10 - Seit Gestern

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Die Kutsche ratterte behäbig über eine mit Kieseln und fester Erde bedeckte Straße. Durch das Laub der Bäume trieb ein Frühlingswind. Es raschelte flüsternd, während krumme Äste leise seufzten und eine Vielzahl an Vögeln zwischen ihren Kronen den Singsang des Lebens begleiteten.

Einhundert Jahre...

Gewissermaßen hatte Ioanne bereits geahnt, dass etwas Verworrenes, etwas Unerklärliches vor sich ging. Der Tod saß ihr noch in den Knochen wie das Frieren im Winter, das selbst nach der Ruhe vor einem knisternden Feuer nicht immer sofort verschwand. Aber hier war sie. Atmete, fühlte, sah. Lebendig.

Einhundert Jahre...

Es surrte durch ihren Kopf wie ein unendliches Echo. Ein hallendes, pochendes Brüllen, dass einer Kugel gleich in ihrem Schädel umher zu rollen schien. Immer wieder schlagend und knallend, dass sie es bis in die Wurzeln ihrer Haare spüren konnte. Sie hatte es erst nicht ganz geglaubt und war sich sicher gewesen noch den Fluss in ihren Ohren sitzen zu haben, der sie erst hatte ertränken wollen und nun wohl ihren Verstand in unerklärliche Tiefen zog. Aber der Bäuerin war die Aufforderung die Worte zu wiederholen, nur eigenartig vorgekommen. Schon hatte sie es in aller Selbstverständlichkeit wieder gesagt. Als wäre es normal. Ein Wissen banaler Gewöhnlichkeit, das sich niemand wiederholt bestätigen lassen musste.

Es war später Herbst gewesen. Damals. Nun schoben sich die Blüten des Frühlings aus dem Boden.

„Bringt mich hin!", hatte sie verlangt und war auf noch immer schwankende Beine gesprungen, um ihrem Verlangen Ausdruck zu verleihen.

„Wohin?"

„Die Hauptstadt, Lutejan... Ich... Ich muss es sehen."

Nun saß sie hinten auf den weichen Säcken, angefüllt mit ungewaschener nach Schaf und Fett riechender Wolle. Vor ihr fuhr der Schäfer. Gelegentlich warf er einen Blick über die Schulter, auf die Passagierin, die er so unerwartet vom brüchigen Boden gezogen und in sein Heim gebracht hatte. Gekleidet in das etwas zu große, über ihre Schultern rutschende Feiertagskleid seiner Frau. Nichts anderes hatten sie ihr geben wollen, aus Furcht man möge sie ihrer Unzulänglichkeit gegenüber einer Hexe, an den Pranger stellen.

Einhundert Jahre...

Für sie war ein Tag vergangen und die Erzählungen der Familie über eine Legende, die doch nur wenige Generationen zurück lag, hatten Übelkeit in ihr hervorgerufen. Nun brachte er sie an den Ort zurück von dem sie taumelnd geflohen war. Ioanne erinnerte sich daran, wie sie gelaufen war. Eine Hand an ihre Seite gepresst. Heißes Blut, das zwischen ihren Fingern hervorquoll. Die andere Hand erhoben um gegen den tänzelnden Ascheregen anzukämpfen. Graue Flocken die flimmernd und von orange roter Glut versetzt vom Himmel sanken. Aufgewirbelt von einem Wind der sie auch noch durch den Wald und die Bäume begleitet hatte.

Lutejan war der letzte Ort, an den sie zurückkehren wollte. Und doch war es der Einzige, zu dem es sie hinzog. Eine unsichtbare Macht, die ihre Beine wohl auch bewegt hätte, wären ihre nervösen Gastgeber nicht der Aufforderung nachgekommen.

Die Zeit hatte sie in einen Kokon gehüllt, versteckt und taumelnd in finsteren Erinnerungen ausgespuckt. Was blieb war der Geschmack von Rauch auf der Zunge. Der Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Das Schimmern von Flammen in ihren Augen. Und das Schreien der Sterbenden in ihren Ohren.

Ein lautes Surren übertönte das Echo in ihrem Verstand, auch wenn sie es erst für einen Teil davon hielt. Nur dann wurde es deutlicher und als sie den Kopf hob, ruckelte ganz plötzlich ein seltsames Gefährt über die gegenüberliegende Straßenseite auf sie zu. Ein Mann der auf seinem Sitz auf und ab zu hüpfen schien und sich an ein Rad vor sich klammerte, hob kurz die Hand, um den Schäfer zu grüßen, ehe er ratternd an ihnen vorbei zog. Große, dicke Räder und ein Fahrerhäuschen, das hinter einem zischenden, wackelnden Kasten saß. Keine Pferde, nicht einmal eine Ziege bewegten es vorwärts. Dafür pafften aus einem Rohr vorne auf dem Kasten dunkle kleine Wölkchen und ein Gestank wie verbranntes Öl begleitete seinen Weg.

Magie? Aber etwas derartiges hatte Ioanne noch nie gesehen.

Irritiert richtete sie sich auf. Sie stützte sich an den Säcken um den Blick schweifen zu lassen und sich nach noch mehr vergleichbaren Geräten umzusehen. Weitere derselben Sorte sah sie nicht. Dafür bemerkte sie nun das erste Mal, dass sie die Landidylle des kleinen Dorfes verlassen zu haben schienen. Blockartige Gebäude aus rötlichem und grauem Gestein waren in die Landschaft gestampft. Aus hohen Kaminen stiegen ähnlich dunkle Wolken wie aus dem Gefährt, das eben an ihnen vorbei geruckelt war.

Auf den mit Steinen gepflasterten Höfen vor den Gebäuden bewegten sich Menschen. Schlichte, schmutzige Kleidung verhüllte hastig eilende Gestalten. Hinein durch hohe Tore oder hinaus. Geräusche summten durch die Luft wie das Brummen zahlreicher Bienen.

Einhundert Jahre...

Für sie war kaum ein Tag vergangen. Die Sonne rutschte dem Mittag entgegen und die vergangene Nacht war so nah, als wäre der Mond noch gar nicht ganz über den Horizont gefallen. Gestern hatte die Welt noch gebrannt und heute erhoben sich neue Bauten in den Himmel. Neue Dinge, neue Regeln, neue Gesetze, neue Menschen... neue Hexen. Sie waren zu einem Rat geworden, der über die Geschehnisse dieses Reiches bestimmte, statt davon überrollt zu werden.

War die Welt eine bessere geworden? Doch nicht zerstört und zugrunde gerichtet durch die Dinge, die sie in Bewegung gesetzt hatte? War ihr Verschwinden, ihr Sterben, die erleichternde Ruhe gewesen, die alles in bessere Wege lenkte?

„Wir sind da", bohrte die Stimme des Schäfers in das rauschende Hallen ihrer Gedanken.

Ioanne drehte sich wie im Bann, um seinen Worten zu folgen und den Blick auf das Tor der Stadt zu richten.

Sie erinnerte sich an eine Mauer aus grauem, fest Stein, das unter den darauf geschleuderten Geschossen in sich zusammen brach. Ein Krachen und Poltern, das ihr nun noch in den Ohren zu liegen schien. Nun gab es keine Mauer mehr. Der Zugang in die Stadt war frei von allen Seiten. Nichts erinnerte sie noch an das, an dem sie doch einen Tag zuvor, in brodelndem Hass vorbeigeschritten war.

Hitze stieg ihr in den Kopf, zog durch ihren Leib und rollte durch ihren Magen. Ihre Finger klammerten sich in das Holz der Lehne hinter dem Kutschbock, bis ihre Nägel ewige Spuren darin hinterließen.

Sie holperten voran, reihten sich ein zwischen anderen Kutschen und vereinzelt weiteren eigenartigen Gefährten. Flatternde Banner rauschten auf hohen Säulen seitlich des Weges und Gestalten in Uniformen flankierten die Straße. Ein Wappen stach ihr entgegen. Ein filigranes Symbol.

Ioanne erinnerte sich an den Tag, an dem Keelie gekommen war, um ihr mit aufgeregt geröteten Wangen eine Skizze auf dem Rücken eines alten Briefes zu reichen.

„Was ist das?", hatte sie gefragt und es verwirrt in die Höhe gehalten.

„Ein Zeichen", hatte Keelie erklärt. „Für uns! Für uns und unsere Freiheit. Weil wir auch eine eigene Flagge verdienen."

Einhundert Jahre vergangen und das Zeichen, das ihre Schwester einst erschaffen hatte, zierte die Wappen einer Stadt, die aus der Asche wieder auferstanden war.

Eine Hand in deren Mitte eine violette Rose ihre Blüten erhob.

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