42 - Die fünftägige Selbsttherapie

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Tag 1

Was ist es eigentlich, das weh tut? Während ich draussen die Regentropfen beobachte, die am Glas meines Fensters herunterkullern und kleine schlangenartige Formen hinterlassen, versuche ich diese Frage für mich zu ergründen.

Ist es mein Herz, das schmerzt? Oder ist es was anderes? Ist es meine Seele, die um Erbarmen schreit, weil mein Vertrauen missbraucht und mit Füssen getreten wurde?

So sehr ich auch versuche, einen Grund zu finden, warum das Ziehen in meiner Brust nicht aufhören will, warum die Taubheit meiner Sinne nicht abflachen will, ich finde es nicht.

Es ist alles.

Und es ist nichts.

Seit gestern sitze ich eingesperrt in meiner Wohnung. Habe weder was gegessen noch mit Menschen gesprochen. Mein Telefon ist noch immer ausgeschaltet. Ich habe keine Lust mehr am normalen Leben teilzunehmen.

Auf meinem Laptop läuft bereits der vierte Liebesfilm. Ich konnte es nicht unterlassen, schnulzige Filme zu schauen und mir dabei ein weiteres Mal die Augen auszuheulen. Hat es was gebracht? Nein. Fühle ich mich besser? Nicht sonderlich.

Deswegen habe ich beschlossen, den Rest der Woche von der Arbeit fernzubleiben. Gott sei Dank ist mein Arbeitgeber grosszügig genug und verlangt erst ab dem fünften Krankheitstag ein ärztliches Attest. Kurz habe ich mir ernsthaft die Frage gestellt, ob ich mir eines wegen eines gebrochenen Herzens ausstellen lassen soll. Dann ist mir aber wieder in den Sinn gekommen, dass ich in drei Wochen ja mein Verkaufsziel erreicht haben muss, weil ich sonst von meiner Chefin rausgeschmissen werde und dann noch in der Gosse lande.

Ich habe eigentlich keine Zeit, um krank zu sein.

Die nächsten fünf Tage müssen reichen, um mich von diesem Desaster zu erholen. Heute unterziehe ich mich der Konfrontationstherapie. Das ist meine eigens entwickelte Methode, um den Kummer zu überwinden: Ich konfrontiere mich selbst mit der kitschigen Welt der Liebe und Romantik, um sie ins Lächerliche zu ziehen und danach hoffentlich zu merken, dass ja alles halb so schlimm ist, denn wer bitteschön ist so blöd und verschenkt sein Herz an einen anderen Menschen.

Das ist der Effekt, den ich mir zumindest erhoffe. Ich weiss aber noch nicht, ob es klappen wird.

Seufzend wende ich mich vom Fenster ab und blicke auf meinen Laptop. Neben dem Fenster, auf welchem die amerikanische Liebeskomödie 500 days of Summer läuft, strahlt mir mein privater E-Mail-Posteingang entgegen. Ich muss Patrick über meine Abwesenheit informieren, damit der nicht Panik schiebt. Mein letzter menschlicher Kontakt, bevor ich mich ins schwarze Loch begebe und erst in fünf Tagen wieder herauskrieche. Hoffentlich als neue, abgehärtete, weniger emotionale Version meiner selbst.

Tag 2

Die Konfrontationstherapie hat wenig geholfen. Ich habe nur geheult wie ein Schlosshund und mich selbst, mein Leben und alle Leute darin aufs übelste verabscheut. War wohl nicht so ein schlauer Gedanke, gleich am ersten Tag sich auf die emotionale Achterbahnfahrt von Hollywood-Filmen zu begeben. Am Ende wollte ich mir nur selbst die Kehle aufschlitzen.

Ein neuer Therapie-Ansatz muss her: Sinnloses Besaufen.

„Alkohoooool ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot. Das Dressing für deinen Kopfsalaaaat", lalle ich mit dem Lied von Herbert Grönemeyer mit, das ich gefunden habe, als ich mich stundenlang in den YouTube-Strudel begeben habe und nicht mehr rausgekommen bin.

Von Welpengeburten, Do-It-Yourself-Bikinizone Wachsanleitungen, die zehn besten Fussball-Fails von 1999, Dr. Pimple Popper's Tipps zum Ausdrücken von Pusteln, Abnehmen für Diabetiker und ein Live-Stream der Marssonde habe ich alle Videos und somit skurrilsten Seiten der menschlichen Psyche, wie sie auf solchen Plattformen wie YouTube zur Schau gestellt werden, gesehen. Schlauer bin ich dennoch nicht und vier Stunden meines Lebens habe ich somit in den Müll gekippt. Aber was soll's.

Was sind schon vier Stunden, wenn mein ganzes Leben aus den Fugen geraten ist?

Die vier Weinflaschen, die wie kleine englische Gardisten sauber nebeneinander gereiht auf meinem Fenstersims stehen, blicken mich erwartungsvoll an. Ich habe diese Rotweinflaschen in Toms Zimmer gefunden. Seit der Mittagszeit arbeite ich an deren Entleerung. Flasche eins – ich nenne ihn John – habe ich relativ schnell gekillt. Im Moment nuckle ich an Flasche zwei – Clark – , allerdings brummt mir jetzt schon mein Schädel. Das war irgend so ein billiger Fusel, den Tom da gekauft hat. Harry und George – Flasche drei und vier – werden bis zum Abend warten müssen, weil ich mich dazwischen wahrscheinlich übergeben muss.

Naja, mir ist's recht. Hauptsache betrunken.

Das Wetter hat seit zwei Tagen beschlossen, meinen inneren Seelenzustand widerzuspiegeln. Die Wolken sind dunkelgrau und es pisst in Kübeln auf die Welt herunter. Depriwetter vom Feinsten.

„Du blöder Sadist!", grunze ich Gott durchs dicke Glas meines Fensters an.

Ich beschimpfe ihn schon seit den frühen Morgenstunden. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich davon überzeugt, dass die Menschheit nur einen Gott erschaffen hat, damit wir jemandem die Schuld für unsere Fehler in die Schuhe schieben können. Ein unsichtbarer Sündenbock so quasi. Das ist viel einfacher, als sich selbst einzugestehen, dass man das Schicksal und den Verlauf seines Lebens in eigenen Händen hält.

Das Gute ist ausserdem, dass dieser unsichtbare Buhmann aka Gott nicht zurückschreit oder einem einen Klaps auf den Hintern gibt für all die bösen Dinge, die man ihm an den Kopf wirft. Er lässt es einfach über sich ergehen. Wirklich praktisch.

Aber irgendwann wird mir das einseitige Streitgespräch zu blöd und ich lasse von dem Gedanken ab, jemals wieder Kontakt mit Mr. Hard-to-reach-but-call-me-God-because-apparently-I-am-so-so-great aufzunehmen. Der kann mich mal.

Ich hasse solche Kreaturen, die nie was von sich hören lassen, insbesondere dann, wenn man sie braucht. Ein weiterer Grund, warum ich nie religiös wurde. Wer will schon an etwas glauben, das man noch nie gesehen hat?

Mittlerweile ist es Mittagszeit. Ginge es mir nicht so hundsmiserabel, hätte ich jetzt einen Mordshunger. Das Praktische an Herzschmerz ist, dass es in meinem Fall einer Extrem-Diät nahekommt. Ich esse nicht mehr, sondern betrinke mich nur noch den ganzen Tag.

Das müsste ich mal anpreisen. Der neuste Schrei aus Zürich: Die Rotwein-Diät. Wirkt abführend und betäubt jegliche Sinne.

Am späten Nachmittag segnet Harry das Zeitliche. Ich stelle ihn zurück zu seinen Freunden auf den Fenstersims. Mittlerweile stehen da nicht mehr vier, sondern acht Flaschen vor mir. Ich blinzle, um meine duale Sicht loszuwerden.

Scheisse!

George wird bis zum späten Abend warten müssen. Ich werfe mich rücklings aufs Bett und bereue es sofort, denn jäh begibt sich mein Sichtfeld in einen turbulenten Strudel und mir wird schlecht. So richtig schlecht.

Torkelnd stürze ich aus meinem Bett in Richtung Badezimmer, aber bevor ich es bis zu den hellblauen Fliesen schaffe, wird mir schwarz vor Augen und ich verliere jeglichen Halt unter meinen Füssen.

Mein Körper fällt in ein dunkles Loch.

Tag 3

Die Kälte sticht auf meiner Haut. Der Eisbeutel, den ich mir an die Stirn halte, hilft zwar gegen die Beule, die ich mir bei meinem betrunkenen Sturz eingeholt habe, lindert meine Kopfschmerzen jedoch nicht. Sowohl der Alkohol als auch der Aufprall auf den Boden sorgen für ein unangenehmes Pochen in meinem Schädel.

Wenn ich nicht so viel gesoffen hätte, würde ich jetzt eine Schmerztablette nehmen. Allerdings habe ich Angst, mich aus Versehen selbst zu vergiften. Also lasse ich es lieber und ertrage die Qual.

„Auaaa", jammere ich in die Stille meiner Wohnung.

Ich weiss nicht, wie lange ich ausgeschaltet auf dem Boden lag, aber ich bin froh, dass mich keiner so vorgefunden hat, denn in meiner Bewusstlosigkeit habe ich mich erbrochen. Als ich erwachte, habe ich auch erst einmal direkt in den gespieenen Rotwein gegriffen. Sehr unschön. Der Gestank war widerlich und seither habe ich alle Fenster geöffnet, um den Geruch im Flur loszuwerden.

So erbärmlich habe ich mich noch nie gefühlt. Wie tief kann man sinken? Echt schlimm, ermahne ich mich gedanklich selbst.

Mit zitternden Fingern halte ich mein Telefon in den Händen.

Ich kämpfe gegen das dringende Bedürfnis an, das Gerät einzuschalten und Chris eine wütende Nachricht zu schreiben. Dank der Kopfschmerzen ist mir nicht nach Weinen zumute, aber der Zorn brodelt in meinem Inneren und ich will ihm diesen eigentlich gerade so gerne in die Fresse klatschen.

Aber nein, das wäre keine gute Idee. Lieber konfrontiere ich diesen Pflock, wenn ich selber wieder ruhig bin. Das könnte sonst hässlich enden.

Widerwillig stopfe ich mein Handy unter mein Kopfkissen, werfe Rage Against the Machine an und drehe den Lautstärkeregler hoch.

Das ist mit Abstand die beste Aggressionsmusik, die es gibt. Jonas hat mir die Band mal gezeigt, als er in seiner rebellischen Phase war. Wenn eine Musikrichtung die Wut von Individuen auf die Welt ausdrücken kann, dann ist es der ohrenzerreissende Rap Metal von RATM.

Das Lied Bulls on Parade beginnt und augenblicklich fühle ich diese Genugtuung. Es ist, als könne der Zorn in meinem Inneren mit dem Brüllen des Sängers einen Weg nach draussen finden, ohne dass ich mir die Fäuste blutig schlagen muss. Als seien diese schrecklich lauten, trommelfellberstenden Klänge der Balsam für meine verletzte Seele.

Wir versuchen es mit Therapie Nummer drei: Kanalisation der Wut über DNA-spaltende Metall-Musik.

Ich nehme mir vor, alle drei Alben dieser Band abzuspielen und setze mich auf meinen Stricksessel. Mein Kopf schwirrt mir noch vom Alkohol, aber innerlich fühle ich mich bisschen besser. Die Wasserflasche steht unweit von meiner Kommode und ich spüle mir eine weitere Ladung H2O den Rachen runter. Nochmal Gesicht zuerst auf dem Boden knallen will ich nicht. Besser ich wende mich harmloseren Dingen zu: Wie zum Beispiel dem Stricken.

Angespornt von der haarsträubenden Musik werde ich in einen Strickwahn versetzt, den ich in der Form noch nie hatte. Ich stricke und stricke und verliere mich in meinen Gedanken. Immer wieder will die Trauer hochkommen, aber dann wird sie brutal von einem Bassdrum-Schlag des Schlagzeugers zunichtegemacht. Die Musik lässt keine Schwäche zu, denn sonst zerreisst sie dich. Diese Musik härtet dich ab, wenn du sie aushältst.

Plötzlich halte ich inne, denn ich meine, ein Geräusch im Wirrwarr der E-Gitarre, des Kreischens des Sängers und der Trommelschläge zu hören.

War das meine Türklingel? Ich habe die Musik so laut aufgedreht, dass ich jegliche Umgebungsgeräusche nicht richtig höre.

Mein Blick wandert auf mein Telefon und schon wieder muss ich den Instinkt unterdrücken, das Ding anschalten zu wollen, um die Uhrzeit zu überprüfen. Draussen wird es dunkler. Es muss also schon nach 21 Uhr sein. Ich zucke mit den Schultern, denn mir ist es egal, was ich da gehört habe. Ich will ja sowieso für mich sein.

Energisch stricke ich weiter, bis ich vor Müdigkeit nichts mehr sehe und den ultra-hässlichen Schal in blauer, brauner und violetter Wolle, der mindestens zwei Meter lang geworden ist, zur Seite lege.

Das Ding werde ich Julia schenken, wenn ich zur Arbeit zurückkehre.

Tag 4

Zum ersten Mal nach drei Tagen verspüre ich einen Anflug von Hunger. Mein Bauch knurrt und der Schmerz muss von meinem Herzen in meinen Magen gewandert sein. Die Leere tut weh, als habe sich ein Hai in meinem Magen verbissen.

Ächzend erhebe ich mich von meinem Bett. Augenblicklich rümpfe ich die Nase. Oh Gott, es stinkt hier drin. Ich strecke mich und sofort weht mir ein Zwiebelgeruch entgegen.

Es stinkt nicht, ich stinke fürchterlich! Meine Haare sind fettig, ich habe Mundgeruch und im Schlaf habe ich offensichtlich in meinem eigenen Schweiss gebadet. Igitt! Ich müsste dringend mal duschen.

Ein Klopfen lässt mich kerzengerade im Bett aufsitzen.

„Emma?", vernehme ich Violas Stimme gedämpft. Sie steht draussen vor meiner Eingangstüre

Was will die denn?

Sie weiss, dass ich krank bin. Ich antworte aus Trotz nicht. Mein Plan war, während fünf Tagen alleine zu sein, da will ich selbst die platinblonde Puppe nicht sehen, die ich zu meinem engeren Freundeskreis zähle. Na, eigentlich ist es kein Kreis, denn es gibt nur sie. Aber so sagt man das ja.

„EMMA? Mach die Tür auf, oder ich breche sie ein!", höre ich sie rufen.

Sie hämmert energischer gegen das Holz. Meine Nachbarn werden sich jetzt bestimmt freuen. Wahrscheinlich haben die gestern schon die Polizei gerufen und mich erwartet bald eine fette Anzeige wegen Ruhefriedestörung.

„Emma. Ich zähle bis drei. Wenn du dann diese Tür noch nicht geöffnet hast, komme ich rein!" Es klingt wie eine Drohung.

Ich lache in mich hinein. Das wird sie niemals schaffen. Ich habe abgeschlossen und Viola ist zu dünn, um irgendwelche Art von Kraft zu haben. Ihr Körper läuft auf Dauer-Sparflamme, so dürr wie sie ist. Da wird sie es nicht schaffen, meine Wohnungstür einzubrechen.

Sie zählt laut und als ich noch immer keine Anstalten mache, ein Lebenszeichen von mir zu geben, höre ich bloss ein: „Na, gut! DU HAST ES SO GEWOLLT!"

Dann wird es still. Eigentlich hätte ich jetzt erwartet zu hören, wie ihre Knochen am schweren Holz meiner Eingangstür brechen, weil sie sich dagegen wirft. Aber nichts passiert. Langsam schlüpfe ich aus meinem Bett und lege mein Ohr an die Tür meines Zimmers.

Es rumpelt kurz und sogleich ist das Klacken von Violas Schuhen auf meinem Flur zu hören. Ist sie etwa bei mir eingebrochen? Wie hat sie das geschafft?

„Ich bin drin!", sagt Viola, als spreche sie mit jemandem. „Was? Ja, mache ich ... Schelle links, Schelle rechts?"

„Oh nein", seufze ich und renne zurück in mein Bett, um mich unter der Bettdecke zu verstecken.

Wenn Viola von Ohrfeigen spricht, dann meint sie es ernst. Da verkrieche ich mich lieber in meinem stinkenden Schneckenhäuschen. Gerade als ich mir die Decke über den Kopf werfe, schwingt die Tür zu meinem Zimmer auf.

Ich sehe nichts mehr, sondern höre nur das tiefe Schnauben von Viola.

„Verschwinde!", zische ich durch die Bettdecke.

„Ja, sie ist hier. Im Bett", höre ich Viola sprechen. Sie muss wohl mit jemandem am Telefon sein, denn ich höre keine zweite Person, die hier im Raum sein könnte.

„Boah, das ist ja fast wie im Krieg hier. Und stinken tut's! Emma! Du musst unbedingt mal lüften, hier riecht es, als wäre jemand gestorben", sagt sie und beugt sich über mich drüber, um das Fenster zu öffnen. „Was zum ... Drei Weinflaschen, Emma? Drei? Ohne mich?"

Ich bleibe regungslos unter der Decke liegen. Das Kind in mir hofft, dass ich so nicht gesehen werde.

„Ja, Jonas. Mache ich ... Keine Sorge. Es ist zwar schlimmer, als ich gedacht habe, aber ich richte sie wieder her. Ich melde mich nachher bei dir. Ja ... Ist gut ... Okay ... Ciao."

Ich ziehe die Decke von meinem Kopf und starre in die hellblauen Augen meiner Arbeitskollegin.

„Seit wann hast du die Nummer meines Bruders?", grummle ich sie an.

Viola legt ihren Kopf schief. Sie hat ihre langen, platinblonden Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr über einer Schulter hängt. Ihre Augen sind einmal mehr viel zu überschminkt. Aber so wie ich sie kenne, würde sie das als dezentes Make-up bezeichnen.

„Seit er bei uns versichert ist. Habe im System nachgeschaut und mir seine Nummer gekrallt", antwortet sie mir.

„Du brichst damit das Datenschutzgesetz. Das darf man nicht. Einfach so die Handynummer eines Kunden für eigene Zwecke missbrauchen. Ausserdem heiratet er bald", sage ich trotzig.

Viola runzelt von meinem Argument ziemlich unbeeindruckt die Stirn und mustert mich von oben bis unten. Wortlos setzt sie sich neben mich auf die Bettkante.

Ich ziehe die Knie an den Körper und schlinge meine Arme um meine Beine. Diese Position gibt mir Halt und es ist schön, sich so klein machen zu können.

Vielleicht tut die Welt mir dann nicht mehr so weh?

„Wie geht's dir?"

Ihre Stimme klingt plötzlich netter, als hätte sie selbst gemerkt, dass sie mit ihrem vorwurfsvollen Ton nicht wirklich an mich rankommen wird.

Was ich jetzt brauche, ist das Mit- und Feingefühl meiner Freundin, keine Standpauke. Therapie-Methode Nummer vier.

„Nicht gut", hauche ich und schon bildet sich dieser dumme Kloss in meinem Hals. Ich fixiere den Blick auf meine Knie, denn ich kann ihr nicht ins Gesicht schauen.

Ich will nicht ihr Entsetzen über meine äusserliche Erscheinung sehen, denn ich kann es mir gut vorstellen, wie schlimm ich aussehen muss. Die letzten Tage habe ich mich derbe gehen lassen. Sie streicht mir einige wirren Strähnen zur Seite und streichelt meinen Kopf.

„Ach Schätzchen. Was ist denn geschehen? Irgendwas muss vorgefallen sein. Die Emma, die ich kenne, hat noch nie einen auf krank gemacht. Patrick meinte, du sahst aus, als sei jemand gestorben."

Mein Kinn zittert. Ich schlucke mehrmals, im kläglichen Versuch, gegen die Tränen anzukämpfen, die sich meine Tränensäcke hocharbeiten. Hatte ich nicht an Tag zwei beschlossen, nie wieder zu weinen? Oder war das Tag drei? Ich erinnere mich nicht mehr ...

„Ist es wegen ihm? Chris?", fragt Viola vorsichtig. Sie wirkt fast mütterlich, wie sie so neben mir sitzt.

Ich nicke schwach, denn mehr schaffe ich nicht. Der Klang dieses Namens versetzt mir einen Stich ins Herz. Augenblicklich werde ich in ihre Arme geschlossen.

„Oh, Emma. Das tut mir leid!"

Was ist eigentlich an Umarmungen dran, dass man gleich in Tränen ausbricht, wenn man mit einer solch körperlichen Annäherung getröstet wird? Als wäre irgendwo ein Knopf, heule ich auf Kommando los. Viola tätschelt mir sanft auf die Schulterblätter.

„Hey, hey", murmelt sie tröstend.

„Du hast nicht per Zufall eine Herzbruchversicherung für mich abgeschlossen, als ich dir das erste Mal von diesem Idioten erzählt habe?", murmle ich zwischen meinen Schluchzern.

Das wäre jetzt wirklich hilfreich, wenn ich Schadensersatz für den Riss in meinem Herzen bekommen würde. Warum hat das eigentlich noch niemand erfunden? Bei all den weltweit gebrochenen Herzen jeden Tag.

Vorsichtig schiebt mich Viola von sich, um mir in die verheulten Augen zu blicken. Ihre Finger krallen sich in meine Schultern, halten mich fest, sodass ich nicht aufs Bett zurückfallen kann. Vor lauter Tränen kann ich kaum was sehen, aber ihre hellen Augen mustern mich. Das weiss ich.

„Sag mal. Wann hast du das letzte Mal was gegessen?", fragt sie mich.

„Ich weiss es nicht mehr ... vielleicht vor drei Tagen?"

Sie lässt mich los.

„Okay, das ist inakzeptabel. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass dir ein paar Kilo weniger auf den Rippen guttun würden, aber im Moment siehst du mir zu zermürbt aus. Das müssen wir richten. Ich bestelle Pizza."

Ihre perfekt manikürten Finger jagen über den Bildschirm ihres Telefons und innert kurzer Zeit hat sie den nächstliegenden Pizzalieferanten gefunden. Sie stellt das Telefon auf Lautsprecher.

„Ich will aber nichts essen." Meine Stimme klingt heiser.

Viola wedelt mit der Hand, um mir anzuzeigen, dass sie mit meiner Aussage nicht einverstanden ist und ich zu schweigen habe. Ich kann nicht anders, als etwas zu schmunzeln, trotz wiederkehrender Trauer. Violas dominante Art gefällt mir manchmal eben doch. Sie will mich zu meinem Glück zwingen.

„Eine grosse Pizza Prosciutto e Funghi, bitte", gibt sie die Bestellung auf. Dazu bestellt sie auch noch einen gemischten Salat und eine Cola.

Alles nur für mich.

Ich seufze leise. Pizza mag für viele gewöhnlich sein, aber für mich nicht mehr. Nicht seit dem Pizza-Abend mit Chris. Wegen ihm werde ich wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben eine stinknormale Pizza essen können, ohne dabei in Tränen auszubrechen.

Als sie ihr Telefon zur Seite legt, steht sie auf und wandert durch das Chaos in meinem Zimmer. Ihr Blick fällt wieder auf die leeren Weinflaschen auf dem Fenstersims und den hässlichen Schal neben meinem Sessel. Zum Glück habe ich meinen kleinen Kotzunfall von meiner betrunkenen Nacht wieder weggewischt. Das ist mir von all meinen Ausartungen nämlich am peinlichsten.

„Ach Schätzchen. Ich bin da und werde mich um dich kümmern."

Sie lächelt mich vorsichtig an. Ein Wunder, dass sie keinen spitzen Kommentar über die Unordnung in meinem Leben auf mich niederprasseln lässt. Viola ist gnädig mit mir.

Sie muss gespürt haben, dass ich am Abgrund stehe und mir jede Kleinigkeit den Rest geben könnte, um in die Tiefe zu stürzen. Ich bin ihr dankbar, dass sie da ist, um meine Hand zu halten und mich von der Kluft wegzuziehen.

Tag 5

Die fünfte und letzte Methode meiner Selbsttherapie ist die Reintegration in die 24h-Erreichbarkeit unserer Gesellschaft.

Mein Telefon vibriert non-stop. Es war wohl ein Fehler zu denken, es sei schlau, mein Handy nach fünf Tagen offline wieder anzustellen. Heute ist Sonntag und es ist offiziell mein letzter Leidensstag, den ich mir verschrieben habe.

Ich habe beschlossen, Chris zu schreiben und ihm die Meinung zu geigen. Die Tage in vollkommener Isolation haben mir gereicht, um den Schmerz zu fühlen, ihn zu analysieren, zu verarbeiten und hinter mich zu bringen. Ich sollte nun stark genug sein, um mich ihm zu stellen.

Dennoch flattert mein Atem, als ich insgesamt 54 verpasste Anrufe von Chris auf meinem Telefon sehe.

Wollte der also so dringend mit mir reden? Anders als es Julia behauptet hat. Die meinte ja, er wolle nichts mehr von mir wissen. Nebst dass er mich erfolglos zu kontaktieren versuchte, hat er mir einige WhatsApp Nachrichten hinterlassen.

So schnell wie meine Augen lesen können, fliege ich über seine Zeilen. Der Chatverlauf von Tag eins zeigt folgende Textnachrichten von Chris:

Emma?

Bitte lass uns reden

Warum ist dein Telefon aus?

Lass es mich in Ruhe erklären, damit du es verstehst

Wütend schnaube ich durch die Nase. Was gibt es da zu verstehen? Er wollte mich und Julia parallel begatten. Da muss er gar nicht erst mit seiner Rechtfertigungsgymnastik anfangen.

Zähneknirschend lese ich den Nachrichtenverlauf von Tag zwei meiner Isolation:

Hör mal

Ich verstehe, dass du wütend bist

Aber bitte mach dein Telefon an.

Bist du noch auf der Arbeit?

Soll ich vorbeikommen, damit wir reden können?

Heute kann ich zwar nicht, aber morgen sollte gehen.

EMMA?!

Ein lautes „Pf" entkommt mir, als ich das lese. Wahrscheinlich konnte er nicht vorbeikommen, weil er mit Julia beschäftigt war, denke ich mir. Dieser miese Lüstling.

Hey

Ich mache mir ernsthaft Sorgen!

Warum meldest du dich nicht, verdammt?!

Ich komme jetzt zu dir.

Bist du das oder ist das dein Mitbewohner, der solche schreckliche Musik hört?

Bist du Zuhause?

Hallo!?

Ich muss leer schlucken. Es war also Chris, den ich durch die laute Musik hindurch gehört hatte. Bei dem Gedanken wird mir fast ein bisschen schlecht.

Dachte er wirklich, dass ich ihm locker flockig die Tür öffnen würde? Der muss verkorkster sein, als ich gedacht habe. Die Nachrichten von Tag vier meiner Handyabstinenz sind nun kürzer.

Ruf mich an

Oder schreib mir einfach

Ich will mit dir reden.

Emma, ich bitte dich.

Chris konnte es nicht unterlassen, mir an jedem Tag zu schreiben, obwohl die Nachrichten nie bei mir ankamen. Von den tausend Anrufe in Abwesenheit mal abgesehen. Er hatte wohl immer die Hoffnung, dass die Nachrichten irgendwann bei mir ankommen würden.

Mit einer Mischung aus Verwirrung und Wut lese ich die Sätze nochmals durch. Er bittet mich also tatsächlich, mich bei ihm zu melden. Nach all dem?

Er kommt nicht nur bei seiner Frau auf den Knien angekrochen, sondern versucht es genauso bei seiner Affäre? Julia mag schwach geworden sein, aber ich habe noch genügend Selbstrespekt. Sowas werde ich mir nicht gefallen lassen. Er wird mich nicht nochmal um den Finger wickeln können!

Wütend haue ich auf den Bildschirm meines Telefons und antworte ihm. Er ist online, sehe ich, also beeile ich mich.

Ehe ich meine Antwort abschicken kann, ruft er mich schon an. Kreischend werfe ich mein Telefon aufs Bett, verschränke die Arme vor der Brust und klemme meine Hände unter die Achseln, sodass ich ja nicht auf die Idee komme, den Anruf entgegenzunehmen.

Ich will nicht mit ihm sprechen! Ich will nicht mit ihm sprechen! Ich will nicht mit ihm sprechen!

Diese Worte wiederhole ich laut, sodass ich ja keinen Fehler mache und den schwachen Gefühlen in mir nachgebe. Nein! Ich muss stark bleiben.

Der Anruf klingt ab und ich greife schnell wieder zu meinem Handy. In aller Eile texte ich meine Nachricht an ihn. Ich habe nicht mehr viel zu sagen, ausser:

Geh doch zurück zu Julia

EMMA! Endlich.

Bitte nimm ab

Warum lässt du es mich nicht erklären?

Es gibt nichts zu erklären. Ich habe es schon verstanden

Ahja und

Ich kann Lügner nicht ausstehen.

Also tschau

Lass mich in Ruhe

Ist das dein Ernst?

Du Ficker

Sobald ich das geschrieben habe, blockiere ich seine Nummer. Mein Herz klopft mir dabei unglaublich stark in der Brust. Das Adrenalin jagt mir durch die Blutbahnen.

Die Sache mit Chris ist für mich erledigt. Ich will ihn nicht mehr sehen und erklären muss er sich auch nicht mehr.


✵✵✵


Hallo meine Hübschen

Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen.

Emmas Therapie scheint ein bisschen gewirkt zu haben. xD
Was ist euer Geheimrezept gegen Liebeskummer?

Am Samstag fliege ich zurück in die Schweiz. Ehrlich gesagt will ich nicht zurück, aber gute Dinge enden leider immer irgendwann...

Habt ein wundervolles Wochenende!

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