Kapitel 16: Leuchtende Erinnerungen

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Wie aufgewirbelte Notenpapiere, flog die Zeit davon.
Tage, die ich in der lichtdurchfluteten Halle verbrachte und nichts anderes tat, als den sanften Klängen meiner Geige zu lauschen und Fingergriffe zu erlernen.
Tage, in denen ich aus ledergebundenen Büchern las, deren Seiten so alt zu sein schienen wie die Musik selbst.
Tage, die ich aufgehört hatte, zu zählen.

An anderen Morgen hingegen übte ich Schrittfolgen, Schläge und Paraden im Kellergewölbe des Schlosses.
Es war eine merkwürdige Zeit. Sie verging wie im Flug und dennoch war sie lange und erschwerlich.
Ich lernte tagein und tagaus und gewöhnte mich immer mehr an das höfische Leben. Die edlen Frisuren und die juwelenbesetzten Kleider wurden für mich Alltag, ebenso wie die Höflichkeitsfloskeln, die die Adeligen hier zu jeder Zeit zu nutzen pflegten.

Doch selbst als zwei ganze Monde vergangen waren, wurde ich noch immer nicht das Gefühl los, dass mich Cecilia nicht leiden konnte. Sie sprach nur das Nötigste mit mir und zog sich sofort zurück sobald unsere Übungsstunden beendet waren.
Nicht ein einziges Mal versuchte sie mir ihren Unterricht angenehm zu machen. Sie war stets streng und verfluchte nach wie vor die Musik.
In all der Zeit brach sie ihr Versprechen, dass sie vor mir die Magie unterdrücken würde, kein einziges Mal.
Sie hielt sie ebenso wie ihre Gefühle versteckt und ich war jedes Mal fasziniert davon, wie viel Kontrolle diese Frau über sich besaß.

Als ich an einem grauen Morgen wie gewohnt ihr Zimmer aufsuchte, spürte ich bereits, dass der Tag diesmal nicht sonderlich schön sein würde. Wolken hingen am Himmel, und meine Stimmung war ebenso trübe wie das Wetter.
Als ich Cecilia auf dem Fenstersims vorfand und diese vor sich hin summend ihre Geige putzte, musste ich mich mehrmals räuspern, bis sie überhaupt meine Anwesenheit bemerkte.

Sie verstummte und begrüßte mich lediglich mit einem Blinzeln.
Ich nickte ihr zu und unterdrückte einen Seufzer. Cecilia schien heute besonders gereizt zu sein. Ihr Blick war unruhig und ihre Haltung angespannt.
»Was muss ich tun, damit du mir endlich das Zaubern beibringst?«
Ich hatte doch alles versucht um ihr zu zeigen, dass ich dazu in der Lage war. Stets hatte ich mein Bestes gegeben und bis in die Nacht hinein gelernt.
Was sollte ich auch tun, ohne die Magie? Beschützen konnte ich mich nur gegen eine gewisse Anzahl an Feinden, doch bei einem ausgeklügelten Hinterhalt würden meine Fechtkünste nicht ausreichen.

Cecilia schien das jedoch kaum zu interessieren. Sie blieb standhaft. »Da gibt es nichts zu tun«, erwiderte sie ruhig »ich werde dir nichts dergleichen beibringen und habe meine Gründe dafür.«

»Du weißt aber, dass das Cifans Befehl war - und er wird früher oder später herausfinden, dass du dich ihm widersetzt«, erwiderte ich schnippisch.

Cecilia hob das Kinn. »Dann soll er seine werte Ophuna doch dafür hinrichten lassen. Es wird ihm letztendlich mehr schaden, als mir selbst.«

Für einen Moment bekam ihre Stimme etwas Scharfes, Hartes, dann jedoch verschwand der Zorn aus ihren Zügen. Cecilia seufzte tief und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Wie dem auch sei«, sagte sie um einiges gefasster, »wir sollten nun wirklich anfangen.«

Ich seufzte ebenfalls und kam zu der Erkenntnis, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr weiter zu diskutieren. Warum sollte sie auch auf mich hören, wenn ich ihre Laune weiterhin anschwärzte.
Ich musste mich eben noch ein bisschen mehr anstrengen.

Cecilia verfolgte mich mit ihrem Blick, während ich mich setzte. »Nun zeig mir, was du gelernt hast«, forderte sie mich auf, »du hast mich das letzte mal ein wenig enttäuscht, ich will sehen ob du geübt hast.«

Wie hätte ich es wagen können, nicht zu üben? Wenn Cecilia mich kritisierte, wiederholte ich die Stücke sobald ich alleine war fast ohne Pause. Ohne Üben würde ich wahrscheinlich nur mit Bauchschmerzen und Albträumen zu der nächsten Unterrichtsstunde kommen können.
Diese Frau hatte etwas einschüchterndes an sich. Sie wurde nie laut oder handgreiflich, es war eher ihre Stille, die mir Angst machte und die Sorge dass sie sich bald gänzlich weigern könnte, mich zu unterrichten.
Viel dafür fehlte ja nicht mehr.

Zögernd nahm ich die Geige in die Hand und begann langsam zu spielen. Die ersten Töne waren nur leise und unsicher. Ich hatte sie eindutzend mal wiederholt. Es war ein wirklich schwieriges Stück, an das ich mich nur sehr langsam herantastete. All die komplizierten Noten, die wie ein einziges Wirrwarr an Punkten und Strichen wirkten, blockierten etwas in meinen Kopf und die Griffe waren nicht weniger schwer. Sie waren hoch und schrill, nicht das was sie hätten sein sollen.

Ich atmete tief durch und versuchte es noch einmal von neuem. Cecilias skeptischer Blick verfolgte mich. Diesmal schloss ich die Augen und stellte mir vor, sie wäre nicht im Raum. Ich lockerte meine Finger und versuchte mich nur auf den Klang zu konzentrieren und nicht auf die Noten selbst. Ich konnte sie, das wusste ich genau, es gab also keinen Grund, mich von ihnen einschüchtern zu lassen. Anstatt also weiterhin die Musik zu fürchten, ließ ich mich in sie fallen. Ich spürte, wie etwas in mir beim Klang der eindutzend komplexen Tonkombinationen schmolz und wie ich mit der Musik mitfloss. Auf einmal glitten meine Finger wie von selbst über den Steg, so als würden sie ganz genau wissen, was zu tun war.

Ich konnte es, das spürte ich von Sekunde zu Sekunde mehr.

Ich wurde immer lauter und ungezwungener, ließ den inneren Käfig in mir mit einer vollen Wucht an Emotionen zerbrechen und verlieh jedem einzelnen Gefühl in mir Ausdruck. Etwas seltsames geschah, das während monatelangem Üben noch nie passiert war. Ich spürte eine Veränderung. Aus der Schwerelosigkeit in mir wurde etwas beinahe Unwirkliches. Ein Gefühl, das weit über Euphorie lag und mich dermaßen aus der Fassung brachte, dass ich aufkeuchen musste.

Ich schlug die Augen auf und starrte mit verschleiertem Blick in Cecilias Gesicht. »Genug!«, befahl diese plötzlich und ließ somit dieses merkwürdige Gefühl in mir zerbrechen. Mit einem Mal fand ich mich in der Wirklichkeit wieder.

Mit Überraschen stellte ich fest, dass in ihrem Blick Zorn lag und sie die Lippen aufeinandergepresst hatte. Was hatte ich falsch gemacht? Ich war doch endlich richtig gut gewesen - ganz so, wie sie es gewollt hatte!

»Ich sagte dir doch, dass du das nicht kannst!«, fuhr Cecilia mich auf einmal an.

Traurigkeit und Enttäuschung fielen über mich einher. Das war nicht fair. Endlich machte ich etwas richtig und sie schimpfte mich wieder nur dafür aus. Egal was ich tat - es war für sie immer falsch. Sah sie nicht, wie viel Mühe ich mir gab?

»Aber es klang doch gut!«, verteidigte ich mich.

»Gut?«, schnaubte sie aufgebracht, »das soll gut gewesen sein? Man könnte glauben, du hättest noch nie etwas von Rhythmus gehört und die Töne waren komplett schräg. Du kannst von Glück reden, dass es in diesem Raum keine Spiegel gibt - das hätte teuer werden können!«

Sie waren überhaupt nicht schräg gewesen, ich hatte es doch selbst gehört! Was war also auf einmal in sie gefahren? Ich war es ja gewohnt, dass Cecilia mich zurechtwies, aber sie hatte bisher immer die Beherrschung über sich behalten.

Als ich nichts erwiderte, atmete sie tief durch. Härte tauschte die Wut in ihren Zügen aus und sie rieb sich an den Schläfen, als sie sich wieder setzte. »Es hat keinen Sinn«, murmelte sie barsch, »wenn du besser sein willst, musst du stärker auf die Seiten drücken. Sonst werden deine Töne immer so schräg und unkontrolliert sein.«

Noch stärker? Meine Fingerkuppeln waren schon ganz Rot vom draufdrücken!

»Spiel nochmal«, forderte mich Cecilia auf, »so möchte ich den Unterricht heute nicht beenden.«

Ich biss die Zähne zusammen, als ich die Seiten hinunter drückte. Nach dem vielen Üben fühlten sich meine Finger ganz wund an und ich hatte das Gefühl, sie würden bald abfallen, wenn ich so weitermachte.

Ich beobachtete sie genau, als ich über die Seiten strich.

Cecilia unterbrach mich erneut. »Fester«, befahl sie kühl und ohne eine einzige Regung in ihrem Gesicht.

»Es tut weh«, schnaubte ich.

»Das ist normal. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.«

Ich kam mir aber komplett dumm dabei vor. Die Töne waren doch schon sauber. Was hatte sie also?

Dennoch gab ich mir noch ein kleines bisschen mehr Mühe. Diesmal hatte ich das Gefühl, meine Finger würden nicht etwa aus Fleisch und Blut sondern aus purem Schmerz bestehen. Doch Cecilia blieb trocken.

»Fester«, sagte sie erneut und ich spürte, wie so langsam meine Haut aufplatzte.

Erschrocken starrte ich auf die Seiten, an denen mein Blut hinuntertropfte.

»Hast du mich nicht gehört?«, wiederholte Cecilia ungeduldig.

Dort wo eben noch Enttäuschung in mir gewesen war, war nun nichts als Wut. »Ich blute, Cecilia, ich blute verdammt nochmal! Reicht das nicht?«

Cecilia verengte ihre grünen Augen und sah unbeeindruckt auf meine Finger. »Nicht wenn du gut werden willst.«

Ich hatte keine Ahnung was in dieser verrückten Frau so vor sich ging, aber eins war sicher: So würde ich nicht mit mir umgehen lassen!

»Das ist völlig absurd«, fuhr ich sie an, »man kann auch Geige spielen ohne sich die Finger kaputt zu machen!«

Cecilias Gesicht war wie eine einzige Maske, als ich ihr das an den Kopf warf. Völlig unberührt, nicht einmal Wut strahlte sie aus. Sie strich sich langsam die roten Locken glatt und deutete ein Lächeln an. »Wenn du so viel Ahnung von Musik hast, dann scheinst du meinen Unterricht ja nicht zu brauchen.«

Als ich nichts zu erwidern wusste, nickte sie zur Tür und mir sank das Herz. »Du kannst gehen.«

***

Schmerz weckte mich in dieser Nacht - ein eigenartiges Brennen an meinen Fingern, das mich zusammenzucken ließ. Für einen Moment glaubte ich, ich hätte während dem Schlaf versehentlich an eine Kerze gelangt, doch dieser Gedanke verflüchtigte sich rasch, als ich spürte, dass meine Hände nach wie vor auf dem weichen Kissen lagen.
Ich hatte mich kaum gerührt.
Mir fiel auf, dass mein Körper steif war, ebenso wie mein Arm. Meine Hand war geschwollen und ließ sich kaum bewegen.

Ich biss die Zähne zusammen und robbte mich, noch benommen, auf die Knie. Schützend verschränkte ich die Arme und wagte es kaum, loszulassen. Was war in der Nacht geschehen?
Als ich mich zum Lichtschalter wälzte und vorsichtig nach ihm tastete, kam wieder die Erinnerung an den Geigenunterricht in mir hoch.

An das ständige wiederholen von Noten und Griffen.
An das unaufhörliche Zupfen von Saiten.
An raues Holz unter meinen Händen und feines, eingedrehtes Silber, in das sich meine Finger gebohrt hatten.

Ich dachte an den Schmerz zurück, daran wie ich mich mit Cecilia gestritten hatte.
An die knallende Tür.

Ich atmete einmal tief durch und untersuchte meine Hände. Tatsächlich waren sie gerötet und dicker als gewöhnlich. Sie ließen sich kaum bewegen und auch nur unter höllischen Schmerzen. An meinen Kuppeln waren rote Striche zu erkennen, aus manchen von ihnen tropfte Blut.
Ich unterdrückte einen Fluch und wischte mir die Finger an meinem weißen Nachtkleid ab und sah zu, wie sich das Blut wie eine dunkelrote Sonne auf dem Stoff verteilte.
Ich war entsetzt und gleichermaßen fasziniert davon, was diese wunderschöne Musik mit mir angestellt hatte. War das das Leben einer Ophuna? Jeden Abend mit blutigen Fingern ins Bett gehen? Sich vor der gesamten Welt verstecken?
War das der Grund, warum Cecilia die Musik liebte und dennoch verabscheute?

Mit den Zähnen riss ich den Saum meines Kleides ab und wickelte ihn um meine Finger. Ich wollte keinen Dienstboten dafür wecken und somit für unnötige Aufruhr sorgen. Vorerst würde diese notdürftige Bandage auch genügen.

Müde hob ich den Kopf und sah auf die pausenlos tickende Wanduhr. Ein Uhr war es - mitten in der Nacht. Ich setzte mich auf mein Bett und starrte durch eins der vielen Bogenfenster. Draußen war es stockdunkel. Nur ein paar Fackeln, die auf den vielen Säulengängen und Balkons aufgestellt waren, duchschnitten die Dunkelheit. Sie wirkten wie übergroße Sterne.

Verwirrt blinzelte ich, als ich im Schein der Fackeln plötzlich eine Bewegung wahrnahm.
Zuerst dachte ich, es wäre nur ein Windstoß gewesen, bis sich meine Augen soweit an die Finsternis gewöhnt hatten, dass ich Umrisse erkennen konnte.
Tatsächlich war es eine Gestalt.

Ein Mädchen, wenn ich mich nicht täuschte. Nur was machte sie dort draußen um diese Zeit?

Am liebsten würde ich mich wieder hinlegen, doch ebenso wollte ich nachsehen und mich vergewissern, dass alles in Ordnung war. Vielleicht war sie gerade wieder auf dem Weg ins Schloss und suchte nach einem Eingang.

Ächzend stemmte ich mich mit den Ellbogen hoch und torkelte zum Fenster. Ein Gefühl von tiefem Unwohlsein meldete sich in meiner Magengegend, als ich erkannte, dass sich das Mädchen von dem Schloss fortbewegte. Wie ein Geist wandelte sie durch die Gänge. Mit erhobenem Kopf und langsamen Schritten. Elegant waren ihre Bewegungen und gleichermaßen zögernd.
Es schien so, als würden sie einen Schleier an Fragen hinter sich herziehen.

Noch einmal atmete ich durch und schlich mich zur Tür. Gründlich musterte ich den Flur, der sich wie ein langer, spiegelglatter Fluss vor mir ergoss.
Ich war alleine.
Flink huschte ich in die Richtung, in der ich das Mädchen zuletzt gesehen hatte, wobei ich mir die Socken von den Füßen fummelte, um nicht hinzufallen.
Ich befand mich nach wie vor im Westflügel des Schlosses - meinem kleinen Reich, das einzig und allein mir gehörte.
Einige Fenster standen offen, durch die kalte Meeresluft drang. Ich rieb mir die Arme, bis sie aufhörten zu zittern und beschleunigte meine Schritte.
Was ich genau vorhatte, wusste ich noch immer nicht - doch ich war mir sicher dass ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte.

Ich landete in einer kleinen Vorhalle, die sich wie ein gläserner Kristall über mir zuspitzte und deren höchster Punkt bis weit in den Himmel ragte. Das Parkett war dunkel und glänzend, wie geschmolzenes Pech, auf dem sich der Umriss des Mondes abzeichnete. Muster zogen sich an den Wänden der Halle empor und endeten an gigantischen Buntglasfenstern, die Bildnisse von Gottheiten aus längst vergangen Zeiten zeigten. Die Sterne warfen fast geisterhafte Umrisse, auf den Boden, die bei jedem Lichtflackern Form und Farbe veränderten.

Am Ende dieser Halle stieß ich auf ein Tor, das nach draußen führte. Kalte Nachtluft wehte mir entgegen und ließ mich erschaudern. Sanft umspielte sie meinen Hals, bis meine Zähne klapperten und sich mein Brustkorb anspannte.

Als ich den Kopf hob, erkannte ich, dass ich in einem Wirrwarr aus Palisadengängen gelandet war, die über das rauschende Meer führten. Es war stockdunkel, nur die glimmenden Fackeln und die Milchstraße, die sich wie ein Silberband über den Himmel zog, erhellten die Nacht.
Fröstelnd sah ich mich nach dem Mädchen um und bekam gerade so noch mit, wie es in dem Säulenwald verschwand.
Sie war auf dem Weg zum Turm.

Meine Neugier wuchs und so eilte ich ihr nach. Die Nacht hatte diesmal etwas Magisches an sich. Zwar war sie kalt doch das nahm ihr nichts von ihrer Schönheit.
Zuerst dachte ich, es wären Glühwürmchen, die über das Firmament schwebten, doch dann erkannte ich, dass es Himmelslaternen waren.
Wie die kleinen Leuchttierchen tänzelten sie um die Palastmauern.

Wind stob auf, als ich mit pochenden Herzen auf den abgelegenen Turm zurannte. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so unbeobachtet gefühlt. Vielleicht ging es diesem Mädchen ähnlich.
Vielleicht hatte sie sich deshalb nach draußen geschlichen.

Ich wurde langsamer, als ich das Ende des Säulengangs erreichte. Mit gehobenem Kopf und rasselndem Atem, schritt ich auf die geheimen Gärten zu. Leichtfüßig lief ich über die Treppe, die sich wie ein Fächer vor mir ausbreitete.

Da sah ich das Mädchen wieder. Flink überquerte es einen langen Weg, der an Rosensträuchern und funkelnden Teichen vorbeiführte. Was hat sie vor?

Ich riss mich vom Anblick der Gärten los und schritt ihr mir gerafftem Rock nach. Meine spindeldürren Absätze klackerten wie Uhrzeiger auf den Marmorboden.
Tack, machten sie, tack tack.

Der Balkon endete mit einem Tor aus Rosensträuchern, von dem weiße und rote Blätter auf mich hinabsegelten und sich auf meinem Haar niederließen. Blinzelnd trat ich hindurch, auf die gigantischen Berge zu, die sich vor mir abzeichneten.

Das, was ich sah, verschlug mir den Atem. Ich hatte zwar schon mit ähnlichem gerechnet, aber nicht damit, dass es so schön sein würde.

Abertausende Laternen schwebten durch die Nacht, fast mehr als es Sterne am Himmel gab. Mit ihrem rotgoldenem Licht brachten sie die Dunkelheit zum Leuchten, so als bestünde sie aus etlichen Sonnen, die gerade geboren wurden.

Allesamt kamen sie von dem verschneiten Berggipfel, auf dem Talis stand. Dunkler Nebel umhüllte das kleine, sagenumwobene Dörfchen und ließ einige der Bauten hinter sich verschwinden, während der Rest durch das goldene Licht sichtbar wurde.

Als ich den Kopf senkte, erkannte ich die Gestalt des Mädchens wieder, das reglos am Geländer stand, mit dem Rücken zu mir. Zögernd näherte ich mich ihr.
Das Dienstmädchen, die Hofdame - oder wer auch immer sie war - trug ein blaues, weit ausfächerndes Kleid, das in einer Schleppe endete.
Sie hatte Haare, die fast so bleich wie der Mond waren, der über uns funkelte.
Ich stockte. War das nicht wieder Sinula?

Irritiert sah ich auf ihren schmalen Körper, der von dem feinen Samt des Kleides umspielt wurde. Was machte sie noch um diese Zeit hier draußen?

Ich musste Sinula nicht ansprechen, sie bemerkte mein Kommen auch so. Langsam drehte sie den Kopf zu mir und sah mich mit einem befremdlichen Ausdruck im Gesicht an. Sie rührte sich nicht, begrüßte mich aber auch nicht. Erst als ich vor ihr zum Stehen kam, sagte sie etwas, wenn auch sehr leise.

»Du schleichst mir also schon wieder nach.« In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, doch sonderlich glücklich über mein Auftauchen wirkte sie ebenso wenig. Es war lediglich eine Bemerkung.

Sinulas blaue Augen wirkten wie ein Nebelschleier, hinter dem sämtliche Gefühle verschwanden. Auch ihr restliches Gesicht war nichtssagend und regungslos.

»Ich wusste nicht, dass du es bist«, erwiderte ich plump und fügte zögernd hinzu, »tut mir leid.«
Ich wollte wirklich nicht, dass sie das Gefühl hatte, ich würde ihr hinterherspionieren.
Da Sinula nichts mehr erwiderte, beschloss ich, sie nicht weiter zu stören. Ich würde mir die Laternen genauso gut auch wo anders ansehen können, der Innenhof war schließlich groß genug.

Doch als ich mich gerade in Bewegung setzte, spürte ich ein leichtes Ziepen an meinem Ärmel.
Verwundert drehte ich mich zu Sinula, die nach meinem Kleid gegriffen hatte und mich nun fragend musterte. Als sie meine Verwirrung sah, ließ sie sofort los. »Du willst schon gehen?«

Kopfschüttelnd strich sie sich eine blonde Strähne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Findest du die Lichter nicht genauso entzückend?«

»Doch, natürlich«, bestätigte ich sofort, »ich dachte nur, du willst alleine sein.«

Sinula lächelte traurig. »Das bin ich schon oft genug.«
Ehe ich etwas erwidern oder gar Mitleid haben konnte, drehte sie sich um und beugte sich über das Geländer. »Was meinst du, werden sie bis zu uns gelangen?«

Fragend folgte ich ihrem Blick. »Keine Ahnung, wieso?«

Sinula schien zuerst nicht recht zu wissen, was sie antworten sollte. Sie rieb sich nachdenklich die Schläfe und blinzelte einige Male, ehe ihr Blick wieder klarer wurde. »Solche Laternen werden eigentlich nur in den Himmel geschickt, wenn jemand gestorben ist. Sie sollen der Seele den Weg ins Paradies zeigen - zumindest besagen das die Legenden.«

Ich kannte zwar einige Legenden, doch von dieser hatte ich noch nie gehört. Nicht einmal in Molja war jemals von Himmelslaternen die Rede gewesen.

»Glaubst du daran?«

Sinula knabberte unentschlossen an ihrer Lippe. »Ich versuche daran zu glauben, dass jede Seele den Himmel erreichen kann - auch die derjenigen, deren Familien sich keine Himmelslaternen leisten können.«

Mir fiel auf, dass Sinula die ganze Zeit an den Punkt starrte, an dem Riamos' Festung lag. Das musste die Quelle der Laternen sein, die durch all die Lichter zu einem einzigen strahlenden Fleck verschwamm.

»Sie sind für ihn, nicht wahr?« Ich wagte nicht, seinen Namen auszusprechen oder auch nur weiter an ihn zu denken.
Sinula schien dennoch zu wissen, von wem ich sprach.

Ohne mich anzuschauen, nickte sie. Askan. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. All das Licht, all die Schönheit waren allein für ihn geschaffen worden. Weil ich ihn getötet hatte, einen Jungen der vielleicht einmal König hätte sein können.

Der Gedanke an das verschmierte Messer, das in meinen zitternden Händen gelegen hatte, als ich in seine starren Augen geblickt hatte, ließ meine Begeisterung über die Laternen hinter einer tiefen Dunkelheit verschwinden.

Der fremde Junge, der unter mir zusammengesackt war, bekam für mich auf einmal ein Gesicht. Er war ein Mensch gewesen, nicht nur eine Schachfigur.
Ein Kind, wie ich selbst, mit einer Vergangenheit, Gefühlen, Träumen und Zielen.
Mit einem einzigen Schnitt, einer schnellen Handbewegung, hatte ich all dies zerstört.

Ich fragte mich, ob Askan ein guter Junge gewesen war. Ob es viele Menschen gab, die ihn vermissten.
Und wie viel Leid ich mit dem Mord in die Welt gesetzt hatte.

Riamos musste ihn wahrhaftig geliebt haben. Er war zwar ein skrupelloser, machthungriger Herrscher, doch ebenso war er ein Vater, der seinen Sohn verloren hatte.
Tausende Lichter hatte er für ihn anzünden lassen, die bald so wie das Lebensfeuer in Askan erlischen würden.
Aus dem einstigen Menschen, war eine kalte, schmerzhafte Erinnerung geworden, die für so viel Hass sorgte, dass ganze Siedlungen wegen ihr untergingen - bald vielleicht sogar ein gesamtes Königreich.

»Askan muss ein guter Mensch gewesen sein«, murmelte ich nachdenklich.

Sinula drehte den Kopf zu mir, auch wenn ich eigentlich mehr zu mir selbst als zu ihr gesprochen hatte. »Das war er ganz bestimmt«, flüsterte sie mit einem seltsamen Unterton.

»Sein Vater muss ihn wirklich geliebt haben.«

Diesmal jedoch schüttelte Sinula den Kopf und ich sah endlich eine Regung in ihren Augen. Ich erkannte wie sie glänzten und glasig wurden, wie sich ihre Augenbrauen wütend verengten. »Nein, das hat er nicht. Nicht im geringsten!«

Trauer und Zorn lagen in ihrem Blick, als sie sich vollends zu mir umdrehte und mit bebender Stimme fortfuhr: »Wenn er ihn wirklich geliebt hätte, dann hätte er ihn nicht kämpfen lassen.«

Sie sah zum Meer, zu den Laternen und diesmal lag nichts als kalte Bitterkeit in ihren Augen. »Wir waren Kinder, unschuldige Kinder, die aufeinander gehetzt wurden wie zwei räudige Hunde. Einer Person, die man liebt, würde man so etwas nicht antun!«

Sinula seufzte unglücklich und schritt am Geländer entlang, während sich ihr trüber Blick in der Ferne verlor. »Askan ist doch nur ein Teil seiner Intrigen, das war er schon immer und wird es auch immer bleiben. Und alles was Riamos dir vorspielt gehört zu seinen Plänen und ist genauestens durchdacht.«

Unruhe machte sich in mir breit. Wovon sprach sie da gerade? Hatte Riamos etwa immer noch vor, die Krone an sich zu reißen?
»Welche Pläne?«, fragte ich vorsichtig, doch Sinula war bereits weitermarschiert und starrte mit leeren Augen auf einen Landstrich, der vor uns in Flammen aufging.
Er lag direkt am Schloss.

»Liva«, Sinulas Stimme schwoll panisch, an als sie sich zu mir umdrehte, »ich glaube sie kommen.«

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