27 - Zwei Wochen Verspätung

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Ich sitze auf meinem Stricksessel, die Kakaotasse in meiner Hand und träume vor mich hin. Eine ungewöhnliche Zufriedenheit hat sich seit dem Pizza-Abend mit Chris in mir breit gemacht. Vermutlich liegt es daran, dass ich dank ihm seit einer Ewigkeit wieder einmal soziale Kontakte gepflegt und tiefgründige Gespräche geführt habe. Oder vielleicht ist es die schlichte Tatsache, dass ich mit ihm in wenigen Tagen mehr erlebt habe als in den letzten zehn Jahren meines Lebens.

Und was noch abgefahrener ist: Ich kann jetzt Pizza backen – fast ganz alleine, mit selbstgemachtem Teig! Das grenzt an eine Weltsensation.

Ich schmunzle vor mich hin, während ich mich an den Abend zurückerinnere. Chris musste mir helfen, den Teig in die gewünschte Form zu bringen, denn so geschickt wie ein Pizzaiolo habe ich mich natürlich nicht angestellt. Er wollte, dass ich den Teig in der Luft schwingend in Form bringe, allerdings wäre die Scheibe fast auf dem Boden gelandet, denn sie flog mir aus den Fingern. Aber Chris konnte gerade noch rechtzeitig danach greifen. Teo und Maria haben sich köstlich über die Darbietung meiner Schusseligkeit amüsiert.

Nachdem wir die Pizza mit dem Sugo bestrichen und mit allen Zutaten beladen in den Ofen schoben, konnte ich mich über die Crostini mit Thunfischpaste und Olivenöl hermachen und meinen Mordshunger stillen.

Als die Pizza dann endlich fertig war und wir uns zum Essen wieder an den Tisch setzten, konnte ich ein Jubeln nicht unterlassen. Ich war ehrlich stolz auf meine Leistung, denn die Pizza sah wirklich perfekt aus. Fast wie eine, die man in einer Nebengasse in Rom in einer authentischen Pizzeria finden könnte.

Teo und Maria überhäuften mich mit Komplimenten zum Geschmack des Teiges. Dabei huschten meine Augen automatisch zu Chris, der meinen Blick mit einem triumphierenden Lächeln erwiderte.

Den Rest des Abends verbrachten wir gemütlich auf der Couch, bis sich dann Maria und Teo ins Gästezimmer verabschiedeten. Nicht lange danach entschied auch ich mich dazu, nach Hause zu gehen. Schliesslich war es mitten unter der Woche und ich musste am nächsten Tag zur Arbeit.

Chris fuhr mich nach Hause, denn er wollte sichergehen, dass ich heil in meiner Wohnung ankomme. Wir verabschiedeten uns mit einem flüchtigen Kuss auf die Lippen.

Eine Woche ist seither vergangen und ich komme aus meiner Schwärmerei nicht heraus. Egal, was es ist, ich will nicht, dass es aufhört. Ich mag Chris immer mehr und ich weiss, was das bedeutet. Ich habe mich heftig in ihn verknallt. Wenn da was schiefgehen sollte, dann wird es weh tun. So richtig.

Jäh werde ich durch die Klingel meiner Haustüre aus allen sieben Wolken gerissen. Ich erhebe mich und begebe mich seufzend zur Türe. Schon wieder unangekündigter Besuch? Wer das wohl sein könnte?

Schwungvoll reisse ich die Türe auf.

„Papa?", rufe ich entrüstet, als ich meinen Erzeuger vor mir erblicke.

„Überraschung!", jubelt er.

Er breitet die Arme aus und kommt auf mich zu. Da ich im engen Eingang stehe, habe ich kaum die Möglichkeit, seinen Tentakeln auszuweichen und so muss ich die väterliche Umarmung über mich ergehen lassen.

Für Menschen, die ihren Vater leiden können, ist eine solche Umarmung das, was ein miserabler Tag in den besten aller Zeiten verwandeln kann. Es bringt Geborgenheit, das Gefühl von Sicherheit, Vertrauen und Liebe mit sich. Normalerweise. In funktionierenden Familien.

Nicht aber bei mir. Mein Vater ist ein Idiot und diese Heuchelei geht mir mächtig auf den Zeiger. Das letzte Mal habe ich ihn vielleicht vor einem Jahr gesehen. Innerlich explodiere ich fast, als er seine Arme um mich schlingt und mir höflich auf die Schultern klopft.

Auch wenn ich mich ihm nicht verbunden fühle, schaffe ich es nicht, ihm diese Umarmung zu verwehren. Keine Ahnung, ob es das verletzte kleine Mädchen in mir ist, dass sich heimlich eben doch nach der Zuneigung des nicht existenten biologischen Vaters sehnt.

„Alles Gute, Töchterchen", sagt er und löst sich wieder von mir.

Er hält mich an den Schultern fest und mustert mein Gesicht, das ihn etwas überrumpelt anstarren muss.

Wofür gratuliert mir der jetzt? Dafür, dass ich schon zwei Mal mit Chris rumgemacht habe? Dass ich im Vertrieb meinen ersten Erfolg feiern konnte? Wohl kaum.

„Bist gross geworden, Kind!", fügt er an. Er stützt seine Hände in die fleischige Hüfte und nickt mir anerkennend zu.

Ich? Gewachsen? Von wegen. Seit er mich das letzte Mal gesehen hat, bin ich 0,02 Zentimeter geschrumpft.

„Hallo", murmle ich wenig begeistert.

Ich verstehe zwar gerade nicht, was mein Erzeuger von mir will, aber lasse ihn widerwillig in meine Wohnung. Er kommt vorsichtig herein, setzt nur zögerlich einen Schritt vor den anderen. Interessiert blickt er um sich.

„Hier wohnst du also."

Mein Vater befand sich noch nie in meinen eigenen vier Wänden. Aus dem einfachen Grund, dass es ihn schlichtweg nicht interessiert, wer ich bin, wo ich lebe und was ich tue. Umso mehr ist es erstaunlich, dass er jetzt hier ist.

„Woher hast du meine Adresse?"

Das frage ich ihn gleich, denn ich habe sie ihm definitiv nicht gegeben. Eher hätte ich meine Anschrift dem Bäcker gleich um die Ecke verraten, damit er mir die Brötchen ins Schlafzimmer liefern kann. Aber sicher nicht ihm!

„Sandra", antwortet er.

Ich seufze laut. Meine Mutter also, diese Verräterin. Sie denkt noch immer, ich müsste eine halbwegs normale Beziehung mit ihm führen, obwohl sie weiss, dass es unmöglich ist. Und ausnahmsweise mal nicht wegen mir.

„Was willst du hier? Dir ist schon klar, dass man sich normalerweise ankündigt, wenn man zu Besuch ist. Besonders bei Fremden."

Ich hoffe, dass der zynische Kommentar sitzt, aber mein Erzeuger ignoriert es, so wie er mich die letzten fünfundzwanzig Jahre ignoriert hat. Das kann er ja so gut.

„Heute ist doch dein Geburtstag!", sagt er mit einer solchen Überzeugung, dass ich für den ersten Moment tatsächlich nachdenken muss. Mein Geburtstag war doch vor zwei Wochen, oder irre ich mich?

„Nein?"

„Wie, nein?"

„Heute ist nicht mein Geburtstag", korrigiere ich seinen Fehler und verschränke die Arme vor mir.

War ja klar, dass er sich ein solch unwichtiges Datum nicht merken kann. Wirklich überrascht bin ich nicht, aber dennoch enttäuscht. Selbst wenn meine Erwartungen praktisch auf null geschraubt wurden, er schafft es ständig, mir weh zu tun. Ich atme tief ein und aus und bemühe mich, Chris' Worte, die mir in dem Moment in den Sinn kommen, ernst zu nehmen. Bemüht er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten, ein guter Vater zu sein?

Ich blicke meinen Erzeuger von der Seite an. Er wirkt unbeholfen, wie er in der Wohnung seiner erwachsenen Tochter steht, die er kaum kennt. Ach, scheisse! Dann kriegt dieser Mistkerl heute eben eine Chance von mir. Der soll sich bei Chris bedanken, dass ich meine Mauern runterfahre. Die Mauern, die ich seit Jahren als Wall gegen die seelischen Verletzungen aufgebaut habe.

Ich deute mit dem Daumen in die Küche und bitte ihn, mir zu folgen. Er setzt sich an den Esstisch, während ich ihm einen Kaffee mache. Ich will ja selbst bei unerwünschtem Besuch eine gute Gastgeberin sein.

Die Kaffeemaschine brummt laut.

„Und?", breche ich das betretene Schweigen zwischen uns. „Wie läuft dein Leben so?"

Smalltalk ist wirklich nicht meine Stärke, insbesondere nicht mit diesem mir so fremden Menschen. Kaum zu glauben, dass ich 50% seiner Gene geerbt habe.

Ohne es zu beabsichtigen, habe ich ihm mit meiner Frage das Stichwort gegeben, um einen 15-minütigen Monolog über seine Arbeit zu halten. Mein Vater ist Mathematikwissenschafter und rechnet an ganz wirren Dingen herum, die kein normaler Mensch mit der Gehirnkapazität eines gewöhnlichen Homo Sapiens jemals nachvollziehen könnte. Ich erfahre, dass er an einem ganz wichtigen Projekt mit dem MIT in Boston zusammen arbeitet und sie kurz vor dem Durchbruch von irgendeinem mathematischen Problem stehen.

Mein Vater löst Probleme. Aber nur hypothetische Knacknüsse. Nicht die Probleme des echten Lebens, sondern nur solche, die es auf Papier gibt, denn die schreien nicht zurück, wenn man sie verärgert. Sie existieren einfach für immer und ewig stumm auf dem Dokument und warten darauf, von irgendeinem Genie behoben zu werden. Anders verhalten sich die Angelegenheiten des echten Lebens. Familiäre Probleme zum Beispiel. Da wird geschrien und es fliegen manchmal sogar die Fetzen. Papier ist geduldig, Menschen sind es nicht. Deshalb bevorzugt er das Papier.

„Und wie geht es der Kleinen?", frage ich weiter, ohne mich wirklich dafür zu interessieren.

Mit der Kleinen meine ich das Monstrum, das mein Vater mit einer anderen Frau gezeugt hat – meine zehnjährige Halbschwester.

Lisa.

Obwohl wir uns fast dieselben Gene teilen, erkenne ich sie nicht als meine Schwester an. Ich habe nichts mit dieser Kreatur gemeinsam, noch will ich jemals was mit ihr zu tun haben. Bisher hat das auch ganz erfolgreich funktioniert.

In der etwa gleichen Länge wie zuvor, beginnt mein Vater nun von seiner anderen Tochter zu schwärmen. Ich erfahre, welche schulischen Glanzleistungen sie vollbracht hat, dass sie Ballett tanzt und gerne zeichnet. Der väterliche Stolz ist ihm deutlich anzusehen und ich kann nicht vermeiden, dass es mir einen Stich versetzt. Meine Hobbys kannte er nie, als ich im selben Alter war wie Lisa. Dass ich schon immer gerne gestrickt habe, ging ihm am Arsch vorbei.

Nicht, dass ich mir wünschte, er wäre genauso stolz auf mich wie auf seine zweite Tochter, aber ihm dabei zuzusehen, wie er mir über wunderbare Erlebnisse mit seinem Kind erzählt, die ich selbst allesamt mit ihm nie erfahren durfte, tut weh – ob ich es zu verleugnen versuche oder nicht. Das Mädchen hatte im Gegensatz zu mir einen Vater – meinen Vater.

„Und wie gehts dir?", fragt er dann, als ob es ihm selbst aufgefallen wäre, dass nur er bisher geredet hat.

„Ganz okay", antworte ich platt.

Mein Erzeuger nickt verständnisvoll und schiebt dann die Tasse zur Seite.

„Du, hör mal. Wenn ich schon mal hier bin. Ich wollte dich noch was fragen."

Das war wohl alles, was er von mir und meinem Leben wissen wollte, denke ich mir. Immerhin sollte ich ihm für diese eine Frage applaudieren.

Ich presse die Arme fester an meinen Körper. Es ist mir nicht mehr wirklich wohl bei der Sache, ihn hier in meinem Zuhause zu haben. Er ist ein Eindringling und jetzt wird er mich wahrscheinlich gleich um einen Gefallen bitten. Das hat er in der Vergangenheit schon oft abgezogen. Nach Monaten der Stille nichts von sich hören zu lassen und dann mit einem Wunsch oder einer Bitte aufzutauchen.

„Aha?" Mein Zähneknirschen muss er gehört haben.

„Lisa wünscht sich etwas Besonderes auf den Geburtstag. Sie will ihre grosse Schwester endlich kennenlernen!", sagt er und blickt mich erwartungsvoll an.

„Halbschwester", antworte ich bloss. Meine Stimme klingt nicht nett, denn ich will nicht freundlich sein. Die Mauern fahren bereits wieder hoch, denn ich ahne schon, dass meine Wunden aufreissen werden, wenn ich mich nicht sofort selbst schütze.

„Emma", seufzt mein Vater.

„Kann sie vergessen", fauche ich.

Die Wut in meinem Inneren kocht hoch, erhitzt mir mein zuvor noch zufriedenes und friedliches Gemüt.

„Emma, sie wird elf. Wie kann ich meinem Kind den Wunsch verwehren? Wie kannst du ihr–", argumentiert er, aber ich falle ihm ins Wort, denn jetzt hat er meinen Hass gezündet.

„Was willst du mich jetzt in die Verantwortung ziehen? Ich schulde ihr gar nichts. Du hast sie gezeugt, ich hatte da kein Mitspracherecht!"

„Emma, sie ist deine Schwester."

„Sie ist meine verfickte Halbschwester! Kann das mal in deine scheiss Birne rein? Uns verbindet rein gar nichts miteinander! Du schon gar nicht, denn du bist für mich kein Vater!", herrsche ich ihn an.

Aus Wut haben sich Tränen in meinen Augen gebildet, die ich energisch wegstreiche. Er schafft es auch immer wieder, mich zum Explodieren zu bringen, dieser Mistkerl. Mein Erzeuger geht in die Defensive und lässt mich wie eine egoistische Kuh dastehen.

„Sie ist doch nur ein Kind und hat einen harmlosen Wunsch. Was soll ich ihr denn als Antwort sagen?"

„Was fragst du mich? Das ist mir doch schnuppe, was du ihr sagen wirst. Du bist ihr Vater, das hast du zu wissen! Sag ihr doch einfach, dass ich keinen Bock habe, sie kennenzulernen, weil ich nicht sehen will, wie mein Vater aus den Scherben meiner Familie eine neue gebastelt hat!"

Mein Herz klopft wild in meinem Brustkorb. Wut ist eine Emotion, die ich nicht gerne verspüre, denn ich befürchte dabei, komplett die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren.

Er seufzt tief und schüttelt den Kopf.

„Mit dir kann man auch nie vernünftig sprechen. Kannst du nicht über die ganze Sache hinwegsehen? Kannst du nicht einmal ein Auge zudrücken?", meint er, was mich nur weiter zur Weissglut treibt.

Ich knalle die Faust auf den Tisch, sodass die Tassen klirren.

„Was denkst du eigentlich, wer du bist? Kommst hier rein, heuchelst vor, du seist zu meinem Geburtstag da – der übrigens zwei Wochen her ist – und dann willst du, dass ich dir den Wunsch deiner anderen Tochter erfülle? Sag mal, schleift's eigentlich noch?", brülle ich.

Er zieht die Schultern hoch. Ich bin das unlösbare mathematische Problem in seiner Rechnung, das zurückschreit. So ein introvertierter Kopfmensch, wie er es ist, kann mit dem Mysterium "Gefühle" schlicht nicht umgehen. Er ist total überfordert, das sehe ich an den Falten auf seiner Stirn.

„Können wir das nicht mal sachlich anschauen?"

Jetzt holt er das Objektivitätsargument hervor. Typisch für einen Wissenschaftler. Man kann ja jedes Phänomen aus der Perspektive des Beobachters betrachten. Leider ist das beim Thema "meine zerstörte Familie" ein bisschen schwierig, denn ich trage die langfristigen psychischen Konsequenzen einer Hass-Scheidung schon eine ganze Weile mit mir rum. Da ist Objektivität bei aller Wissenschaftlichkeit schlicht unmöglich.

„Nein, können wir nicht. Ich will Lisa nicht kennenlernen. Ich will nichts mit ihr zu tun haben. Ich will einfach in Frieden mein eigenes Leben leben. Brauchst du die mathematische Formel dafür?", knurre ich.

Er senkt den Kopf.

„Und jetzt will ich, dass du gehst", füge ich an.

Ich zeige mit dem Finger zur Tür. Er war schon dreist genug, so etwas Unerhörtes von mir zu verlangen, da darf ich ihn rausschmeissen. Das ist schliesslich noch immer meine Wohnung und mein Leben. Das zerstört er nicht noch einmal.

Seine Augen suchen die Bindung mit mir, aber ich blicke ihn nicht an, sondern starre zu Boden, den Arm noch immer zum Ausgang gestreckt. Eine Träne läuft mir die Wange runter, wofür ich mich am liebsten selbst eine hauen würde.

Warum kann ich mich einfach nicht zusammenreissen?

„Okay, Emma. Ich gehe", sagt er geschlagen und steht auf.

Mit der grössten Selbstbeherrschung, die ich aufbringen kann, blicke ich ihm hinterher. Ich sehe, wie er die Türe vorsichtig hinter sich schliesst und mich in meiner Wut und Trauer alleine stehen lässt.

Mit bebenden Händen fahre ich mir übers Gesicht und da ist es um mich geschehen. Der Druck in meinem Brustkorb löst sich und ich heule los. Ich zerbreche innerlich in tausend Stücke.

Na toll. Hat er wieder gut hingekriegt, dieser Dreckskerl. Jetzt ist die gute Laune, die ich vorhin noch hatte, verflogen. Schluchzend gehe ich in mein Zimmer und verkrieche mich unter meine Decke. In solchen Momenten fühle ich mich nicht wie eine Erwachsene. Ich fühle mich verletzlich und schwach wie ein zurückgelassenes Kind.

Während ganzen zwei Stunden liege ich in meinem Bett und rege mich über mein Leben auf. Irgendwann versiegen die Tränen, nur noch die Wut fliesst durch meine Blutbahnen. Wenn ich einen Boxsack hätte, würde ich den windelweich schlagen, bis die Sägespäne – oder womit auch immer die gefüllt sind – mir um die Ohren fliegen.

Ich fühle mich unruhig und aufgekratzt.

Seufzend krame ich mein Handy hervor und starre auf den Bildschirm. Ich habe das dringende Bedürfnis, Chris' Stimme zu hören. Keine Ahnung, weshalb, aber bei ihm habe ich das Gefühl, dass die Welt in Ordnung ist. Dass meine Welt in Ordnung ist. Dass ich in Ordnung bin. Meine innere Unruhe schafft er mit seiner Lockerheit zu vertreiben.

Ich klicke auf seinen Namen. Mein Finger zittert über der Anruftaste. Soll ich Chris wirklich anrufen?

Ich zögere.

Er könnte auf der Wache sein und keine Zeit zum Telefonieren haben. Möglicherweise ist sein Sohn bei ihm und er wird nicht mit mir reden wollen. Vielleicht liegt gerade eine blonde nackte Frau bei ihm im Bett, die ihm gehörig einheizt. Da würde er meine Stimme sicherlich nicht hören wollen.

Ich schüttle den Kopf. Nein. So ist Chris nicht. Wenn er jetzt keine Zeit hat, wird er sich die später nehmen. Mein Daumen drückt auf die Taste. Augenblicklich geht mein Herz in den Panik-Rhythmus einer Spitzmaus über.

Es tutet. ES TUTET!

„Hallo?", nimmt die altbekannte Stimme, die mich aus der Bahn des Lebens wirft, den Anruf entgegen.

Ich will sprechen, aber meine Stimmbänder versagen. Ein unverständliches Krächzen entkommt meinem Rachenschlund. Ich klinge wie ein Frosch mit einer schlimmen Erkältung.

„Emma? Alles in Ordnung?", fragt Chris auf der anderen Seite des Hörers. Er klingt irgendwie ausser Atem.

„Hey, ja." Ich räuspere mich. Für Chris muss sich das wie das Keuchen eines passionierten Rauchers klingen, der vergeblich versucht, den Schleim in seinen sterbenden Lungen ans Tageslicht zu befördern. „Störe ich dich bei was Wichtigem?"

Bei der Arbeit? Beim Spielen mit deinem Kind? Beim heissen Sex mit einer Blondine? Bei deinem Leben?

„Nein, tust du nicht. Ich bin gerade beim Joggen, Intervalltraining. Kann aber kurz eine Pause machen. Was gibt's denn? Alles okay?"

Ich vernehme durch den Hörer, wie ein Auto an ihm vorbeifährt. Er muss draussen irgendwo in einem Park sein. Der Kloss in meinem Hals wird grösser und hindert mich wieder am Sprechen. Mein Kinn bebt. Schluckend versuche ich ihm zu antworten, ohne dass er meinen Kummer bemerkt.

„Ehrlich gesagt ...", bringe ich hervor, aber meine Stimme bricht. Der Kloss drückt schmerzhaft gegen meinen Kehlkopf. „Nein."

„Ist irgendwas passiert? Soll ich vorbeikommen?"

Chris ist ehrlich um mich besorgt. Das allein wärmt mir das Herz. Ich schüttle den Kopf und wische die Träne weg, die meine Backe herunterkullert.

„Nein, schon in Ordnung. Ich ... Es ist nur mein Vater. Er war hier."

„Oh", sagt er dann und für einen kurzen Augenblick ist es still.

Er weiss, wie sehr mich die schwierige Beziehung mit meinem Vater mitnimmt. Einerseits suche ich Trost bei Chris und mein Gefühl sagt mir, dass ich das bei ihm auch finden werde. Gleichzeitig tut es mir aber leid, dass er über meine Erlebnisse sehen muss, wie mies es einem Scheidungskind gehen kann. Das ist wirklich unschön. Allerdings brauche ich ihn gerade wirklich sehr. Oder einfach nur sein Ohr.

„Hat er es verbockt?", fragt er in die Stille.

„Mhm."

„Schlimm?"

„Mhm."

Schlimm? Ja, für mich schon. Ich schniefe hörbar und greife zu einem Taschentuch, um mir die tropfende Nase zu putzen. Weinen ist wirklich doof und meistens kriegt es auch nur mein Erzeuger hin, meine Tränensäcke zu aktivieren.

„Was hat er getan?", hakt er vorsichtig nach.

Erst will ich ihm nicht davon erzählen, aber er insistiert, dass ich es ihm sagen soll. Und in dem Moment, als ich die Last von der Seele spreche, fühle ich mich automatisch besser. Das hatte ich so bisher noch nie. Jemand, der mir zuhören wollte. Jemand, der von meinen privaten Problemen erfahren wollte. Der die Scherben meiner Familie und die Wunden, die es auf meiner Seele hinterlassen hat, sehen wollte.

Ich schildere Chris in einer möglichst sachlichen Kurzfassung, wie mein Vater unter dem Vorwand, er wolle mir zum Geburtstag gratulieren, sein Anliegen näher gebracht hat.

Chris wirkt ziemlich fassungslos und bestätigt mich durch seine Reaktion in meinen Gefühlen. Es ist schön, zu hören, dass jemand nachvollziehen kann, was sowas in einem auslösen kann. Normalerweise wird mein psychischer Zustand immer in Frage gestellt. Nicht aber von Chris. Er scheint mich zu verstehen.

„Das hast du nicht verdient, Emma. Tut mir aufrichtig leid", besänftigt er mich.

Ein langer Seufzer lasse ich hören, ehe ich mich mental wieder aufraffe. Eigentlich will ich nicht im Selbstmitleid versinken. Es ist, wie es ist und ich habe damit klarzukommen.

„Ach, wird schon", sage ich die Worte, die ich schon tausend Mal von mir gelassen habe, wenn Freunde oder Bekannte mein erbärmliches Familientrauerspiel anhören mussten. „Du hast mich aufgemuntert. Alles wieder gut."

„Was? Das habe ich schon geschafft?"

„Ja. Hast du."

„Wie denn?", ruft er. „Ich habe ja noch gar nichts gemacht."

„Egal. Deine Stimme hat mir schon gereicht."

Es rauscht im Hörer und ich vermute, dass Chris an einer Strasse entlang geht. Ein lautes Geräusch ertönt, welches ich nicht wirklich einordnen kann.

„Weisst du was? Ich habe da eine bessere Idee", sagt er dann.

Ich werde hellhörig. Bisher standen Chris' Ideen immer mit verrückten Abenteuern in Verbindung. Seine Einfälle sind für meinen Geschmack sehr aussergewöhnlich. Da muss ich Vorsicht walten lassen.

„Was für eine Idee?", frage ich misstrauisch.

„Ich lade dich zu mir zum Essen ein. Abendessen. Nur wir zwei, guter Wein und richtig leckeres Filet Mignon."

Er lässt sein Angebot in der Luft hängen und gibt mir Zeit, die Worte zu verarbeiten. Zu verstehen, was er mir da gerade angeboten hat. Seine Stimme klang locker, aber eine leichte Anspannung habe ich dennoch herausgehört. Oder vielleicht mache ich mir bloss was vor.

„Ein Abendessen zu zweit?", erkundige ich mich sicherheitshalber. Das klingt gar nicht mal so wild oder verrückt.

„Ja", bestätigt er, „und ich koche. Du musst nicht helfen. Du darfst lediglich zuschauen und dich exzessiv auf der Couch betrinken."

Meine Mundwinkel werden augenblicklich in die Höhe befördert.

„Das klingt ... wirklich schön. Also das Betrinken natürlich. Das Kochen deinerseits habe ich erwartet."

Er lacht und wenn er in dem Moment vor mir gestanden wäre, hätte ich ihn angesprungen und abgeknutscht. Dieses Lachen lässt mein Herz höher schlagen. Es zu hören ist eines, es aber an seinem Gesicht zu sehen ist was ganz anderes. Da vergesse ich die Welt um mich herum.

„Bist du sicher, dass du Zeit dafür hast? Ich will dir wirklich nicht auf den Füssen herumtreten", murmle ich.

Das meine ich wirklich so. Selbst wenn ich hoffe, dass er für mich keine Mühen scheuen würde, will ich dennoch sicherstellen, dass es sein freier Wille ist, mit mir einen Abend zu verbringen.

„Das tust du nicht, Emma. Ich wollte dich ehrlich gesagt eh schon fragen, aber ... naja habe mich nicht getraut. Jetzt ist es raus. Lust auf ein Candlelight Dinner mit mir? Diesen Freitag?"

Ich muss mich richtig doll zusammenreissen, um nicht am Telefon vor Freude laut aufzujauchzen. Oder zu kreischen. Oder zu grunzen. Oder zu lachen. Eigentlich würde ich gerne jubeln. Oder gerade triumphierend grölen. Aber das könnte Chris erschrecken, also beherrsche ich mich.

„Candlelight Dinner chez Chris?"

„Ganz genau."

„Okay", sage ich so unaufgeregt wie möglich, obwohl ich innerlich platze.

„Schön. Ich werde dir die schlechte Laune schon vertreiben können", meint er und ich bin mir sicher, wenn ich ihn anblicken könnte, hätte er mir in dem Moment zugezwinkert.

„Das wird aber nicht einfach", entgegne ich. „Ich bin ein anspruchsvolles, launisches, impulsives Ding."

„Ich liebe nichts mehr, als eine richtig gute Herausforderung."

Damit beendet er unser Telefonat. Ich starre eine ganze Weile lang noch auf den abgedunkelten Screen meines Handys. Mein Herz klopft unter meinen Rippen bei dem Gedanken, dass mich Chris wieder zu sich nach Hause eingeladen hat.

Und dieses Mal werden wir alleine sein.

Ich zucke so heftig zusammen, dass ich mir fast den Nacken verknackse. Vor lauter Rumsäuselei mit meinem Feuerwehrmann habe ich etwas ganz Wichtiges vergessen: Ich trage seit Monaten eine Vollbehaarung zwischen meinen Beinen! Das ist absolut inakzeptabel. Meine Scham-Vokuhila muss dringend weggemacht werden!

Bevor ich bei Chris' romantischem Abendessen antanzen kann, muss ich meinen Körper unbedingt einer Generalüberholung unterziehen. Chris darf den Neandertaler-Haarschnitt meines Schosses niemals zu Gesicht bekommen. Falls es natürlich überhaupt soweit kommen sollte und wir uns gegenseitig die Kleidung vom Leib reissen.

Was ich heimlich doch sehr hoffe.

✵✵✵


Hello ihr Schnecken

Leider können Elternteile manchmal richtig mies sein. Emma hat da kein so grosses Glück was ihren Erzeuger anbelangt.

Aber hey, ein Candlelight Dinner mit dem Feuerwehrmann. Was da wohl passieren wird...?

Habt einen guten Wochenstart!

Hab euch lieb!

Eure Fleur

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