1946

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Lisette besieht sich das nächste Fach und holt einige Formulare heraus. „Hm." Sie besieht sie ausgiebig und schmunzelt dann. „Seeeehr interessant. Euer Vater ist ein weiteres Mal widerlegt."

„Was ist das?" Kirsten betrachtet die amtlich aussehenden Dokumente.

„Die lese ich besser nicht komplett vor", schlägt Lisette vor. „Das hier jedenfalls ist eine Vollmacht. Von Gotthelf Gainer ausgestellt auf Katharina Gainer. Sie darf Anweisungen erteilen und die Firma leiten, als würde er selbst es tun. Das liest sich hier so, als würde sie lediglich die Anweisungen ihres Vaters weitergeben, aber wichtig ist, ihre Unterschrift gilt so wie seine.

Aufgesetzt und beurkundet ist das Ganze übrigens von einem Anwalt namens Paul Avenarius."

„Also hat sie ihn schon mit 14 oder 15 kennengelernt", stellt Kirsten fest. „Ob sie da schon verliebt waren?"

Wieder einmal wechseln Paul und ich einen Blick. Aber bevor wir uns entscheiden können, ob wir Kirsten die Illusion nehmen sollen oder nicht, übernimmt Rasmus die Initiative. „Du hast Opa doch gehört! Die haben nicht aus Liebe geheiratet!"

„Aber das sollte man doch", protestiert Kirsten empört. „Mama hat doch auch nicht geheiratet, weil sie den Ani nicht mehr leiden mag, wie der so gemein zu ihr war!"

„Heute geht das auch", erkläre ich den beiden. „Damals hätte ich jemanden heiraten müssen, weil ich euch nicht alleine durchgebracht hätte. Es war so schon schwer genug. Ich habe unglaubliches Glück gehabt."

„So nennt sie das", schmunzelt Paul. „Ich würde es eher als Kampfgeist und Energie bezeichnen. Katja hat nie aufgegeben, ob es nun darum ging, die Ausbildung fortzuführen, eine bezahlbare Wohnung zu finden oder einen Job zu finden, bei dem sie euch mitnehmen kann."

„Komm, hör auf", protestiere ich. „Um mich geht's hier doch nicht. Was sind das hier für Tabellen?"

Lisette und Paul neigen die Köpfe zueinander und begutachten die besagten Papiere. „Davon will ich unbedingt Kopien", ordnet Paul an und Lisette nickt. „Mach ich. Man kann ja nie wissen, wann es noch wichtig wird."

Für die beiden, die sich ja ständig mit Bilanzen, Geschäftsberichten und Auswertungen auseinandersetzen müssen, scheint alles klar zu sein. Die Kinder und ich erkennen da lediglich ellenlange Zahlenkolonnen, unklare Berechnungen und sehr viele mit Lineal gezogene Linien, die das Ganze in einzelne Bereiche aufteilen. „Geht's noch genauer?"

Lisette, die ja „dran ist", übernimmt die Erklärung: „Hier ist aufgelistet, welche Zwangsarbeiter in welcher Zeit und für welchen Lohn gearbeitet haben und was Deutsche im gleichen Zeitraum verdient hätten. Das Ganze ist saldiert worden und die Differenzsummen für jede einzelne Frau sind hier aufgeführt", sie weist auf ein weiteres Blatt, das für mich auch nicht anders aussieht als die übrigen. „Katharina und Paul haben ganz offensichtlich ausgerechnet, was die Gaitex ihren Zwangsarbeitern schuldet. Die Endsumme ist für damalige Verhältnisse enorm, wenn man die Größe der Firma zu diesem Zeitpunkt bedenkt."

„Das hier", Paul wedelt mit einem anderen Blatt, „ist der Entwurf eines Arbeitsvertrags zu erträglichen Bedingungen und einem angemessenen Lohn. Darunter hat Katharina vermerkt, dass dieser Vertrag jeder Frau anzubieten ist, die noch im Lager darauf wartet, dass sich die Behörden der Alliierten mit ihrem Fall beschäftigen. Wie Polli ja geschrieben hat, konnte es Jahre dauern, bis man die Zwangsarbeiter wieder nach Hause bringen konnte."

„Zumal man die erst wieder aufpäppeln musste", übernimmt Lisette wieder. „Wie es aussieht, hat die Gaitex einige Monate lang stillgestanden. Dann hat Katharina den Betrieb wohl wieder aufgenommen."

„Aber die war doch noch ein Kind", flüstert Kirsten erschüttert. „Wie konnte sie das?"

„Sie scheint sehr früh in die Vorgänge involviert gewesen zu sein. Vor allem aber hatte sie wohl in eurem Urgroßvater eine große Hilfe. Wie es aussieht, wusste Katharina ganz genau, was sie wollte und bei der Durchführung stand ihr dann der erfahrene Anwalt bei. Hier sind überall handschriftliche Anmerkungen, mit denen Katharina kundtut, wie sie es haben will. Zum Beispiel unter dieser Tabelle: Lieber Paul, bitte machen Sie einen richtigen Vertrag für die armen Frauen so wie man ihn für Deutsche macht. Sie sollen auch den gleichen Lohn haben. Wie es aussieht, hatte Katharina keine Ahnung, wie so ein Vertrag auszusehen hat oder welcher Lohn angemessen war, aber die Grundanweisung ist sehr klar."

„Drei", sage ich trocken. Lisette blickt verwundert auf. „Was?"

„Dreimal ‚wie es aussieht'. Beim nächsten Mal bekomme ich einen Schnaps."

Paul kichert. „Das sagt sie öfters, vor allem, wenn sie mir Umsatzanalysen vorlegt. Manchmal zähle ich auch mit."

Lisette zieht einen Schmollmund, der Rasmus giggeln und Paul verzückt dreinschauen lässt. „Ihr seid mir schon ein Paar, ihr zwei!"

„Katharina hat also versucht, alles wieder gut zu machen?" Kirsten fokussiert sich auf das für sie Wichtige.

„Das geht aus diesen Unterlagen eindeutig hervor", bestätigt Paul. „Aber die Summen, um die es geht, waren für so große Firmen, die später auf Entschädigungen in Millionenhöhe verklagt wurden, nur kleine Fische. Der Gaitex hätte es in der Besatzungszeit das Genick gebrochen. Katharina war in der Lage, die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen zu einem anständigen Lohn zu beschäftigen, aber nicht dazu, irgendwelche Entschädigungen auszuzahlen."

„Die Prozesse darum begannen auch erst gut sieben Jahre später", erinnert ihn Lisette. „Aber Katharina hat sich von Anfang an darauf vorbereitet. Wie es aussieht – verflixt! – wusste sie zwar nicht, dass es zu den Gerichtsverfahren kommt und rechnete wohl auch nicht damit, sah sich aber freiwillig in der Verantwortung."

„Von 'Verbrechen der Nazizeit zu decken' kann also keine Rede sein", schließt Paul. „Katharina hat mit der Aufarbeitung zu einem Zeitpunkt begonnen, als nicht einmal den Besatzungsmächten der Gedanke gekommen war."

Kirsten nickt beeindruckt. „Und wann und warum hat sie dann den Anwalt geheiratet? Was ist mit den Kindern passiert? Und ist ihr Bruder aus dem KZ gekommen?"

Paul greift nach der Mappe. „Das erfahren wir vielleicht, wenn wir weiterforschen."

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