihren Willen. „Ich bin heute nicht in der Stimmung für diese Zankereien. Ich habe Kopfweh." Eine Lüge, aber eine notwendige.

„Soll ich dir etwas vom Apotheker mitbringen?"

„Nein danke. Ich werde mich etwas hinlegen und danach wird es mir sicher besser gehen."

Er war nicht überzeugt, wusste aber, dass er in einer Diskussion gegen sie niemals gewinnen könnte.

Er stapfte zur Tür.

„Warte."

Walter drehte sich um, erwartungsvoll.

„Danke", sagte Hannah, weil sie ihn so nicht ziehen lassen konnte.

„Wofür?", fragte er irritiert.

„Für alles", antwortete Hannah.

„Warum bist du heute so merkwürdig?"

„Manchmal ist eine Frau eben merkwürdig." Sie konnte sehen, wie er versuchte, ihre kryptische Aussage zu enträtseln. Sie würde ihn nicht aufklären. Bei den Göttern, sie wünschte sich einfach, dass er verschwinden und sie nicht länger mit seinen braunen Augen ansehen würde.

Tatsächlich wandte er sich ab. „Wir sehen uns heute Abend?", fragte er und konnte einen hoffnungsvollen Ton nicht unterdrücken.

Hannah zögerte. „Nach einem ganzen Tag in Gesellschaft dieser habgierigen alten Schachtel brauchst du abends deine Ruhe. Und jetzt geh, Amanda ist nicht gerade für ihre Geduld bekannt."

Entschlossen erhob sich Hannah und schob Walter aus dem Zimmer. Sie presste sich gegen die Tür. Erschöpft ließ sie sich gegen das alte Holz sinken.

Sie ignorierte sein Klopfen und seine Fragen. Irgendwann entfernten sich seine Schritte. Langsam und zögerlich verklangen sie. Hannah barg ihr Gesicht in den Händen. Für einen Moment verharrte sie so. Jetzt, wo die Zeit gekommen war, zauderte sie.

Sie musste an Rosena denken. Die Tochter des ehemaligen Stadtvorstehers hatte sich entschieden, mit Senn zu gehen. Trotz ihrer Ängste war sie mit einem gesuchten Mörder losgezogen, in der Hoffnung, Seyl so zu befreien.

Hanna besaß keine besonderen Kräfte. Sie war nur eine einfache Brauerin von Tränken der verschiedenster Art. Von tödlichen Giften bis hin zu Parfüms. Sie konnte Seyl nicht retten. Aber ihren Bruder.

Sie erhob sich, stützte sich schwer auf ihre Knie. Sie zitterten.

Noch konnte sie umkehren. Niemand wusste von ihrem Plan. Sie konnte einfach weitermachen. Sie konnte mit Walter eine glückliche Zeit verbringen. Merin führen.

Vielleicht würde es den Edelsteinen gelingen, das Land zu retten. Sie verbot sich zu zweifeln. Vielleicht würde sie Walter sogar heiraten können. Auch wenn er ein Baron war und sie eine einfache Händlerstochter.

Aber sie konnte nicht.

Jeden Tag erblickte sie Celias langsam, aber stetig wachsenden Bauch. Die junge Frau konnte ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen.

Hannah verließ den Raum. Er war unbenutzt. Sie wollte nicht, dass Walter sah, was sie in ihrer Freizeit trieb. Die vielen Tränke und Kräuter ließen ihr Zimmer wie eine Hexenküche erscheinen. So war die Tür hinein stets fest verschlossen. Der junge Baron akzeptierte ihre Geheimniskrämerei. Er forderte nicht, wie es sonst vielleicht seine Art war.

Statt sich jedoch in ihr eigenes Zimmer zu begeben, betrat Hannah das Arbeitszimmer ihres Bruders. Leichter Staub hatte sich auf den Regalen und dem Schreibtisch angesammelt. Seit er zum Stadtvorsteher bestimmt worden war, hatte er zumeist im Rathaus gearbeitet, sich jedoch wann immer es möglich war in seinem eigenen Haus um seine Pflichten gekümmert.

Doch seitdem war einiges an Zeit vergangen. Hannah nahm auf dem bequemen Sessel Platz. Sie öffnete eine Schublade und nahm einige Blätter heraus. Dann öffnete sie das Tintenfässchen und tunkte die Feder ein. Sie dachte an die vielen Seylaner, die nicht schreiben konnten. Alastair hatte es ihr einst beigebracht. Sie verdankte diesem Mann so viel.

Behutsam setzte sie die Feder an und begann zu schreiben. Sie verfasste mehrere Briefe. Manchmal zögerte sie und die Tinte hinterließ einen unschönen Klecks. Manchmal strich sie ein unpassendes Wort durch, manchmal auch ganze Sätze.

Sie hätte sich vorher überlegen sollen, was sie schreiben wollte.

Schlussendlich versiegelte sie vier Briefe mit rotem Wachs. Sie ließ sie auf dem Schreibtisch liegen. Ein letztes Mal strich sie über die raue Oberfläche des Tisches, betrachtete die Regale voll mit alten Büchern, Folianten und Dokumenten. Sie ließ ihren Blick auf dem hohen Krug ruhen, in dem viele alte Karten steckten. Das Vermächtnis ihres Vaters.

Ob er sie in diesem Moment beobachtete?

Die Sonne war weiter gewandert, nun fiel ihr Schein geradewegs in das nach Süden ausgerichtete Arbeitszimmer und kitzelte erneut ihre Nase. Hannah schloss die Augen und genoss die leichte Wärme.

Wie konnte nur so schönes Wetter sein, wenn im Westen Menschen im Kampf starben? Sollte der Himmel nicht weinen?

Mit einem letzten Blick zurück verließ sie das Arbeitszimmer und betrat ihr eigenes Zimmer. Fast nachlässig wanderten ihre Hände über die vielen Flakons und Fläschchen. Sie hatte sie nicht versteckt. Das hatte sie nicht einmal getan, als die Jünger Lessamms viele Frauen der Stadt als Hexen verbrannt hatten. Sie schämte sich nicht für das, was sie war. Mit ihrem Talent für Tränke hatte sie schon einigen Menschen das Leben gerettet und auch wenn sie dazu in der Lage wäre, noch niemandem den Tod gebracht. Vorsichtig umwickelte sie drei kleine Fläschchen mit einem dicken Stofftuch. Dann verstaute Hannah sie in ihrer Ledertasche. Sie hatte diese extra nach ihren Angaben anfertigen lassen. Das Ganze war nicht billig gewesen, das Ergebnis ihren Zwecken jedoch dienlich. Die Tasche besaß einige Fächer, die dazu dienten, die zerbrechlichen Glasflaschen zu verstauen, sodass diese nicht so leicht zerbrechen würden.

Danach wanderten noch ein einfaches Paar Hosen und ein schlichtes Hemd hinein. Hannah streifte sich ihr Kleid ab und schlüpfte in Männerkleidung, die sie aus dem Schrank ihres Bruders genommen hatte. Er war etwas größer, sodass sie die Hosenbeine und Ärmel umkrempeln musste, aber sonst passten ihr die Sachen gut genug.

Sie verschloss ihr Zimmer mit einem Anfall von Bedauern. Langsam stieg sie die hölzernen Stufen der alten Treppe hinab. Sie erinnerte sich, wie Ander bei einem der zahlreichen Fangenspiele in ihrer Kindheit hinabgestürzt war und sich dabei einen Milchzahn ausgeschlagen hatte. Eine der Treppenstufen hatte seitdem eine winzige Kerbe.

In der Küche packte Hannah noch einige Vorräte. In ihrem Haus gab es nicht mehr viel zu Essen. Lebensmittel waren in diesen Zeiten teuer geworden.

Schließlich trat sie nach draußen in den schönen Frühlingstag.

Sie durchquerte den Innenhof und betrat den Stall, wo ihre alte Stute stand. Für harte Arbeit war das Tier nicht mehr geeignet, aber sie würde Hannah tragen. Sie bürstete das Pferd und sattelte es schließlich. Dann führte sie es aus dem Stall.

Die Straße war wie leergefegt. Sicher waren alle Meriner, die noch in der Stadt verweilten, bei der Anhörung. Sie konnte den alten Hund der Bäckersfrau bellen hören. Wie lange würde es dauern, bis irgendjemand auf die Idee kam, ihn zu verspeisen?

Sie versuchte diesen trüben Gedanken zu vertreiben, aber er setzte sich in ihrem Kopf fest. So begann sie, nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, die Pflastersteine zu zählen. Es war ein unsinniger Versuch, denn der Weg war so schlammig und voll von Fäkalien, dass die Steine nur stellenweise zu sehen waren.

Trotz allem schien Merin heute zu glänzen. Die Sonne brach sich in den dreckigen Fensterscheiben, die wenigen Blumen auf den vereinzelten Balkonen blühten bereits und der Gestank war heute nicht so schlimm wie an anderen Tagen. Vielleicht täuschte sich Hannah auch und sie war es, die alles anders empfand.

Tatsächlich schallten ihr aufgeregte Stimmen aus der Stadthalle entgegen. Die Meriner brauchten etwas, womit sie sich ablenken konnten, sodass eine Banalität, die sonst nur mit gutmütigen Schnauben und einer kleinen Schelte abgehakt wurde, zu einem Ereignis aufgeblasen worden war.

Leise öffnete Hannah die Türen zur Stadthalle. Sie konnte kaum über die Köpfe der vielen Frauen hinwegsehen, aber Walters Stimme drang an ihr Ohr.

Sie ließ ihre Tasche vorsichtig zu Boden gleiten, dann packte sie mit beiden Händen einen der Türflügel. Das dunkle Holz war stellenweise gesplittert und etwas weiter unten so ausgehöhlt, dass Hannah ihren Fuß hineinstellen konnte.

Sie stemmte sich in die Höhe und wandte den Kopf. Jetzt konnte sie den Baron sehen, der am anderen Ende der Halle am Richtpult stand. Merin hatte zwar einen eigenen Richter gehabt, aber auch dieser war eingezogen worden. Es hatte geheißen, Walter sei durchaus in der Lage, närrisches Gezanke unter missgünstigen Frauen zu schlichten, auch wenn er nicht sämtliche Gesetze Seyls auswendig kannte.

Vor ihm standen zwei Frauen. Eine von ihnen hatte ihr graues Haar streng nach hinten gekämmt und in einem Knoten hochgesteckt. Sie wirkte verbissen. Bei ihr handelte es sich um die Tuchhändlerin Amanda. Die andere Frau war Erna. Sie war etwas kleiner und jünger als die Händlerin, aber nicht minder verärgert. Gerade keiften sich die beiden Frauen an und Hannah musste zugeben, dass der Hauptmann recht behalten hatte. Es war närrisches Gezanke und auch wenn Walter gerade überfordert schien, wusste Hannah doch, dass er am Ende den Streit schlichten würde. Er brauchte sie nicht wirklich, auch wenn es mit ihr an seiner Seite deutlich schneller gegangen wäre.

Hannah betrachtete den Baron versonnen. Er war kein attraktiver Mann, nicht so wie Senn es gewesen war, aber er war nicht hässlich und seinen Bewegungen haftete eine Entschlossenheit an. Gerade strich er sich nachdenklich über das glattrasierte Kinn. Er bemerkte sie nicht und das war gut so. Er wäre ihr gefolgt und hätte ihre Entschlossenheit auf die Probe gestellt.

Vorsichtig kletterte Hannah wieder nach unten und kam leise auf dem harten Boden auf. Sie schulterte ihre Tasche und verschloss die Türen wieder.

Eine Frau in der letzten Reihe wandte ihren Kopf und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann schloss sich der Spalt und das Stimmengewirr wurde gedämpft.

Hannah atmete tief durch.

Bevor sie aufstieg, machte sie noch einen kurzen Abstecher zu den Kerkern, die derzeit unbenutzt waren.

Dann saß sie auf die Stute auf und in einem langsamen Schritt machte sie sich auf den Weg.


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