Kapitel 14: Die andere Genieve

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Der Wecker klingelt dermaßen schrill, dass ich kurz davor bin, ihn zuerst fünf Mal auf den Boden zu werfen und ihn dann brutal im Waschbecken zu ertränken.

„Mary!", kommt ein sehr schlecht gelauntes Grollen von Christine. Sie ist wohl eher kein Morgenmensch.

„Hm?", macht Mary entspannt und dreht sich auf die Seite. Christine atmet rekordverdächtig laut aus, bevor sie ihre Decke beiseiteschiebt und den Wecker von Marys Nachttisch nimmt.

Das Ding ist hellrosa mit bunten Schmetterlingen an der Seite. Dass ich das so genau erkennen kann, verdanke ich sowohl der hellen Morgensonne, die es schafft, ihr Licht durch die dichten Vorhänge zu drängen und meinen doch sehr guten Augen.

Und hier haben wir übrigens den Beweis dafür, dass man niemals nach dem Aussehen urteilen sollte: Der Wecker sieht nämlich so aus, als würde er zum aufwachen Mozart spielen, und nicht den Ton der berühmten Psycho-Szene.

„Wie oft noch?!", zischt Christine aus zusammengebissenen Zähnen und schüttelt den Wecker, der durch die Bewegung endlich aufhört, dermaßen ohrenbetäubende zu klingeln. „Stell das Mistding noch ein einziges Mal und ich werfe es aus dem Fenster! Das ist kein Scherz!"

Mary seufzt und richtet sich langsam auf. Ihre Haare liegen unordentlich über ihrem halben Gesicht, und Mary greift zuerst nach ihrer Brille, bevor sie Christine ansieht: „Okay."

„Jedenfalls.", sagt Christine und dreht sich, immer noch mit dem Wecker in der Hand, zu mir um. „Guten Morgen."

Wir gehen nacheinander alle Zähne putzen, ziehen uns um und unterhalten uns quasi gar nicht, es sei denn, man zählt Christines durchgehendes Fluchen über den Wecker, das Wetter, den Wecker, die Sonne, den Wecker und die „ganze verdammte Schule" als Unterhaltung.

Es dauert eine Weile, bis ich mich im Ganzen wieder an die gestrige Nacht erinnere. Jetzt erscheint es mir wie ein unsinniger Traum, aber dafür kann ich mich zu gut an einige der Momente erinnern.

Zum Beispiel an das Zischen des Messers, als es neben mir durch die Luft flog. Denn, ganz ehrlich: Ein paar Zentimeter daneben, und ich hätte jetzt gerade ganz andere Probleme.

Die Frage jetzt ist, ob ich meiner Tante, aka Mrs Nuage davon erzählen soll.
Ich will mit irgendjemandem darüber reden, und aktuell ist meine Tante die einzige Person hier, der ich einigermaßen vertraue.
Andererseits: Wenn ich jetzt sofort zu ihr renne, ist das vielleicht zu auffällig -

„Hey, Genieve. Wir gehen runter frühstücken, kommst du mit, oder willst du deinen Stundenplan auswendig lernen?", ruft Christine mir zu.

Mary gähnt laut: „'Tschuldigung."

Auf den Fluren ist es leiser als gestern Abend. Die Jugendlichen, die herum laufen, sind wohl genug damit beschäftigt, gleichzeitig ununterbrochen zu gähnen und dabei nicht zu stolpern.

Miten auf der Haupttreppe steht die Direktorin. 

„Oh.", sagt Mary leise. „Ist was passiert?"

„Genieve Lysander.", sagt die Direktorin laut, und prompt drehen sich alle auf der Treppe zu ihr um, suchen nach dem Gesicht, dass ihnen noch relativ unbekannt ist, bis ihr Blick schließlich auf mir landet. „Ich möchte jetzt bitte kurz mit dir reden. Ihr anderen: Geht runter, frühstückt, macht einen Spaziergang – Hauptsache, ihr kommt pünktlich zu eurem Unterricht!"

Eilig laufen die Gestalten, die scheinbar kurzzeitig zu Statuen geworden sind, weiter hinunter. Mary winkt mir noch kurz zu, bevor sie Christine nacheilt.

„Folg mir.", sagt die Direktorin, bevor sie die Treppe langsam hoch steigt. Ich folge ihr langsam, versuche, die neugierigen Blicke zu ignorieren, die uns auf dem Weg zu ihrem Büro begleiten.

Glücklicherweise ist der Weg nicht besonders lang, und wir stehen schon nach höchstens zwei Minuten vor einer Tür mit der goldenen Aufschrift „Schulleitung". Darunter hängt ein Schild aus Messing, das den Namen der jetzigen Direktorin, also "Miss Moray", trägt.

Miss Moray drückt die Türklinke herunter, und setzt sich sofort hinter ihren großen, hölzernen Schreibtisch, fordert mich dazu auf, mich auf die andere Seite des Tisches zu setzten und genau das tue ich.

„Miss Lysander.", fängt sie an, und verschränkt die Hände. Es fühlt sich seltsam an, so angesprochen zu werden. Genieve ist immerhin noch mein echter Rufname, Ciel fühlt sich mittlerweile fast ebenfalls so an, als hätte er schon immer zu mir gehört, aber Lysander? Der Nachname ist einfach falsch.

Trotzdem nicke ich nur, als sie mich so nennt.

„Genieve.", fährt sie langsam fort. „Du bist neu hier.
Reiche Eltern, durchschnittliche Noten, mässiges Aussehen – trifft diese Beschreibung auf dich zu?"

„Nicht ganz."

Miss Moray lächelt, aber ich sehe keine Freude in ihren Augen: „Immerhin. Nun, Genieve.
Ich denke, ich muss dir die Regeln hier nicht noch einmal genaustens erklären. Es sind die typischen, die an allen Schulen gelten.

Pass nur bei einer Sache auf: Hier wird viel verschwiegen. Zu viel. Wenn du Morddrohungen erhältst, erwarte ich von dir, dass du einer erwachsenen Person davon erzählst. Verstanden?"

„Verstanden.", antworte ich und denke gleichzeitig nicht einmal ansatzweise daran, ihr von dem Messerwurf letzte Nacht zu erzählen.

„Du weißt vielleicht, dass du nicht das einzige Mädchen bist, das neu ankommen sollte.
Wir erwarteten ursprünglich außerdem Genieve Detroyt, die Tochter der, wie der Name schon verrät, erfolgreichen Detroyts, doch ihre Ankunft wurde kurzfristig abgesagt."

„Von wem?", frage ich, möglichst uninteressiert, und hoffe, dass meine Wangen gerade nicht allzu rot anlaufen.

„Natürlich von ihren Eltern selbst.", antwortet die Direktorin. Ihr linkes Augenlid zuckt. „Du wirst niemandem davon erzählen, dass noch eine zweite Person hätte ankommen sollen.
Zum Beispiel könnten Leute sonst annehmen, dass du Schuld an ihrer nicht-Ankunft sein könntest. Und wir wollen doch keinen Trubel, um ungelegte Eier."

„Ich soll also etwas verschweigen.", stelle ich unberührt fest. Miss Moray kneift die Augen ein wenig zusammen: „Ganz genau. Du weißt noch nicht, wie die Dinge hier laufen und vielleicht wirst du es auch nie erfahren."

„Ist das alles, was sie mir sagen wollten? Dass eine andere Schülerin es nicht geschafft hat, die Schule zu erreichen?"

„Nein. Es gibt noch etwas anderes:
Ich wünsche dir eine schöne Schulzeit.

Bei Fragen kannst du dich jederzeit an mich oder andere wenden, genau so bei jeglichen Problemen. Wir sind für dich da.

Hast du Fragen zu deinem Stundenplan?"

Die Direktorin mag es also, schnell die Themen zu wechseln und so einige aus der Bahn zu werfen.

„Nein. Aber ich habe eine andere Frage."

„Nur zu."

„Wieso haben sie anderen von meiner Ankunft erzählt, aber nicht von der, der anderen Genieve?"

Die Direktorin antwortet nicht direkt.

Spätestens jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass sie mehr über mich weiß, als sie zugibt. Genauer: Ich habe die vage Vermutung, dass nie vorgesehen war, dass Genieve Detroyt die Tenarc Academy erreicht.
Genieve Lysander war von Anfang die einzige, die das tun sollte.

Meine Eltern wissen garantiert, dass ich nicht tot bin.

Meine Tante hat mich garantiert angelogen, zumindest in einigen Punkten.

Und es ist mir noch nie schwerer gefallen, einen einigermaßen klaren Kopf zu behalten.
Es ist wirklich unglaublich, wie viel ein einziges, sehr kurzes Gespräch alles verändern kann.

[-1125 Wörter-]

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