3 - Die Insel der verlorenen Schätze

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Kaum habe ich das riesige Stahltor passiert, scheint es, als hätte ich den Strand nie verlassen. Weiße Sandkörner graben sich zwischen meine Zehen und der salzige Duft von Meerwasser umspielt meine Nase. Im Hintergrund höre ich nicht nur das Rauschen der Wellen, sondern auch das aufgeregte Kreischen der Möwen.

Mein Herz schlägt schneller und kalte Schauer laufen meinen Rücken hinab.

Wie ist das bloß möglich? Ich bin doch extra der Palmenallee gefolgt, um vom Strand wegzukommen ...

Verwirrt und überfordert zugleich drehe ich mich einmal um meine eigene Achse. Nur um gleich darauf eine hektische 180-Grad-Wendung in Richtung Süden hinzulegen.

Bei dem Anblick, der sich mir nun bietet, weiten sich meine Augen und meine Kinnlade klappt bis zum Boden hinab. „Was zum Teufel ...?", entfährt es mir leise.

Der ganze Strandabschnitt ist mit hunderten, nein, tausenden Gegenständen gefüllt. Teilweise stapeln sie sich sogar und machen es somit unmöglich, einen Blick auf die weißen Sandkörner zu erhaschen.

Zopfgummis ... Kuscheltiere ... Geldmünzen ... Kleidungsstücke ... Hygieneartikel ... Spielzeuge ...

Wohin meine Augen auch wandern, überall sehe ich Gegenstände, die im Sand liegen. Als wäre das nicht schon verrückt genug, kommen mir die Sachen seltsam vertraut und bekannt vor. Blöderweise kann ich aber nicht zuordnen, woher ich die Objekte kennen könnte.

Vielleicht aus einem Traum?

Ich möchte mich gerade den vielen, bunten Gegenständen nähern, um sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, da erfüllt plötzlich eine überraschte Jungenstimme die Luft. „Frankie? Bist du das?"

Ohne nach dem Ursprung der Stimme zu suchen, drehe ich mich um. Wer auch immer dieser Frankie ist, hoffentlich kann er mir dabei helfen, Antworten auf meine Fragen zu finden. So langsam wird die Leere in meinem Kopf nämlich unheimlich.

„Oh mein Gott! Du bist es ja wirklich!", ertönt wieder die überraschte Jungenstimme.

Keine Ahnung, wo Frankie sein soll, aber ich kann weit und breit niemanden erkennen. Das ist auch der Grund, weshalb ich ein frustriertes Seufzen ausstoße und dem riesigen Schatten, der wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht ist, meine Aufmerksamkeit schenke.

„Woah!" Vor lauter Entsetzen stolpere ich zwei Schritte rückwärts und lande mit meinem Allerwertesten im Sand. Die kleinen Körner, die sich nun unangenehm in meine Haut bohren, sind mein kleinstes Problem.

Das große Übel steht noch immer direkt vor mir.

Und hat acht Arme. Und einen blauen Körper. Und lila Riesen-Glitzer-Glubschaugen.

„Das ... Das ist nicht real!", stammele ich überfordert. Noch in derselben Sekunde kneife ich mir in die Handinnenfläche und schließe meine Augen. In der Hoffnung, dass sich die XXL-Krake wieder in Luft auflöst.

„Was ist nicht real?"

Scheiße! Warum verschwindet diese Jungenstimme nicht?

Ich grabe meine Fingernägel tiefer in mein Fleisch. So lange, bis eine warme Flüssigkeit über meine Handinnenfläche läuft und mich der Schmerz von meiner Panik ablenkt.

„Frankie?" Etwas Plüschiges berührt mich an der Schulter. „Du musst doch keine Angst haben! Wir haben doch damals immer so schön miteinander gespielt."

Was?!

Ich kann nicht verhindern, dass ich meine Augen weit aufreiße und nach Luft schnappe. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, wo ich hier gelandet bin und was mit mir passiert ist, zweifele ich so langsam an meinem gesunden Menschenverstand.

Ob mir jemand Drogen eingeflößt hat? Warum sonst sollte eine gigantische Stoffkrake, die sprechen kann, vor mir stehen?

„Du siehst so blass aus." Der Oktopus beugt sich zu mir hinunter und schaut mich besorgt aus seinen glitzernden Glubschaugen an. Unter anderen Umständen würde ich das vielleicht süß finden, aber jetzt gerade breitet sich eine unangenehme Gänsehaut der Hilflosigkeit auf meiner Wirbelsäule aus. „Setz dich doch erstmal, Frankie."

Da sich meine Beine wie Wackelpudding anfühlen und schwarze Punkte an den Rändern meines Sichtfelds tanzen, befolge ich den Rat der Krake und hocke mich in den Sand. Hilfesuchend krallen sich meine Finger in die weißen Körner, doch an meiner aktuellen Situation ändert sich nichts.

Ich weiß immer noch nicht, was für ein Ort das hier ist und auch das XXL-Plüschtier ist nicht verschwunden.

Im Gegenteil. Es lässt sich direkt neben mir nieder und legt einen seiner blauen Tentakel um meinen Oberkörper. „Oh je, du zitterst ja", stellt der Oktopus fest. „Ist dir kalt?"

Was für eine blöde Frage!

Am liebsten würde ich das Stofftier von mir wegstoßen, aber da es mich um mindestens drei Köpfe überragt und ich nicht weiß, wie es auf meinen Angriff reagieren würde, belasse ich es bei der Frage, die mir schon seit mehreren Minuten wie Gift auf der Zunge brennt. „Wo ... Wo bin ich hier?"

Die Krake schaut mich überrascht an. Kurz befürchte ich, dass sie mir keine Antwort geben wird, doch dann verkündet sie fast schon feierlich: „Herzlich Willkommen auf der Insel der verlorenen Schätze!"

Meine Augenbrauen wandern in die Höhe und tiefe Furchen graben sich in meine Stirn.

Die Insel der verlorenen Schätze? Obwohl ich diesen Ausdruck noch nie zuvor gehört habe, weckt er Erinnerungen in meinem Herzen. Erinnerungen, die ich leider nicht einsehen kann.

„Deine Granny hat dir als Kind oft von dieser Insel erzählt", behauptet der Oktopus nun. „Erinnerst du dich?"

Bis gerade wusste ich nicht einmal, dass ich eine Granny habe ...

„Nein", antworte ich also wahrheitsgemäß. „Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern."

Der Blick der Krake wechselt von neugierig zu schockiert. „Du kannst dich nicht erinnern?", wiederholt das Plüschtier fassungslos. „Auch nicht an mich?"

„Nein." Ich schüttele den Kopf.

Daraufhin zieht der Oktopus entsetzt die Luft ein. Für ein paar Sekunden bedenkt er mich mit einem mitleidigen Blick, ehe er mir einen seiner Tentakel entgegenstreckt und fröhlich säuselt: „Ich bin Mister Krakenstein. Dein damaliges Lieblingskuscheltier."

Völlig überfordert greife ich nach dem blauen Tentakel. Er fühlt sich weich und flauschig an.

„Du musst dich auch vorstellen", fordert mich Mister Krakenstein kichernd auf.

„Ich bin ...", setze ich selbstbewusst an, muss mich allerdings unterbrechen.

Wie heiße ich? Wie alt bin ich? Wo wohne ich? Wie sehe ich aus? Was mag ich gerne? Was mag ich nicht gerne? Welche Ziele verfolge ich?

Angst türmt sich in meinem Inneren auf, denn ich habe keine Ahnung, wer ich bin. Diese Erkenntnis schlägt wie ein Blitz in meinem Herzen ein und erschüttert meinen Körper mit einem Erdbeben. Brennende Tränen bilden sich in meinen Augen und kullern wenig später über meine Wangen.

Ich fühle mich hilflos und verloren. Bin in einem Körper gefangen, den ich nicht kenne. Ohne jegliche Erinnerungen.

Noch schlimmer ist allerdings die Tatsache, dass ein XXL-Plüschtier neben mir im Sand hockt und sich mit mir unterhält.

Entweder ist das nur ein total abgedrehter Traum oder ich verliere den Verstand. Leider tendiere ich stark zu Variante zwei.

„Hey, bitte nicht weinen!" Mister Krakenstein tupft vorsichtig mit seinen Tentakeln über meine Wangen. „Deine Erinnerungen kommen bestimmt bald wieder. So lange kann ich dir erzählen, was ich über dich weiß. Natürlich nur, wenn du das möchtest." Er schaut mich abwartend aus seinen lila Augen an, in denen sich die glänzende Wasseroberfläche widerspiegelt.

Da ich verzweifelt und auf Antworten angewiesen bin, nicke ich zögerlich. Dann füge ich hinzu: „J-Ja. Sag mir, was du weißt."

„Also gut ..." Mister Krakenstein klatscht in seine blauen Tentakel. „Du heißt Frankie und müsstest jetzt fünf plus vierzehn Jahre alt sein. Tut mir leid, aber in Mathe bin ich nicht so gut." Der Oktopus grinst verlegen. „Als du noch ein Kind warst, war ich dein Lieblingskuscheltier. Du hast den ganzen Tag mit mir gespielt und mir deine Welt gezeigt. Wir hatten immer total viel Spaß miteinander."

Obwohl es absurd und lächerlich ist, hänge ich wie gebannt an Mister Krakensteins Lippen. Während er spricht, füllen sich seine Augen mit einem sehnsuchtsvollen Leuchten. Als würde er die alten Zeiten vermissen.

„Damals hast du gerne Pfannkuchen gegessen und jeden Abend eine Tasse Tee vor dem Einschlafen getrunken. Du hast es geliebt, dich zu verkleiden und auf Bäume zu klettern. Außerdem hast du dich immer komplett in Rosa angezogen, um eine Prinzessin zu sein. Oh, und du hast versucht, die coolen Zaubertricks deiner Granny nachzumachen. Dabei hast du sogar einmal das Bad geflutet."

All die neugewonnenen Informationen prasseln wie ein Regenschauer auf mich nieder. Einerseits habe ich das Gefühl, als würde Mister Krakenstein die Wahrheit sagen, aber andererseits flackern keine Erinnerungsfetzen in meinem Herzen auf. Es ist, als würde der Oktopus einen völlig fremden Menschen beschreiben.

„O-Okay. Danke." Ich nicke überfordert und bemühe mich, die ganzen Erkenntnisse abzuspeichern. „Aber warum bin ich hier? Was hat es mit dieser Insel auf sich?"

Bei meiner Frage erlischt das Leuchten in Mister Krakensteins Augen. Sein Blick wird ernst und er senkt seine Stimme, als er mir erklärt: „Auf der Insel der verlorenen Schätze landen all die Dinge, die du im Laufe der Zeit verloren oder vergessen hast, Frankie."

Wie bitte? Das klingt total unrealistisch. Wie in einem Buch. Oder Film. Ich meine, als ob ich all die Gegenstände, die sich hier am Strand tummeln, verloren hätte ... Das geht doch gar nicht!

Oder?

Mit einem riesigen Kloß im Hals möchte ich von dem Oktopus wissen: „Also habe ich dich auch verloren?"

„Na ja, nicht ganz", antwortet Mister Krakenstein traurig. „Ich wurde dir bei einem Waldspaziergang aus dem Rucksack geklaut. Der kleine Junge, Benny, hat mich nie zu dir zurückgebracht. Deshalb bin ich dann hier gelandet. Bei all den anderen Sachen, die du verloren und vergessen hast."

Ich wünschte, ich könnte mich an diesen besagten Waldspaziergang erinnern, doch noch immer wird mein Hirn von schwarzen Nebelschwaden der Ahnungslosigkeit umhüllt.

„Warum bin ich hier?", wiederhole ich ängstlich meine Frage.

Mister Krakenstein wackelt hilflos mit seinen acht Tentakeln in der Luft herum. „Ich habe keine Ahnung", behauptet er, „aber ich werde dir helfen, es herauszufinden. Versprochen!"

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