4 - Sandbälle für den Ehrengast

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Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie verrückt ist es, sich Irgendwo im Nirgendwo verirrt zu haben und in den Armen einer riesigen Plüschtierkrake mit Glitzeraugen zu liegen?

Richtig: Mindestens eine zwölf!

Nichtsdestotrotz muss ich zugeben, dass mir Mister Krakenstein Sicherheit spendet. Seine Nähe löst etwas Vertrautes in mir aus. Etwas Warmes. Etwas Schönes. Etwas, das ich vermisse.

„Frankie?" Der Oktopus stupst mich vorsichtig auf der Schulter an. „Geht es dir schon besser?"

Ich nicke. Zwar bin ich immer noch überfordert, aber wenigstens hat die Angst nachgelassen.

„Sehr gut." Mister Krakenstein lächelt mich erleichtert an. „Was hältst du davon, wenn ich dir die anderen vorstelle?"

„Die anderen?", wiederhole ich überrascht. Nur eine Sekunde später schweift mein Blick über den Strand, aber abgesehen von den vielen, bunten Gegenständen kann ich keine Menschen und auch keine lebendigen Kuscheltiere ausmachen. Mister Krakenstein und ich sind die Einzigen an diesem sonderbaren Ort.

„Es gibt noch mehr verlorene Schätze auf der Insel", behauptet der Oktopus nun. „Komm mit!"

Es sieht lustig aus, wie sich Mister Krakenstein mit seinen acht Tentakeln aus dem Sand hievt. Ganz der Gentleman hilft er mir beim Aufstehen und klopft sogar die kleinen, weißen Körner von meinem Kleid.

Kein Wunder, warum er damals mein Lieblingskuscheltier war.

„Eigentlich ist noch eine halbe Stunde Mittagsschlaf", erklärt er mir, „aber so lange kann ich nicht mehr warten. Die anderen sollen auch wissen, dass du hier bist." Im Einklang mit seinen Worten setzt sich Mister Krakenstein in Bewegung und steuert geradewegs die vielen Gegenstände an, die im Sand liegen.

Was hat er bloß vor? Unsicher folge ich ihm.

Der Oktopus watschelt so lange durch den lauwarmen Sand, bis er irgendwann vor einem Megafon stehenbleibt und es vorsichtig aufhebt. „Tut mir leid, Larry-Laut, aber ich muss mal kurz deine besonderen Schrei-Fähigkeiten in Anspruch nehmen."

Noch bevor ich Mister Krakenstein fragen kann, warum er mit dem Megafon spricht, erwacht es zum Leben. Arme und Beine wachsen plötzlich aus dem Lautsprecher und auf der weißen Oberfläche formt sich ein Gesicht mit Augen, Nase und Mund.

„Oh mein Gott!", entflieht es mir schockiert. Vor lauter Überforderung stolpere ich ein paar Schritte rückwärts und lande mal wieder auf meinem Allerwertesten.

„Ist alles okay?", erkundigt sich Mister Krakenstein sofort bei mir.

„N-Nein", stammele ich. „Das ... Das Megafon ... Es ... Es sieht so lebendig aus."

Mister Krakenstein folgt meinem Blick und betrachtet den weißen Krachmacher in seinen Tentakeln. „Oh, das ist Larry-Laut", erklärt er mir lächelnd. „Du musst aber keine Angst vor ihm haben, Frankie. Er ist total lieb."

Als würde ihm das Megafon widersprechen wollen, schnaubt es einmal spöttisch. Dann erwidert es: „Zumindest zu den Sachen, die ich mag." Der abschätzige Tonfall lässt vermuten, dass ich nicht dazuzähle. Na super ...

Obwohl mein Herz viel zu schnell gegen meinen Brustkorb poltert und ich erneut an meinem gesunden Menschenverstand zweifele, rappele ich mich ächzend vom Boden auf und stelle mich neben Mister Krakenstein. Einfach, weil er mir das Gefühl von Sicherheit vermittelt.

Dass mich Larry-Laut währenddessen mit einem vernichtenden Blick verfolgt, versuche ich zu ignorieren.

„Bereit, die anderen, verlorenen Schätze kennenzulernen?" Der Oktopus stupst mich aufmunternd mit seinem Tentakel an.

Da ich ihn nicht enttäuschen möchte, nicke ich notgedrungen. Nicht sicher, was mich in den nächsten Minuten erwarten wird.

Mister Krakenstein schenkt mir noch ein letztes Mal sein breites Plüschtier-Grinsen, ehe er einen roten Knopf am Megafon betätigt, Larry-Laut zu seinen Lippen führt und dann mit kräftiger, selbstbewusster Stimme schreit: „Aufwachen! Der Mittagsschlaf ist zu Ende!"

Abgesehen von einer Gänsehaut, die sich wegen der Lautstärke auf meinen Extremitäten bildet, passiert nichts.

„Kommt schon, Leute!", versucht Mister Krakenstein es nochmal. „Wir haben einen Ehrengast zu Besuch!"

Tatsächlich beginnt sich nun etwas zu verändern.

Die vielen Gegenstände, die im Sand liegen, bewegen sich. Genauso wie Larry-Laut es getan hat, strecken sie ihre Arme und Beine von sich und erhalten Gesichter, die entweder verschlafen oder mürrisch dreinblicken.

„Heiliger Kuhmist!", entwischt es mir bei diesem absurden Anblick.

All die Gegenstände sehen nun lebendig aus. Als hätten sie eine eigene Persönlichkeit. Und als hätte ihnen jemand Leben eingehaucht.

Wie zum Teufel ist das bloß möglich? Ob diese Insel vielleicht verflucht ist?

Am liebsten würde ich panisch davonlaufen, um schnellstmöglich nach einem Fluchtweg zu suchen, aber in genau dieser Sekunde wickelt Mister Krakenstein einen seiner blauen Tentakel um meinen Oberarm und zieht mich vorsichtig neben sich.

„Schaut mal, wer uns heute besucht!" Kaum sind seine Worte vom Wind verweht, richten sich mehrere tausende Augenpaare auf mich. Und nein, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass diese Augenpaare unzufrieden aussehen.

„Erinnert ihr euch noch an sie?", möchte Mister Krakenstein von den Gegenständen wissen.

Für ein paar Sekunden ist es mucksmäuschenstill. Dann erhebt sich auf einmal ein Handspiegel aus der Menge und brüllt wütend in meine Richtung: „Wie könnten wir diese Verräterin jemals vergessen?!"

Was?! Mein Herz setzt für einen Schlag aus, nur um gleich darauf doppelt so schnell wie vorher weiterzuschlagen.

Ich bin eine Verräterin? Aber warum?

„Wir wollen sie nicht hierhaben!" Eine rot-weiß-geblümte Kinderhose stellt sich neben den Handspiegel. „Verschwinde, Frankie!"

„Genau!" Dieses Mal ist es ein alter, abgewetzter Fußball, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Hau ab, du falsche Schlange!"

Noch bevor ich irgendwie reagieren oder meine wirbelnden Gedanken ordnen könnte, prallt eine Ladung Sand an meinem linken Scheinbein ab. Mit geweiteten Augen sehe ich ein Tierlexikon, das nur wenige Meter von mir entfernt steht und einen Sandball in seinen Händen formt.

Dass ich die Zielscheibe dieses Balles bin, muss ich nicht erwähnen, oder?

„Hey!", beschwere ich mich, als die kleinen Körner auf meinem Bauch explodieren. „Das ist nicht nett!"

Statt Einsicht zu zeigen, lacht das Tierlexikon spöttisch. „Habt ihr das gehört?", fragt es die anderen Gegenstände um sich herum. „Ich bin nicht nett, oh man. Ziemlich ironisch, dass das ausgerechnet von unserer lieben Frankie kommt, nicht wahr?"

Zustimmendes Gemurmel, in dem immer wieder Beleidigungen auftauchen, erfüllt die Luft.

„Lasst uns ihr zeigen, was es wirklich bedeutet, wenn wir nicht nett sind!" Das Tierlexikon streckt einen Sandball in die Höhe. Seine dunklen Augen fokussieren mich, als wäre ich die Beute eines Raubtieres, ehe es lautstark brüllt: „Angriff!"

Keine Sekunde später fliegen hunderte Sandbälle in meine Richtung. Sie treffen mich am ganzen Körper und lösen ein unangenehmes Pochen unter meiner Haut aus.

„Hört sofort damit auf!", versucht Mister Krakenstein Partei für mich zu ergreifen, doch seine Worte gehen in dem lauten Gebrüll unter.

Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, halte ich schützend meine Hände vor das Gesicht und lasse den Angriff stumm über mich ergehen. Zwar habe ich keine Ahnung, warum ich von all den Gegenständen als Verräterin oder falsche Schlange bezeichnet werde, aber wie es scheint, muss ich sie extrem verärgert haben.

„Lasst das!", nehme ich Mister Krakensteins Stimme wie durch Watte gedämpft wahr. Ich spüre, wie er seine Tentakel über meinen Körper legt und mich somit von den Sandbällen abschirmt. „So begrüßt man doch keinen Ehrengast ..."

„Sie ist kein Ehrengast!", erwidert eine zornige Frauenstimme. „Wir wollen sie hier nicht haben! Scheiß verzogene Göre!"

Mit Tränen in den Augen kauere ich mich unter Mister Krakensteins Tentakeln zusammen. Ich höre, wie die Sandbälle an seinem Plüschkörper abprallen und er immer wieder scharf die Luft einzieht.

Warum nimmt er meinetwegen diese Schmerzen in Kauf? Müsste er nicht auch wütend auf mich sein?

Ich finde keine Antworten auf meine Fragen, denn plötzlich legt sich eine selbstbewusste Männerstimme über das Getöse. „Mister K.!", schreit der Mann. „Hierher!"

Nur einen Atemzug später wickelt sich ein langer Tentakel um meine Taille. Ich verliere den Boden unter den Füßen und schwebe mehrere Zentimeter in der Luft.

„Ah!", entflieht mir ein panischer Schrei.

Tatsächlich hat mich Mister Krakenstein in seinen Tentakel gehüllt und watschelt nun so schnell er kann durch den Sand. Dabei wird er immer wieder von Sandbällen getroffen und verzieht schmerzhaft sein Gesicht.

„Schneller, Mister K., schneller!"

Der Oktopus erklimmt fünf Treppenstufen und steuert danach auf eine Art Bar zu, die sich inmitten mehrerer Palmen befindet. Auf dem Strohdach ist ein leuchtendes Neonschild mit der Aufschrift Marlos Schankstelle angebracht.

Unter anderen Umständen hätte ich jetzt über diesen kreativen Namen gelacht, aber gerade habe ich mit meiner aufwallenden Übelkeit zu kämpfen und konzentriere mich darauf, mich nicht übergeben zu müssen.

Ganz schön schaukelig auf Mister Krakensteins Tentakeln ...

Zum Glück lässt mich das Plüschtier nur wenige Sekunden später wieder runter, sodass ich mich erschöpft auf den Boden kauern kann. Der Oktopus setzt sich neben mich und reibt sich ächzend über seinen blauen Körper, der überall mit Sandflecken übersäht ist.

„Geht ... Geht es dir gut?", erkundige ich mich besorgt bei der Krake.

Ich kann sehen, wie Mister Krakenstein zu einer Antwort ansetzen möchte, doch am Ende ist es eine spöttische Männerstimme, die die Luft erfüllt. „Du hattest schon immer ein Talent für unangebrachte Fragen, Frankie, nicht wahr?"

Überrascht hebe ich den Kopf und ertrinke sogleich in den schönsten kaffeebraunen Augen, die ich jemals gesehen habe.

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