1948

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„Ich bin dafür, dass wir ab jetzt nicht mehr alle Fächer komplett durchsehen", erklärt uns Paul. „Sonst sitzen wir noch Wochen dran. Und ich vermute, dass nun auch finanzielle Aufstellungen, Dokumentationen und ähnliches folgen werden. Ich werde die weiteren Fächer inspizieren und herausfiltern, was in erster Linie für uns alle interessant ist, einverstanden?"

Das sind wir alle. Die vielen Informationen, die wir bekommen haben, lassen vermutlich nicht nur mir den Kopf schwirren. Aufhören wollen wir aber alle nicht; wir sind viel zu gespannt, wie es weitergeht.

Paul sieht also die Mappe durch. Das nächste Fach enthält ebenfalls Tabellen und Listen geschäftlicher Art. Aber schon im übernächsten befinden sich wieder Fotos und ein Brief sowie eine Trauungsurkunde.

Wir besehen die Fotos. Auf dem ersten steht eine sehr junge, aber nun zweifellos erwachsene Katharina neben einem Mann in den späten Dreißigern vor einem Kirchentor. Beide lächeln ziemlich gezwungen und wirken recht steif. Nur die Art, wie der Mann Katharinas Hand zärtlich umfasst, lässt auf mehr Vertrautheit zwischen den beiden schließen.

„Jetzt hat sie keine Zöpfe mehr." Kirsten fällt das natürlich als erstes auf. Katharina trägt das zarte, elegante Spitzenkleid vom Dachboden und dazu einen blütenbesteckten Haarreif in den kurzen, dunklen Locken. Der Mann neben ihr ist wesentlich größer als sie, mit blondem glattem Haar und hellen Augen. Lisette lächelt. „Das erklärt vieles. Katja und Kirsten haben Katharinas Locken und ihre zierliche Figur, Paul und Rasmus sein glattes Haar und seine Größe. Aber Katja und Rasmus haben sein Blond geerbt und seine hellen Augen, während Paul und Kirsten ihre dunklen Farben haben. Mendel würde jubeln – das war doch der mit der Vererbungslehre?"

Das ist Kirsten im Moment völlig egal. „Zeig mal das andere Bild." Schon nach einem flüchtigen Blick lacht sie hell auf. Lisette beugt sich zu ihr. „Oh, wie süß!"

Jetzt will ich das auch sehen und dränge meinen Kopf zwischen die von Lisette und Rasmus. Dieses Bild scheint in der Kirche aufgenommen worden zu sein. Vor dem Pfarrer stehen Paul Avenarius und Katharina, offensichtlich findet gerade der Ringwechsel statt. Aber hier ist von Steifheit und Posieren nichts mehr zu bemerken. Der Pfarrer blickt nicht auf das Paar vor ihm, sondern wirft dem Fotografen einen sehr verärgerten und wenig erbaulichen Blick zu. Am linken Rand ist die eine Hälfte eines Mannes im Messgewand zu erkennen, der energisch und mit ausgestreckter Hand auf den Fotografen zustiefelt, vermutlich der Küster oder ein Hilfsdiakon, unzweifelhaft in der Absicht, dieser unangemessenen weltlichen Tätigkeit in der Kirche ein Ende zu bereiten. Rechts sind festlich gekleidete Hochzeitsgäste auf den Bänken zu sehen, die teils erschrocken, teils missbilligend direkt in die Kamera blicken, beziehungsweise auf den Fotografen.

Katharina und Paul Avenarius scheinen jedoch völlig unberührt von der Unruhe um sie herum zu sein. Der ältere Paul hält Katharinas Hand sorgsam in der seinen; mit der anderen hantiert er irgendwo über ihren Fingern in der Luft herum. Katharina streckt den Ringfinger aus, scheint aber ebenso wenig wie ihr frisch Angetrauter zu bemerken, dass der Ring suchend in der Luft schwebt und den Finger nicht findet. Beide sehen nicht auf ihre Hände, sondern blicken sich strahlend und innig zugleich in die Augen. Ich glaube förmlich die Blase zu sehen, welche die beiden umgibt und ihr privates Himmelreich von der profanen Welt da draußen trennt.

„Die haben aus Liebe geheiratet", triumphiert Kirsten. „Das sieht man doch!"

Der Meinung bin ich auch. Dieses eine Bild sagt alles aus.

Paul überfliegt den Brief und wird sehr ernst. „Ich werde ihn euch nicht vorlesen; ihr könnt ihn später lesen, Kirsten und Rasmus erst in einigen Jahren. Nur soviel: Er stammt von ihren Zwillingsbruder. Er gratuliert ihr, dass sie nun mit Paul verbunden ist und drückt seine Freude darüber aus. Seinen Worten nach war er auch der Fotograf in der Kirche; er bezeichnet das Bild als letztes Geschenk an sie und erwähnt, dass Katharina es immer gehasst habe, für den Fotografen posieren zu müssen und er darum ein Bild von ihr machen wollte, wenn sie nicht weiß, dass sie abgelichtet wird.

Aber er bittet sie auch um Entschuldigung, weil er sie jetzt verlassen wird. Er schildert ihr seine jahrelange Verzweiflung, seine Erfahrungen mit den ‚Therapien' im Krankenhaus und die Monate im KZ. Und seine Selbstvorwürfe, weil er seine schlechten Gefühle einfach nicht abwerfen kann. Er erklärt ihr ausdrücklich, dass er nichts lieber tun würde als einfach lange und glücklich zu leben, es ihm aber nicht möglich ist. Dass er nichts gegen seine ständige Traurigkeit tun kann und man ihm im KZ auch klargemacht hat, dass er des Lebens nicht wert ist, wenn er zu schwach zum Lächeln ist – so poetisch hat er sich tatsächlich ausgedrückt. Und dass er jetzt, nachdem er seine Schwester in sicherer Hut weiß, gehen wird, um ihr nicht weiter zur Last zu fallen.

Er drückt ihr auch seine Bewunderung aus. Wortwörtlich schreibt er: ‚Du warst immer die Stärkste der Familie und ohne dich wären wir alle schon längst verloren. Ich bin so froh, dass du nun tun wirst, was Vater von uns wollte – die Linie weiterführen. Du bist mehr wert als wir anderen alle zusammen und wenn deine Nachkommen nur einen Teil deiner Kraft, deiner Warmherzigkeit, deines Verstandes und deiner Liebe erben, werden diese die besten Gainers aller Zeiten sein.'

Wernher ist sich sicher, dass Katharina ihren Weg machen wird und er sich befreit fühlt, da sie nun einen Ehemann hat, der ihr den Rücken freihalten wird in den Kämpfen, die ihr noch bevorstehen. Und dann entschuldigt er sich wieder, weil er sie in Stich lässt und ihr Kummer bereitet; versichert ihr aber, dass sie keine Schuld daran trägt. Sie und die beiden älteren Brüder seien das einzige gewesen, was ihm das Leben hätte ertragen lassen."

Betroffen schweigen wir. Rasmus findet als erster die Stimme wieder: „Konnte man ihm denn nicht helfen? Und was hatten die Nazis gegen ihn?"

„Man ging damals auch gegen psychisch kranke Menschen vor", Lisettes Stimme zittert vor Zorn. „Zwar bilden die Juden sowie die Sinti und Roma den weitaus größten Anteil der Menschen, die in den KZs ermordet wurden. Aber auch viele andere wurden dorthin verbracht. Angefangen hatte es mit politischen Gegnern, dann erst kam man auf die Idee, alle Menschen dorthin zu verbringen, deren Blut nicht ‚rein' genug für die deutsche Rasse war. Und das waren eben nicht nur Nicht-Arier, sondern auch ‚Krüppel'. Körperliche und geistige Behinderungen sollten ebenso ausgemerzt werden wie psychische Erkrankungen, 'angeborene' Renitenz und Faulheit oder sexuelle ‚Verwahrlosung'. Das alles wie auch den Hang zur Kriminalität sah man als erblich an und wollte diese ‚Fehlfunktionen' aus dem deutschen Blut tilgen."

„So dumm können nur Nazis sein", schimpft Kirsten und Rasmus fügt an: „Gut, dass man es heute besser weiß. Nur gibt es noch viele Menschen, denen man das noch erklären muss."

Kirsten nickt dazu. „Aber das machen wir schon!" Sie hebt stolz den Kopf. „Schließlich sind wir Gainers! Und noch besser, wir stammen von Katharina ab!"

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