22 - Muffins im Bademantel

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Geburtstage sind ätzend.

Als Kind freut man sich noch jedes Jahr, wenn es wieder soweit ist. Man wird von den Eltern mit Geschenken überhäuft, schmeisst eine Kinder-Geburtstagsparty mit viel Zucker und Luftballons und steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird gesungen, man darf die Kerzen ausblasen und jeder beglückwünscht einen, ein weiteres Jahr im Leben geschafft zu haben.

Sobald man erwachsen wird, ist das vorbei. Die Geschenke nehmen sowohl in Qualität als auch in Quantität ab, die Sänger singen schiefer, die Sirupgläser werden durch Alkohol ersetzt und es kommen immer weniger Menschen auf die Party. Am Ende bleibt einem nur noch die Familie. Leider verfüge ich selbst über das nicht mehr. Meine Familie ist schon seit langem zerbrochen, und so feiere ich meinen heutigen Geburtstag – wie fast jedes Jahr seit ich zwanzig bin – alleine mit mir selbst in meiner Wohnung.

Den Tag habe ich mir extra freigenommen, denn niemals würde ich an meinem eigenen Geburtstag arbeiten wollen. Das ist eine Regel, die ich, seit ich arbeite, immer durchgezogen habe. An meinem Geburtstag geht es nur um mich, da kann mir die ganze Welt gestohlen bleiben.

Patrick war so gnädig und hat es mir erlaubt, den Tag freizunehmen, denn ich habe gestern noch drei weitere Versicherungen verkauft, nachdem mir die Hexe Gerber mächtig Feuer unterm Arsch gemacht hat. Aber heute soll mein Ruhetag sein und es können mich alle mal kreuzweise.

Auch Chris, denn dieser Pfosten hat sich seit unserem Date im King's nicht mehr bei mir gemeldet. Ich habe zu grosse Angst, ihm eine WhatsApp-Nachricht zu hinterlassen, denn ich fürchte mich vor der Abfuhr. Lieber verstecke ich mich davor und bleibe im Ungewissen.

Ich liege in meiner Badewanne und höre Jack Johnson. Mein Gesicht und meine Haare habe ich seit langem wieder einmal in einer Maske eingelegt. Self Care ist nun mal wichtig.

Während ich den sanften Tönen von Jacks Gitarre horche, schweifen die Gedanken immer wieder zu meinem Feuerwehrmann. Selbst wenn ich aktiv versuche, nicht an ihn zu denken – ihn gar proaktiv zu hassen versuche – es klappt einfach nicht. Er sitzt wie ein Ohrwurm in meinem Kopf und will nicht mehr da raus.

Warum hat der sich noch immer nicht gemeldet? Woran könnte es liegen? Sowohl der gemeinsame Kochkurs als auch die Tanzeinlage im King's waren doch unvergessliche Momente, die wir miteinander verbracht haben. Oder irre ich mich vielleicht? Hat es ihm nicht so gefallen, wie mir? War ich zu peinlich?

Der Gedankensturm treibt mich in den Wahnsinn.

Seufzend entsperre ich mein Telefon, das ich auf den Rand meiner Badewanne gelegt habe und tippe ziellos darauf herum, öffne Apps, nur um sie dann sogleich wieder zu schliessen und dann wieder zu öffnen. Diese Warterei ist echt zermürbend. Ich verstehe nicht, wie mich Chris einfach so hängen lassen kann!

Normalerweise kann ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen und bei Chris hatte das einfach gestimmt. Er scheint ein richtig guter Kerl zu sein und ausserdem ist er so unglaublich attraktiv. Vielleicht muss ich mich einfach mit dem Gedanken abfinden, dass er ausserhalb meiner Liga ist.

Apathisch starre ich auf den Bildschirm meines Handys. Ich öffne den letzten Chat, den ich mit Chris hatte, welcher vom Abend unseres Dates im King's stammt. Sicherheitshalber fliege ich über die letzten Zeilen, die wir ausgetauscht haben, im verzweifelten Versuch einen Grund für sein Schweigen zu finden. Möglicherweise habe ich was Komisches geantwortet? Habe ich ihm ein Taschenfoto geschickt, das ihn abgeschreckt hat? Ein Doppelkinn-Selfie?

Meine Augen fliegen über unseren Chat, der auf den Freitag, 27.08.2021 um 23:27 Uhr datiert ist:

Hey Chris

Ja?

Es hat gerade jemand in meinen Bus gekotzt.

Nett :)

Aber hoffentlich nicht dein Sitznachbar

Nein

Woher weisst du, dass ich einen Sitznachbar habe?

Habe gesehen, wie der sich neben dich gesetzt hat

Ah.

Das hast du also gesehen

Ja

Netter Typ, nicht wahr?

Es geht so

Hat dich für meine Verhältnisse etwas zu lange angestarrt.

Ach, das ist doch nichts

Solche Blicke kriege ich jeden Tag

ständig

Ist das so?

Nein. Natürlich nicht

Gut

besser so

Schreib mir, wenn du bei dir zuhause angekommen bist.

Wirst du vorher nicht schlafen können?

Nein

Okay

Während der restlichen Busfahrt haben wir dann keine Worte mehr ausgetauscht, ehe ich ihm um Punkt 23:56 Uhr brav geschrieben habe:

So. Bin zuhause angekommen!

Daraufhin folgte keine Antwort mehr, was mich eigentlich nicht irritiert hatte, denn ich dachte mir, dass er vielleicht schon eingeschlafen sei. Aber nach vier Tagen kann ich das nicht mehr behaupten. Chris ghostet mich. Oder mag mich nicht.

Wenn man das rational betrachtet, ist es eigentlich eindeutig: Ich habe einmal mehr ins Klo gegriffen und mir zu viele Hoffnungen gemacht. Chris will nichts von mir, sonst hätte er mir geschrieben.

Ein schwerer Seufzer entkommt mir bei dem Gedanken. Mein Leben ist wirklich ein endloses Trauerspiel. In der Liebe will es nicht klappen. Auf der Arbeit werde ich nur noch gefoltert. Meinen Geburtstag feiere ich wieder mal alleine.

Wofür lebe ich eigentlich noch?

Wenn ich es mir recht überlege, dann könnte ich jetzt einfach mein Handy in die Wanne fallen lassen und dieser Tragikomödie namens Emmas Leben endlich ein Ende setzen. Wie einfach das wäre. Mein Telefon ist am Ladekabel angeschlossen. Der Stromschlag würde meinem Herz den nötigen Schock geben, um endlich aufzuhören zu schlagen. Ich blicke von meinen feuchten Händen, die das Telefon über der Wasseroberfläche halten, auf den Badeschaum. Einfach nur loslassen und die Sache wäre gegessen.

Ich denke nicht, dass ich tatsächlich den Mut hätte, das durchzuziehen, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich mit dem Gedanken spiele. Das tut wahrscheinlich jeder irgendwann einmal im Leben, sich die Frage stellen, ob man sich diese Scheisse eigentlich noch antun möchte.

Plötzlich knallt es draussen in meinem Flur, sodass ich aufzucke und mir doch tatsächlich mein Mobiltelefon fast aus den Händen gerutscht wäre. Ich kann es aber gerade noch auffangen und verhindern, dass ich mich halb aus Versehen, halb mit Absicht im Badewasser brate.

Mein Herz klopft panisch in meinem Brustkorb. Wie es aussieht, will ich doch noch nicht sterben.

Jemand ist in meine Wohnung gekommen. Das sollte mich mehr beunruhigen, als dieses doofe Telefon in meinen Händen. Ich lege es auf den Boden neben die Wanne und setze mich auf.

Schwere Schritte sind draussen zu hören, die in die Richtung meines Zimmers zu gehen scheinen. Gerade, als ich mich frage, wer das sein könnte, hallt die krötenartige Stimme meines Bruders durch die Bude: „Schwesterherz! Wo ist denn das fette Geburtstagskind?"

„Jonas", rufe ich, „bleib wo du bist, ich liege in der Badewanne!"

Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich kenne meinen grossen Bruder. Nichts hält ihn auf. Der wird garantiert gleich die Tür aufreissen. Ruckartig erhebe ich mich, was dazu führt, dass durch den extremen Abfall des Wassers in der Wanne ein Tsunami ausgelöst wird. Die Wellen schwappen über und machen alles klitschnass. Der Seifenschaum verteilt sich auf den Fliesen.

„Scheisse!", fluche ich.

„HO HO HO! Du bist naaaackt?", höre ich Jonas draussen lachen. Er nähert sich dem Badezimmer, das kann ich ganz klar hören. Seine schweren Schritte kommen näher.

„Wage es nicht! Du bist ein toter Mann, wenn du reinkommst!", brülle ich und springe aus der Wanne. Allerdings rutsche ich mit der Ferse am Boden aus und knalle der Länge nach hin.

Fast hätte mein Hinterkopf den Rand der Badewanne getroffen und ich wäre wahrscheinlich an einem Genickbruch krepiert, aber wenn es um meinen eigenen Tod geht, scheine ich mehr Glück im Unglück zu haben. Ich knalle nur auf meinen grossen Hintern, dessen Polster den Fall abfedern. Ein dumpfes Geräusch ertönt, als mein Körper den Boden küsst.

„Aua!"

„Hey, alles in Ordnung?", höre ich Jonas an der Tür sagen. Er hat sie nur leicht geöffnet und blickt nicht hinein. So viel Anstand hat er also noch. Seine eigene Schwester will er sicherlich nicht nackt sehen. Zum Glück.

Ich reibe mir die geprellte Stelle an der Hüfte und erhebe mich laut ächzend. Das gibt bestimmt wieder blaue Flecken. Na toll!

„Nichts passiert."

„Okay. Ich warte in der Küche. Habe eine Überraschung für dich", sagt Jonas und schliesst die Tür hinter sich.

Während mein Bruder in der Küche handwerkelt, wasche ich mir die Maske von Gesicht und Kopf, wickle meine Haare in ein weisses Handtuch und schlüpfe in meinen Bademantel. Auch wenn mich Jonas nervt, ich bin froh, dass er da ist. Die Einsamkeit tut mir nicht gut und wenn man verzweifelt einsam ist, da freut man sich über jede Nervensäge, die auf Besuch kommt. Auch über grosse Brüder.

Ich watschle vorsichtig aus dem übel zugerichteten Badezimmer, schwer darum bemüht, nicht ein zweites Mal auszurutschen. Aufwischen werde ich die Überschwemmung später.

„Warum ziehst du so eine hässliche Fresse?", begrüsst mich Jonas, als ich in die Küche trete.

Er sitzt am Tisch. Vor ihm liegt ein grosser weisser Karton, der sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Da kann ich gar nicht auf seinen dummen Kommentar reagieren. Diese mysteriöse Box ist viel zu spannend, als dass ich mich jetzt mit meinem Bruder raufen könnte.

„Du hast was mitgebracht?", frage ich und komme näher.

Jonas erhebt sich und breitet seine Arme aus.

„Alles gute zum Geburtstag, Schwesterherz!", meint er grinsend und wickelt seine langen Arme um mich.

Die Umarmung fühlt sich gut an. Ich erwidere die Zärtlichkeit mit geschlossenen Lidern, denn von meinem älteren Bruder kommt dies viel zu selten. Meistens liegen wir uns boxend, Haare raufend und Augen auskratzend in den Armen. Jetzt ist es aber bloss eine brüderliche Umarmung. Ich fühle mich sicher so nahe an seinem Herzen. Manchmal mag ich diesen Idioten halt doch.

„Hättest doch nicht extra kommen müssen", murmle ich, als er sich von mir löst und mir den weissen Karton auf dem Tisch näher schiebt.

„Ich lasse es mir doch nicht entgehen, meiner Schwester dabei zuzusehen, wie sie sich allmählich in eine faltige Antiquität verwandelt."

„Hey!", rufe ich aus und ziehe ihm eins über den Hinterkopf. „Ich bin erst sechsundzwanzig. Du bist dem Tod näher, als ich."

Jonas verdreht kopfschüttelnd die Augen. Er weiss ganz genau, dass mir die Alterung meines Körpers zu schaffen macht. Jedes Jahr muss er deswegen auch mehr Salz in die Wunde streuen.

„Jetzt halt mal die Klappe und öffne mein Geschenk", sagt er dann, um die Stichelei zu beenden.

Ich ziehe die weisse Kartonbox zu mir heran. Ein süsser Duft nach Schokoladengebäck steigt mir in die Nase und ich vergesse jegliche Feindseligkeit. Jonas hat mir Essen gebracht, da werde ich zahm wie ein Stubentiger.

„Fünfzehn Muffins?", rufe ich, als ich den Karton öffne und die säuberlich aneinandergereihten Schoko-Muffins zähle, die mich mit ihrem Zuckerguss anlächeln.

„Für dich und deine Freunde", sagt er, bereut es aber sogleich, denn ich blicke ihn vielsagend an.

„Jonas. Welche Freunde?"

Das freche Grinsen auf seinem Gesicht verschwindet. Ich weiss, er wollte mir einen Gefallen mit den Muffins machen, aber hat dabei völlig vergessen, dass ich – im Unterschied zu ihm – kein funktionierendes soziales Netzwerk habe. Viola mal ausgeschlossen, die mir heute Morgen eine nette Textnachricht hinterlassen hat. Ich habe keine Freunde.

„Dann sind die eben für dich und Hektor", meint er wohlwollend.

„Wer bitte ist Hektor?"

„Das hungrige Monster, das in deinem Magen lebt."

Ich verdrehe die Augen.

„Ha, ha. Sehr lustig."

Meine Stimmung ist wirklich im Keller. Selbst Jonas Schokoladen-Muffins können da nicht mehr helfen. Er blickt mich mit dieser brüderlichen Fürsorge an, bleibt aber still. Männer wissen nicht, was man in unangenehmen Situationen sagen soll. Und trösten können sie normalerweise auch nicht.

„So schrecklich, dein Leben?", stellt er die Frage, die so offensichtlich im Raum steht. Mir sieht man meine Lebensunlust halt einfach an.

„Ja. Bitte erlöse mich", seufze ich.

Jonas schüttelt den Kopf und holt einen Muffin aus dem Karton. Dieser befördert er mir direkt in den Mund, sodass ich fast daran ersticke. Ich werfe ihm einen empörten Blick zu.

„Iss", befiehlt er und nimmt sich selbst einen. „Und dann schüttest du dein Herz aus. Dafür hat man schliesslich einen grossen Bruder."

Kauend sitze ich da und knabbere an dem süssen Muffin. Der ist echt lecker! Schokolade ist wirklich Seelennahrung. Ich fühle mich automatisch besser. Vielleicht liegt das am vielen Zucker, der hier drin steckt und sich mit Freuden als Hüftgold auf meinem Körper ablegen wird. Zucker macht zwar fett, aber glücklich.

Jonas mustert mich vergnügt, während ich die süsse Sünde schlemme.

„Wen muss ich verkloppen?", fragt er.

„Niemand."

Das überzeugt Jonas aber nicht. Er hat dieselben Sensoren wie meine Mutter geerbt. Er spürt, dass ich lüge.

„Wie heisst der Dreckskerl? Was hat er getan?"

Seine Tonlage ist ernster und ich winke ab. So ernst ist es nun auch wieder nicht. Ist ja meine Schuld, wenn ich mich an die Hoffnung kralle, wie ein Schimpansenbaby an seine tote Mutter.

„Nichts hat er getan. Keine Sorge."

„Aha. Er schreibt dir also nicht mehr zurück", pfeffert Jonas die richtige Antwort auf den Tisch.

Ich höre erstaunt auf zu kauen und präsentiere ihm meinen offenen Mund voller Schokomuffin. Meine Reaktion verrät ihm, dass er ins Schwarze getroffen hat. Wie macht er das auch immer?

„Woher ...?"

„Das ist mein Grosser-Bruder-Instinkt. Und ich kenne Männer. Also, erklär mal. Wer ist er? Wie habt ihr euch kennengelernt? Die ganze Geschichte. Alles. Bis zur ausbleibenden Textnachricht."

Erst schüttle ich nur den Kopf, denn eigentlich will ich nicht mit Jonas über meine gescheiterten Dates sprechen. Aber mein Bruder besteht so lange darauf, bis ich ihm von Chris erzähle. Ich verrate ihm, dass er Feuerwehrmann ist und dass er mich aus der Schleuse geholt hat. Dass wir uns danach im Supermarkt wieder getroffen haben und dort unseren Spass gehabt haben.

„Naja, zwischen Olivenöl und eingelegten Makrelen hat er mich dann zum Kochkurs eingeladen. Weil er meinte, ich könne ja nicht kochen und er fand, er müsse es mir beibringen."

Jonas hört mir aufmerksam zu und nickt aufmunternd. Er sagt nichts, kommentiert keine meiner Schilderungen der peinlichen Momente, denen ich Chris bereits geboten habe, sondern hört einfach zu. Es fühlt sich gut an, mit jemandem darüber sprechen zu können. So richtig.

„Letzten Freitag haben wir uns in der Bar seines besten Freundes getroffen. Dort haben wir etwas getrunken, zusammen Dart gespielt und er hat mir das Tanzen beigebra–"

Jonas prustet drauf los und unterbricht mich in meiner Erklärung. Was soll das jetzt?

„DU und Tanzen? Emma? Bist du verknallt, oder was? Du würdest doch nie in deinem Leben auf eine Tanzfläche gehen! Da muss man dich an den Haaren herbeiziehen."

„Chris hat mich nur an der Hand nehmen müssen und ..."

Ich höre auf zu erklären, denn mein Bruder grinst spitzbübisch, was mir so auf die Nerven geht. Was ist denn daran so lustig?

„Junge, Junge. Der Kerl hat es drauf", staunt er. Ich höre die Bewunderung in seiner Stimme.

„Ja, hatte er", seufze ich und stütze mein Kinn auf der Hand ab. Mein Kopf ist mit diesem Handtuch auch echt schwer. „Aber jetzt antwortet er mir nicht mehr."

Jonas verschränkt die Arme vor der Brust und überlegt. Er scheint in sich hineinzublicken oder einfach zu überlegen, wie er seiner kleinen Schwester die schreckliche Nachricht überbringen kann: Ja, Chris will dich nicht, weil du ein hässliches Entlein bist, das viel zu tollpatschig ist. Männer wollen wollüstige Luder als Frau, die auf Plattform-Heels den niederländischen Holzschuhtanz vorführen können, ohne sich dabei einen Knöchel zu brechen. Kein Mann will einen solchen ungeschickten Zappelphilipp, wie ich es bin.

„Willst du einen guten Rat von deinem Bruder?", fragt Jonas nach einer Schweigeminute, die sicher meiner Würde gegolten hat.

„Eigentlich nicht", murmle ich und schlinge den restlichen Muffin hinunter.

„Komm schon." Er legt den Kopf schief. In seinen Augen funkelt kein Spott, also zucke ich bloss mit den Schultern. Soll er doch tun, was er will.

„Ich wehre mich nicht. Erhelle mich, oh grosser Jonas. Öffne mir die komplexe Welt der Männer, damit ich sie besser verstehen kann."

Er nickt und benetzt sich die Lippen mit der Zunge.

„Die Sache ist nicht so kompliziert, wie du denkst", meint er.

„Aha."

„Der Kerl ist eindeutig interessiert, sonst wäre er nicht schon zwei Mal mit dir ausgegangen und hätte dir diese", Jonas überlegt für einen kurzen Moment und sucht nach den geeigneten Worten, „Grenzerfahrungen beschert. Der Typ scheint abenteuerlich unterwegs zu sein. Einfach so lädt man keine Frau zu einem Kochkurs ein. Und schon gar nicht wird getanzt, wenn der dich für eine Pflaume gehalten hätte. Du bist ein knackiges Früchtchen und er will anbeissen."

Ich blinzle verwirrt und lasse die Worte auf mich wirken. Irgendwie glaube ich das meinem Bruder nicht. Er sagt mir das bloss, damit ich mich an meinem Geburtstag nicht schlecht fühlen muss.

„Wenn er dieses Interesse haben sollte, wie du behauptest, warum schreibt er mir dann nicht? Hm?"

„Was weiss ich? Warum muss er denn schreiben? Der ist doch sicher ein sehr beschäftigter Mensch. Männer schreiben nicht zurück, weil sie keine Zeit haben. Sie spielen keine "Wer-zuerst-schreibt-hat-verloren"-Spiele. Wenn der keinen Bock mehr auf dich gehabt hätte, wüsstest du das jetzt schon längst. Ich wette, der hat einfach viel um die Ohren."

Jetzt verschränke ich auch die Arme vor mir. Für dumm verkaufen kann ich mich selber.

„Er soll also nicht mal Zeit haben, um ein paar Zeilen auf dem Handy einzutippen? Er hat "so viel zu tun" und kann nicht mal drei Nanosekunden seines Lebens mir widmen?"

Jonas verdreht die Augen und breitet dann beide Hände auf dem Tisch aus, Handflächen nach oben, als würde er gleich zu Allah beten.

„Emma. Wenn du nicht warten kannst, dann geh du doch in die Offensive."

„Bitte was?"

„Er schreibt dir nicht? Schreib du ihm! Oder noch besser: Finde ihn und sprich mit ihm persönlich. Vielleicht ist er nicht so ein Texter. Vielleicht ist ihm das persönliche Gespräch lieber. Über Textnachrichten kann man Frauen eh ungewollt irgendwelche kryptischen Signale senden, von denen man nicht weiss, dass sie existieren. Die werden einem danach wieder an den Kopf geworfen–"

„Hast du Felicitas einmal mehr keine Antwort auf ihr "Ich liebe dich auch" gegeben?"

„Ja."

„Mmmmh. Diese Frau ist nicht gut für dich", haue ich zurück.

„Das habe am Ende immer noch ich zu beurteilen."

„Du kennst meine Meinung dazu."

„Ja und die ignoriere ich. Ich kenne Feli besser als du. Wir sind zusammen seit wir fünfzehn sind, da ist es normal, dass man zwischendurch Probleme hat. Aber ich liebe diese Frau und daran kann ich nichts ändern. Du gewöhnst dich besser an den Gedanken", ermahnt er mich und ich knurre nur in mich hinein.

Das ist wahrlich ein Gedanke, an den ich mich nie gewöhnen will. Jonas fährt in seiner Belehrung fort.

„Jetzt geht es aber um dich und nicht um meine Beziehungskrisen. Hör auf deinen grossen Bruder und schnapp dir den Kerl! Wir sind hier nicht im Mittelalter! Du musst nicht darauf warten, bis er dir eine Minne gedichtet und deine Vorfahren um Erlaubnis gebeten hat. Geh auf die Feuerwehrwache!"

Ungläubig blicke ich in die blauen Augen meines Bruders. Das kann er nicht ernst meinen. Sowas tut Emma nicht, das weiss er.

„Ich kann doch nicht einfach so bei ihm auf der Arbeit auftauchen", sage ich dann.

„Warum nicht?"

„Was wird der denn denken?"

„Die Olle will mich."

„So ein Quatsch. Der denkt sich doch eher: Was will die hässliche Klette jetzt wieder?"

Jonas seufzt laut und rauft sich die Haare.

„Emma", sagt er, „Männer sind simpel. Das Prinzip ist so einfach, dass es sogar du verstehen kannst."

Ich forme meine Augen zu Schlitzen und werfe ihm meinen ganzen Ärger über die Augen entgegen. Ständig muss er solche herablassende Kommentare einbauen, die nur von einem älteren Bruder kommen können.

„Jonas ...", knurre ich, aber er spricht einfach weiter.

„Er ist ein Mann und du bist eine schöne Frau. Er wird dich wollen, wenn du in die Offensive gehst."

Nach zwei Stunden quasseln und Muffins essen werfe ich Jonas im hohen Bogen aus meiner Wohnung. Es ist mein Tag und den will ich auch noch ein bisschen geniessen können, ohne meinen nervigen Bruder.

Ich seufze erleichtert, als ich die Tür hinter Jonas schliessen kann und ich wieder alleine in meiner Wohnung bin. Obwohl ich es wirklich sehr an ihm schätze, dass er für meinen Geburtstag extra auf Besuch gekommen ist, bin ich im Moment gerne wieder für mich.

Ich fühle mich nicht gut. Die Mischung aus Lebensfrust und Liebeskummer macht mir zu schaffen. Die Muffins, von denen ich schon drei gegessen habe, grinsen mich an. Seufzend greife ich zu meinem vierten.

„Happy Birthday", sage ich zu mir selbst und verschlinge ihn in vier Bissen.

Während ich auf die restlichen acht Muffins starre, die nur darauf warten, von mir verspeist zu werden, lasse ich mir die Worte meines Bruders durch den Kopf gehen. Er ist ein Mann und du bist eine schöne Frau. Er wird dich wollen, wenn du in die Offensive gehst.

So einfach kann das ganze doch nicht sein. Oder etwa doch? Meine romantischen Bücher und die Liebesdramen aus Hollywood haben mich eines gelehrt: Offensive Frauen gibt es nicht. Wir sind die arme damsel in distress und müssen gerettet werden, beziehungsweise unsere Herzen müssen von Prinz Charming erobert werden. Da steht nichts von weiblicher Proaktivität. Auch bei den Vögeln sind es immer die Männlein, die den Balztanz vorführen. Nie die Weibchen!

Denkt mein Bruder vollen Ernstes, dass ich das tun muss? Für eine Sekunde überlege ich mir, auf YouTube die Paarungstänze der Paradiesvögel in Brasilien anzusehen, besinne mich aber eines Besseren. Ich habe mit Chris getanzt und das hat ihn nicht überzeugt. Wenn ich jetzt wirklich noch nicht aufgeben möchte, dann werde ich zu anderen Mitteln greifen müssen. Mein Blick fällt auf die leckeren Muffins und da kommt mir eine Idee.

Ich werde Chris mit den Muffins bestechen.

Vielleicht steht er ja tatsächlich auf das traditionelle Frauenbild. Wenn dem so ist, dann werde ich behaupten, die Schoko-Muffins selbst gebacken zu haben. In einer Schürze. Nackt. Hauptsache ich kann ihn von mir überzeugen.

Ein kurzer Klick auf Google verrät mir, wo sich die Feuerwehrwachen von Zürich befinden. Ich suche in dem Bezirk, in welchem ich arbeite und in welchen Chris damals beim Feuer gerufen wurde. Da gibt es nur eine Feuerwehrstation: Wache Süd. Ich beschliesse, mich anzuziehen und mich auf die Suche nach meinem verschollenen Feuerwehrmann zu machen.

Mit einem Korb voller Muffins.

✵✵✵


Hallöchen meine Lieben

Die Weisheiten eines grossen Bruders. Hoffen wir mal, dass er Recht behalten wird.

Was meint ihr. Wird Emma Chris finden? Und wird sie ihn mit den Muffins von sich überzeugen können? ;-)

Wünsche euch ein tolles Wochenende!

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