Von Geschichten und Realität

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Yona nutzte die kurze Zeit, die ihr unter vier Augen mit Acarion blieb, um ihm einen schnellen Blick zuzuwerfen. „Geht es dir gut?"

„Selbstverständlich."

Sie wollte noch mehr sagen, aber etwas in seiner Stimme hielt sie davon ab. „Glaubst du, wir sollten mit ihm gehen?", fragte sie stattdessen. „Wer weiß, was er da unten versteckt hält."

„Ja", sagte Acarion nachdenklich. „Genau das interessiert mich. Und sind wir ehrlich, sollte er uns angreifen, glaube ich kaum, dass er ein ernstzunehmender Gegner sein kann."

Yona warf über die Schulter einen beunruhigten Blick auf Acarions totes Pferd. Bevor sie jedoch weitere Einwände vorbringen könnte, hatte der sich hingehockt und begann mit einigen Schwierigkeiten, die schmale Leiter hinunterzuklettern.

Schließlich folgte Yona ihm. Sie hätte lügen müssen, hätte sie behauptet, dass sie nicht neugierig war, was Novrion ihnen mitteilen wollte, auch wenn ihr der von unten heraufsteigende Gestank förmlich den Atem verschlug.

Schwaches, diffuses Licht erleuchtete den Turmkeller. Als Yona von der Leiter hinunterstieg, stellte sie fest, dass der Boden aus einer Schicht festgetretenem Drecks bestand, der sich über viele Jahre hinweg dort abgelagert haben musste. Hier unten war der Gestank noch schlimmer.

„Was ist das?", wisperte Yona, aber Acarion ruckte statt einer Antwort nur mit dem Kopf.

Novrion huschte bereits in der Kammer hin und her und zündete einige Kerzen an, die Lichtquellen, die Yona bereits gesehen hatte. Sie hatte erwartet, dass sich hier unten Regale mit Lebensmitteln befinden würden, vielleicht einige Fässer. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren die mannshohen, büchergefüllten Regale, die sich fast über die gesamte Länge des Raumes erstreckten. Es waren beinahe ausnahmslos dicke Wälzer, in braunes und grünliches Leder gebunden. Sie drückten sich dicht an dicht in die engen Regalreihen und machten den Eindruck, mehrfach gelesen worden zu sein.

Das spärliche Licht der Kerzen reichte nicht aus, um den Raum vollständig zu erhellen.

Yona, die sich nicht im Geringsten vor der Dunkelheit fürchte, schlang die Arme in einer Schutzgeste um sich. Sie hatte beengte Räume noch nie gemocht, doch hier wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas in diesen Schatten seine boshaften Augen auf sie gerichtet hielt.

„Mädchen!", bellte in diesem Augenblick Novrion mit überraschend fester Stimme, bevor er in sein Brabbeln zurückfiel. „Du wirst dem alten Novrion sagen, was es mit der Spaltung auf sich hat, nicht wahr, was du darüber weißt."

Irritiert hielt Yona inne und auch Acarion runzelte die Stirn. Bei Novrions zuvor gehendem Gerede hatte sie nicht erwartet, dass er sich über eine alte Legende unterhalten wollte.

„Ähm", machte sie wenig rhetorisch geschickt. „Also ... es gab da diese zwei Magier ..."

„Nein nein", unterbrach sie Novrion sofort. „Noch waren sie ja keine Magier, nicht wahr, sonst würde ihre Geschichte keinen Sinn ergeben."

„Richtig", korrigierte Yona sich tonlos, während Acarion sich zu den Büchern begab und mit konzentrierter Miene die Titel musterte, wobei er sicherlich jedem gesprochenen Wort aufmerksam lauschte.

„Ähm, also es waren zwei ... Männer, befreundet, glaube ich."

„Jawohl", sagte Novrion. Dann gab er ein seltsames würgendes Geräusch von sich, fuhr aber fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. Das seltsame Licht in seinen Augen glomm. „Die Geschichten, sie seien Brüder gewesen, sind eine grobe Vereinfachung einfacher Geister, nicht wahr."

„Mhm", sagte Yona, die nichts Anderes zu erwidern wusste. „Diese zwei jedenfalls, ihre Namen waren Rox und Rúa, sie waren Wissenschaftler, sie suchten nach Methoden, das Leben der Menschen zu verbessern."

„Eine andere Auslegungsweise besagt, dass sie auf Einfluss und Ruhm aus waren", warf Acarion ein. „Nicht, dass das ein weniger erstrebenswertes Ziel wäre."

Yona war sich nicht sicher, ob nur sie den Hauch von Sarkasmus wahrnahm.

„Unbedeutend, unbedeutend, nicht wahr", sagte Novrion, während er begann, auf und ab zu gehen und wieder das würgende Geräusch zu machen. Hätte Yona es nicht besser gewusst, hätte sie geschworen, dass er noch magerer geworden war.

„Wichtig ist doch, was sie entdeckt haben, nicht wahr", half Novrion ihr auf die Sprünge.

„Ja", fuhr Yona fort, welche die Ecken des Raumes noch immer mit Argwohn beäugte. Woher kam nur dieser Gestank. Irgendetwas stimmte nicht. „Sie waren die ersten, die die Veralenergie für sich entdeckten und anwenden konnten. Sie entwickelten drei der fünf Fähigkeiten."

„Der Fremde wird uns sagen, welche der fünf das waren, nicht wahr, er kennt sich doch mit der Energie aus", sagte Novrion und beäugte Acarion. Dieser schnaubte.

„Wozu dieses Frage-Antwort-Spiel? Ich hatte den Eindruck, die Zeit würde drängen." Er seufzte, als Novrion ihn nur abwartend ansah. „Die drei Fähigkeiten waren Erhellen, Heilen und Reinigen. Bindung und Verstärkung wurden zu späteren Zeiten von anderen Wissenschaftlern entdeckt."

„Zeit, Zeit ...", murmelte Novrion. „Tatsächlich, es scheint immer weniger davon zu geben. Der alte Novrion wird die Geschichte wohl selber fertig erzählen müssen, nicht wahr."

Yona gewann immer mehr den Eindruck, dass der Alte seinen Verstand vollständig verloren hatte. Jeder kannte die Geschichte von Rox und Rúa. Sie hatten lange einträchtig zusammengearbeitet und irgendwann hatte Rox die entgegengesetzten Anwendungen entdeckt. Er hatte herausgefunden, dass man mit der Veralenergie auch Abdunkeln, Verletzen und Vergiften konnte. Unter einer Voraussetzung. Die Energie dafür konnte nicht von Pflanzen stammen, sondern lediglich aus lebenden Wesen mit Bewusstsein. Menschen also, fand Rox schnell heraus. Die Lebensenergie von Tieren reichte für seine Vorhaben lange nicht aus.

„Rox", sagte nun Novrion, die Hände in einer dramatischen Geste erhoben, als wolle er predigen. „Er wurde vom rechten Weg abgeführt, ihm wurden Mächte zur Verfügung gestellt, über die kein Mensch jemals verfügen sollte. Und weil kein Mensch in Besitz dieser Kräfte sein sollte, so wurde auch Rox zu etwas, das nicht mehr menschlich war."

Plötzlich dröhnte seine Stimme durch den Raum.

Mit einer leicht erhobenen Augenbraue nahm Yona zur Kenntnis, dass er seine Gedanken nun deutlich klarer zu ordnen verstand. Acarion indes hatte sich von den Büchern abgewandt und betrachtete den alten Mann mit misstrauisch verengten Augen.

„Er verfiel den Mächten, die er versucht hatte zu unterwerfen, und er wurde selbst zu einem Monster." Wieder gab Novrion das würgende Geräusch von sich und brauchte eine Weile, bis er weitersprechen konnte. „Sein Partner, Rúa, erkannte, dass etwas mit Rox geschehen war. Er wollte ihn davon abhalten, mit seinen Experimenten fortzufahren, er sah etwas Dunkles, das sich über ihnen zusammenbraute."

Yona schauderte. Sollte Novrion doch seinen Monolog weiter halten, sie hatte die Geschichte schon oft gehört. Die Arme immer noch fest um ihren Oberkörper geschlungen, bewegte sie sich vorsichtig auf die Ecke rechts von ihr zu, wo der Gestank herzudringen schien.

„Zu diesem Zeitpunkt aber", fuhr Novrion nun fort, die glimmenden Augen auf einen Punkt gerichtet, den Acarion und Yona nicht zu sehen vermochten, „waren Rox und Rúa schon berühmt für ihre Entdeckungen, sie reisten durch die drei luvanischen Reiche und verbreiteten ihre Lehren. Oder zumindest tat das Rúa, denn Rox war nie der große Redner, nicht wahr."

Ein heiseres Husten unterbrach ihn, durchflochten mit erneutem Würgen. Yona warf einen unsicheren Blick über die Schulter. Acarion fixierte den alten Mann noch immer. Hatte er diese alte Geschichte denn noch nie gehört?

Yona nahm sich eine der Kerzen und schlich weiter auf die Ecke zu. Langsam meinte sie, Schemen erkennen zu können, formlose Dinge, die auf dem Boden lagen.

„Dann aber, eines Tages, wollte Rox den Menschen seine neuen Künste vorführen. Rúa, der längst ahnte, was vor sich ging, versuchte ihn aufzuhalten."

Langsam erhellte das Kerzenlicht vor Yona das, was sie eben noch nur als formlose Klumpen wahrgenommen hatte. Entsetzt stolperte sie zurück. Neben einem etwas entfernt stehenden Eimer, den Novrion offensichtlich als Nachttopf benutzte, lagen zwei verwesende Leichen.

„Es kam zum Streit, in aller Öffentlichkeit, vor der Menge. Rúa, nicht Rox, wie in den anderen Fassungen, wurde handgreiflich."

Nun war es an Yona, ein würgendes Geräusch von sich zu geben. Sie hörte, wie Acarion ihren Namen sagte.

In beiden Leichen ringelten sich die Maden, Körpersäfte waren ausgetreten und verklebten den Boden. Das, was Yona nun endgültig als Verwesungsgestank gemischt mit den Ausdünstungen menschlicher Exkremente erkannte, hing wie ein zähes Öl in der Luft.

„Und die beiden ehemaligen Freunde gingen sich an den Kragen." Novrion schien es gleich zu sein, ob Yona oder Acarion ihm noch Aufmerksamkeit schenkten. Er hustete wieder, würgte, doch brachte die Worte irgendwie heraus. „Sie kämpften miteinander, zunächst mit Schwertern, wie es sich für einen ehrenwerten Kampf unter Rivalen gehört."

Eine der Leichen war beinahe unversehrt, der Körper hatte einer Frau gehört, die ebenso alt wirkte wie Novrion. Der andere war das Gegenteil davon. Soweit es in dem Verwesungszustand noch zu erkennen war, war er jung und kräftig gewesen, großgewachsen. Doch sein Brustkorb war aufgerissen, die Rippen wie ein groteskes Kunstwerk nach außen gebogen, die Innereien zerfetzt und über mehrere Schritt Breite verteilt. Seine entsetzten Augen stierten an die Decke. Und über seine Arme und seinen Hals zogen sich Schuppen, im Tode blass und gräulich.

„Rox sprang auf Rúa los", kreischte Novrion, „getrieben wie ein Tier packte er seinen einstigen Freund und saugte ihm die Lebenskraft aus, bereicherte sich an dem, was niemals seines hätte sein dürfen. Und er wandte sie gegen alle, die sich mit ihm in einem Raum befanden. Er schlachtete sie alle ab", ein erneuter Würgeanfall durchschüttelte den alten Mann, „dann erkannte er, was er getan hatte, und er floh ... floh ... floh ..."

„Acarion, wir müssen hier raus, sofort!" Yona war überrascht, wie fest ihre Stimme noch klang, ganz im Gegensatz zu ihrem Inneren.

Doch in dem Moment, als sie sich umwandte, erkannte sie, dass sie wenige Augenblicke zu langsam gewesen war. Novrion würgte erneut, heftiger als je zuvor, seine seltsam glimmenden Augen traten hervor. Er hustete, er rang nach Luft – dann brach er zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man durchgetrennt hatte. Und etwas löste sich von seinem Körper, etwas wie eine schwarze Wolke, nur weniger fest.

Yona stieß einen entsetzten Schrei aus.

Acarion, der in der Nähe stand, wich taumelnd einige Schritte zurück, das Gesicht leichenblass.

Panik hämmerte durch Yonas Adern, schlimmer, als sie sich draußen mit dem herandonnernden Erdrutsch über ihr gefühlt hatte.

„Lauf!", schrie sie. „Mach schon!"

Sie konnte nicht auf Acarion warten. Sie wandte sich um und stürmte zurück zu der Leiter, die sie nach oben bringen würde. Vielleicht in Sicherheit. Die Kerze hatte sie längst fallen gelassen. Blindlings stieg sie die Treppe wieder nach oben, eine Hand über die andere, nur weg, weg von diesem Ding, das sich in Novrions Körper gefressen hatte. Namenlose Angst schnürte ihr die Kehle zu.

Die etwas frischere Luft im Turm begrüßte Yona wie eine Liebkosung. Ofri stand noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte und warf den Kopf unruhig hin und her, als sie auf ihn zu gestürmt kam.

Sie wagte einen Blick über die Schulter, Acarion hievte sich gerade aus der Falltür, in seinem Gesicht einen Hauch der Panik, die sie selbst verspürte. Mit einem Knallen schloss Acarion die Falltür, während Yona bereits aufsaß. Sie streckte die Hand aus, um ihm auf Ofri zu helfen. Ohne zu zögern packte er sie. Ofri schnaubte protestierend.

Yona warf einen Blick zurück und ein neuer Schreckensschauer durchfuhr sie, als sich dunkle schwarze Schwaden langsam durch die Ritzen zwischen Falltür und Boden schlängelten. Wie verrenkte Gliedmaßen wanden sie sich in die Luft.

Yona stieß Ofri die Stiefelabsätze in die Seiten und mit einem erneuten protestierenden Wiehern stürmte das Pferd los.

Sämtliche Angst vor einem erneuten Erdrutsch war verflogen, während sie über die schlammige Fläche vor dem Turm jagten, die vor kurzer Zeit noch eine Wiese gewesen war. Acarion bewegte sich hinter Yona.

Er umklammerte seine Halskette, streckte zum zweiten Mal kommandierend die Hand aus. Ein jähes Aufwallen von Macht, und der alte Turm brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen, begrub alles in seinem Inneren unter sich.


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