Erinnerungen & Träume

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Rave

Neun Jahre.

Ich wiederholte die Zahl in Gedanken und gab mich dem Gefühl der Leere hin. Das achte Jahr, das hat etwas Besonderes verdient, eine Art Anerkennung. Genau wie das fünfte Jahr, in dem ich meinen Eltern Blumen an ihrem Todestag auf ihr Grab gelegt hatte, weil ich gewusst hatte, dass sie es so gewollt hätten.

Ich hatte diesen Tag ganz allein verbracht, eingeschlossen in meinem Zimmer, nur Hayley durfte mich sehen. Anders als ich, hatte sie schnell mit dem Tod unserer Eltern abgeschlossen und versuchte ihr Leben so gut wie es geht normal weiterzuführen.

Insgeheim glaubte ich doch irgendwie, dass wenn ich allein bliebe, sie zurückkommen würden, so wie ich es mir an jedem ihrer Todestage gewünscht hatte. Sie würden sehen, wie ich achtzehn werde, wir könnten unser altes Leben fortsetzen.

Dann würden sie sehen, wie ich mein letztes Schuljahr absolviere, meinen Beruf beginne, den die Ältesten für mich aussuchen werden und mit mir die letzten wichtigen Schulfeste feiern. Nach meinem Abschluss würde ich meinen Quastenhut in die Luft werfen und sie würden im Publikum sitzen und am lautesten Beifall klatschen.

Doch sie kam nicht zurück. Diese Enttäuschung erlebte ich jedes Jahr. Die Tage vergingen, einer nach dem anderen, wohl dosiert in einem nicht enden wollenden Rhythmus. Scheinbar unendlich und jeder von ihnen hatte den selben Ablauf: ich ging zur Schule, danach aß ich mit der Familie meiner Tante Doroles und dann überkam mich wieder die Einsamkeit.

Jemand rempelte mich an und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Ich schaute über die Schulter, um zu sehen, wer es war, aber in dem Meer von Menschen, die alle dieselbe Kleidung trugen, war keiner auszumachen, der mir Beachtung schenkte.

Der Airtrain ruckelte und ich musste mich mit Mühe an die Stange klammern, um nicht auf die alte Dame vor mir zu stolpern. Anhand der Stickereien, fünf goldfarbene Sterne auf der Schulter, konnte ich erkennen, dass sie eine Älteste war. Die Ältesten waren die Berater des Präsidenten und gleichzeitig bestimmten sie das Leben der jüngeren Generationen: also auch von mir.

Der wichtigste Tag im Leben eines Bürgers der Stadt ist der Tag der Entscheidung. Dieses Fest wird mit den Siebzehnjährigen gefeiert und bei dieser Zeremonie wird der zukünftige Ehepartner eines jeden bekannt gegeben. Um diesen herauszufinden muss jeder, der siebzehn Jahre alt geworden ist, sich einer Befragung unterziehen, die von den Ältesten geleitet wird. Dann wählen sie für jeden den perfekten Partner.

Anders als vor fünfhundert Jahren darf man sich in der Stadt auf keinen Fall verlieben, denn das gibt nur unnötige Komplikationen mit der Auswahl des Partners - so wird es uns jedenfalls in unserer Kindheit gepredigt. Nach der Bekanntgabe hat man dann Zeit den Partner kennenzulernen, mit 18 Jahren wird dann geheiratet. Also ist quasi mein ganzes Leben schon vorprogrammiert.

Der Airtrain kam lautlos zum Stehen und ich machte mich auf dem Weg zum Ausgang. Die Menschen rauschten an mir vorbei, als ich stehen blieb und die kühle Luft des Bahnhofs in der Nord- Provinz einatmete. Jedes Mal, wenn ich hier war, beobachtete ich die anderen Menschen, die hastig den Zug verließen, um schnell zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen oder rechtzeitig zum Abendessen bei ihren Familien zu sein.

Ein Gong holte mich wieder in die Realität und mir wurde bewusst, dass ich in fünfzehn Minuten zu Hause sein musste, Dolores, die ältere, verbitterte Schwester meiner Mutter, hasste es, wenn ich zu spät kam. Ich presste meine alte, abgenutzte Ledertasche an mich und rannte los. Da ich öfters hier war, wusste ich genau welcher Weg der Schnellste war.

Meine Beine hüpften leichtfüßig über die Treppen des Ausgangs und außerhalb des Bahnhofgebäudes wurde ich geblendet. Die Sonne hing direkt über dem Horizont und ich hielt mir zum Schutz die Hand vor die Augen, um etwas sehen zu können. Ich hetzte an der großen imposanten Stadthalle vorbei, bog nach links in eine kleine Seitengasse ein und nach drei weiteren Blocks bekam ich tierisches Seitenstechen, doch ich dachte nicht einmal daran, eine Pause einzulegen. Nach einer Weile erreichte ich meinen Wohnblock, bei dem Haus mit der Nummer 2246 hielt ich inne und versuchte meinen Atem zu normalisieren.

Ich sah, dass in der Küche Licht brannte und man konnte Dolores' schneidende Stimme bis nach draußen hören.

Dolores hatte selbst ein Kind: Caleb. Er war warmherzig, freundlich und behandelte mich, als wären Hayley und ich seine leiblichen Schwestern. Ich schulterte meine Tasche, die ich abgesetzt hatte, holte tief Luft und stieg die Verandatreppe hinauf.

Bevor meine Knöchel zum Klopfen das massive Holz der Haustür berührten, wurde diese aufgerissen, jemand packte mich am Oberarm und zog mich mit einem Ruck durch die Türschwelle ins Haus.

„Raven verdammt! Wo warst du?" zischte Dolores und drückte mir dabei die Blutzufuhr zu meinem Arm ab. „Biologie wurde auf heute Nachmittag verlegt," antwortete ich genauso schroff zurück und entwand mich ihrem festen Griff, das Taubheitsgefühl verschwand. Dolores zog eine Augenbraue hoch, so wie sie es immer tat, wenn sie etwas nicht glaubte. Ich erwiderte ihren Blick wortlos und ging stur an ihr vorbei.

Jedes Wohnhaus der Stadt war gleich aufgebaut - um für Gerechtigkeit zu sorgen – großes Wohnzimmer mit Essbereich, an dem die Küche anschließt und zwei Badezimmer. Mein Zimmer lag im Obergeschoss am Ende des Korridors, hatte die beste Aussicht auf den Sonnenuntergang und besaß nicht viele Möbel: ein Bett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch, alles in Weiß gehalten. Manchmal störte mich diese Farblosigkeit, aber sie half mir auch beim Einschlafen.

Doch heute war etwas anders, das fiel mir sofort auf. Meine Zimmertür war nur angelehnt, obwohl ich davon überzeugt war, dass ich sie heute Morgen geschlossen hatte. Ich drückte die Türklinke herunter und entdeckte auf meinem Bett einen Briefumschlag.

Es gab niemanden, der mir einen Brief schreiben würde, da war ich mir hundertprozentig sicher. Freunde hatte ich jedenfalls keine. Der Umschlag fühlte sich zwischen meinen Fingern schwer und edel an, und als ich ihn umdrehte, entdeckte ich auf seiner Rückseite ein rotes Siegel mit dem Zeichen des Präsidenten: ein brüllender Löwe mit einer Krone auf dem Haupt. Verwundert brach ich das Siegel, zog das edle cremeweiße Papier heraus und faltete es auseinander.

Es war eine Einladung zur Befragung in der Stadthalle, die übermorgen direkt nach der Schule stattfinden würde.

Manchmal, wenn ich durch unseren Block lief, hörte ich die Nachbarsmädchen über die Befragung und ihren zukünftigen Partner reden, und dann kicherten sie und wurden rot. Wenn ich allerdings darüber nachdachte, bekam ich das Gefühl, als wollte mein Magen seinen Inhalt ruckartig von sich geben. Die Vorstellung, einen Fremden zu heiraten, bekam mir nicht wirklich.

Ich wechselte meine Kleidung gegen einen Pyjama aus, legte mich ins Bett und deckte mich zu. Ich wälzte ein paar Mal hin und her und schließlich akzeptierte ich, dass dies eine unruhige Nacht werden würde.

„Bist du bereit für dein Schicksal?"

~ William Shakespeare

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