Kapitel 5: Verlockendes Angebot

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Es hatte zu regnen begonnen, als Majvi und ich uns durch den Wald schleppten, oder eher durch das, was noch von ihm übrig geblieben war. Der Himmel war grau und blass, während es über und um uns herum knurrte und knarzte. Es schien so, als wäre der Wald von dem Feuer erzürnt und ich konnte ihn da gut verstehen. Ich war heilfroh über den plötzlichen Wetterumschwung, der das Feuer erlischt hatte. Es stank zwar noch und dunkler Rauch hatte sich über die Luft gelegt, aber das waren die letzten Reste des Brandes.

Das Feuer war verschwunden – und mit ihm unsere Heimat, Olita und Nania. Ich seufzte und musterte besorgt meine Schwester, die sich an meinen Arm geklammert hatte und ihr Gesicht in meinem Mantel vergrub, um den Rauch nicht einatmen zu müssen. Olita hatte Recht: Ich muss sie von hier wegbringen. In diesem dunklen, kalten Albtraum gibt es wirklich keine Zukunft für uns beide. Jetzt erst recht nicht mehr.

Mein Blick schweifte über den zerstörten Wald. Auf unzählige tote Bäume und Baumstümpfe, auf eingeweichte Asche, Matsch, Regen und das, was einmal Pflanzen waren. Kaum zu glauben, dass das einmal meine Heimat war, dachte ich bitter. Dieser staubige, schlammige Haufen Elend.

Ich war ganz froh dass Majvi ihr Gesicht versteckt hielt und das alles nicht mitansehen musste. Sie hatte den Wald geliebt, auch wenn sie selbst kaum draußen gewesen war. Aber ich würde ihr einen neuen Wald suchen. Ganz bestimmt. Davor müssen wir nur irgendwie hier raus.

Einige gefallene Bäume versperrten uns den Weg, über die ich Majvi heben musste. Während dem ganzen Marsch sagte meine kleine Schwester kein einziges Wort. Sie klammerte sich nur still an mir fest und ließ sich von mir führen. Wohin wir genau liefen oder überhaupt laufen wollten, wusste keine von uns.

Während wir durch das graue, staubige und doch ekelhaft schlammige Trümmerland liefen, verdichteten sich die Wolken über uns und es wurde immer dunkler und trüber. Als es dämmerte, hatten wir schon eine beachtlichen Strecke hinter uns gebracht.

Ich blieb stehen und rieb mir erschöpft den Ruß von der Stirn. Majvi neben mir atmete schwer. Ich hatte sie den halben Weg lang getragen und trotzdem schaffte sie es kaum mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie hustete wieder und presste ihr Gesicht in mein Kleid. Ich seufzte und streichelte ihren Kopf. Weit würden wir beide nicht mehr laufen können, erst recht nicht bei Nacht. Wir mussten uns ein Lager bauen, ehe es dunkel wurde. Einen Moment lang ließ ich den Blick über all die kargen, dunklen Baumstümpfe schweifen, die das Feuer verschont hatte. Ich verengte ein wenig die Augen, konnte aber nichts erkennen, was mir irgendwie vertraut vorkam. Jegliche Anhaltspunkte hatten die Flammen aufgefressen. Vielleicht lag nur noch ein kurzer Marsch zwischen uns und Denva, es konnte aber auch noch eine Tagesreise sein. Mir fiel auf, dass die Bäume lichter geworden waren. Ich kratzte mich am Kopf. Kann sein, dass der Wald bald enden wird. Oder wir befinden uns nur in der Nähe von irgendeiner Lichtung.

Ich seufzte und straffte die Schultern. Wie auch immer. Wir würden jetzt erst einmal nicht weiterreisen können. Davor mussten wir dringend schlafen. Majvi konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten!

Ich setzte meine kleine Schwester auf einem Baumstumpf ab, auf dem sie schnaufend niedersackte. Sie atmete schwer und hatte den Kopf gesenkt, der müde hin und her baumelte. Besorgt hielt ich sie von der Seite fest und kniete mich für einen Moment neben sie. »Alles gut«, flüsterte ich, »wir machen gleich eine Pause. Wir müssen nur irgendetwas finden, wo wir die Nacht verbringen können.«

Majvi reagierte kaum. Sie hob nicht einmal den Kopf. Als ich sie wieder hochhob, stöhnte sie und wimmerte leise in sich hinein. Ich wollte ihr nicht wehtun, doch noch weniger konnte ich sie hier zurücklassen. Also führte ich sie behutsam weiter, wobei sie mehrmals stolperte oder an etwas wie einem im Weg stehenden Strauch oder Ast hängen blieb. Bei einer kleinen Felshöhle blieben wir stehen. Ich lächelte ihr aufmunternd zu und nickte nach vorne. »Ich glaub ich hab was gefunden. Es sind nur noch ein paar Meter.«

Das Mädchen nickte tapfer und ließ sich von mir ächzend ins Höhleninnere begleiten. Dort war es stockdunkel, dennoch fand ich, als sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, ein paar lose, raue Steine, die ich mit ein paar gekonnten Griffen aneinanderstieß und zum Funken brachte. Schnell ließ ich sie auf ein paar trockene, angehäufte Blätter fallen, die ich am Eingang fand und warf einige Stöcke hinzu. Mehrmals musste ich pusten und Luft wedeln, bis die Flammen größer und es um uns herum kuschelig warm wurde. Majvi musste gähnen und so trug ich sie zum Feuer und bettete sie behutsam in einem Wirrwarr aus Blättern, Farn und Moss ein. Meine Schwester schmatzte zufrieden, was mich unwillkürlich schmunzeln ließ, blinzelte ein paar Mal müde und war dann binnen weniger Sekunden weggenickt.

Nun musste auch ich gähnen. Die Aufregung, die Flucht vor dem Brand und das ewige Laufen hatten mich ziemlich erschöpft. Es wunderte mich fast schon, dass ich mir so wenige Sorgen oder Gedanken machte, die mich hätten wach halten können. Irgendwie war es in mir seltsam leer. Vielleicht war es auch der Schock, der sämtliche Gefühle in mir hatte einfrieren lassen. Da war keine Angst, keine Trauer, keine Wut. Nur das knisternde Feuer, Stille und tiefe Dunkelheit.

***

Ein seltsames Geräusch weckte mich auf. Benommen hob ich den Kopf, blinzelte ein paar Mal, konnte aber nichts sehen. Es war noch Nacht, ich hätte noch nicht wach sein sollen. Ich atmete tief durch und tastete nach meiner Schwester. Als ich ihren warmen Brustkorb unter mir spürte, der sich langsam hob und senkte bemerkte ich, dass sie noch schlief. Anscheinend hatte sie in all ihrer Müdigkeit nichts mitbekommen. Besser so, dachte ich dunkel und zog meine Hand wieder zurück.

Da! Da war erneut dieses Geräusch! Es war hoch und schrill. Irgendwie unnatürlich. Menschlich.

Es war ein Keuchen, gefolgt von mehreren Schluchzgeräuschen. Ich runzelte die Stirn. Wir waren also doch nicht ganz alleine. Vielleicht war das ein weiterer Unglücklicher, der aus dem Feuer hatte fliehen müssen. Jemand, der sein Zuhause verloren hatte, seine Familie. Ich schluckte schwer. Die Geräusche schienen von einer einzelnen Person zu kommen. War sie etwa alleine?

Das Schluchzen hörte nicht auf. Es war so hoch, dass ich vermutete, dass die Person noch jung sein musste. Vielleicht ein Kind. Mir zog sich das Herz zusammen.

Sollte ich nachsehen? Ich konnte nicht einfach ein kleines Kind hier in den Trümmern alleine lassen, das womöglich keine Eltern mehr hatte. Ich stellte mir Majvi so alleine in der Dunkelheit vor und musste mich unwillkürlich schütteln. Nein, das konnte ich wirklich nicht machen. Ich musste kurz hingehen, nur für einen Augenblick. Dann konnte ich immernoch sehen, mit wem ich es zu tun hatte und ob ich helfen konnte. Für einen Moment fiel mein Blick auf Majvi, die ein wenig vom Schein der Flammen erhellt wurde. Sie hatte nicht mitbekommen, dass ich nicht mehr neben ihr lag und ich wollte auch nicht, dass sie aufwachte, während ich weg war. Mitnehmen würde ich sie nämlich ganz bestimmt nicht. Sie sollte lieber in Ruhe schlafen und sich erholen. Wilde Tiere würden sie auch nicht angreifen können, die waren schließlich noch vor wenigen Stunden panisch aus dem Wald geflohen.

Ich atmete tief durch und schlich mich aus der Höhle. Noch einmal vergewisserte ich mich, dass Majvi nicht aufgewacht war, ehe ich ins Dunkle lief. Meine Augen brauchten ein paar Augenblicke um sich an die Nacht zu gewöhnen. Dann konnte ich zumindest einmal Umrisse erkennen. Das Schluchzen führte mich über einen schmalen Schotterweg, an einigen zerstörten Bäumen und Sträuchern vorbei. Mondlicht hatte sich auf der grauen Asche verfangen, die sich wie Staub über den Wald gelegt hatte, und verlieh ihr einen silbernen Schimmer. Eine Eule schrie über mir, als ich endlich das fand, wonach ich suchte: Eine Birke, in dessen Schatten ein kleines Mädchen kauerte.

Vorsichtig trat ich näher.

Sofort fuhr die Kleine hoch und ich konnte spüren, dass sie mich anstarrte, auch wenn ich ihre Augen von der Ferne aus nicht sah. Für einen Moment hielt ich inne, doch als ich mir wieder bewusst machte, wie klein sie war, verflog meine Unruhe und ich ging zügig weiter auf sie zu.

Je näher ich ihr kam, desto deutlicher konnte ich sie erkennen. Das Mädchen trug ein merkwürdig üppiges Rüschenkleid in Rot und hatte lange blonde Locken, die sich in sämtlichen Ästen und Zweigen verfangen hatten.
Aus dunklen, braunen Augen beobachtete sie mich.

Sie verfolgte jeden Schritt, den ich tat, was mich unwillkürlich schlucken ließ. Irgendetwas an diesem Mädchen ließ mir einen Schauder über den Rücken laufen. Ob es ihr Aussehen oder die Art wie sie mich anstarrte war, wusste ich nicht genau. Generell war sie mir ein Rätsel.

Was machte ein kleines, offenbar wohlhabendes Mädchen nachts an einem so armen Örtchen wie diesem?

Sie bewegte sich nicht, als ich vor ihr zum Stehen kam. Sie machte keine Anstalten, vor mir zu flüchten, sie zitterte nicht einmal, wie es für ein Kind, das nachts einem Fremden begegnete, üblich war.

Ihre Augen verrieten noch immer nichts als Dunkelheit. Sie waren wie ein Schatten, in dem sämtliche Emotionen verborgen blieben.

Ein wenig unbeholfen räusperte ich mich. »Tut mir leid, dass ich mich hier so anschleiche«, versuchte ich es, »ich habe dich weinen gehört und wollte mal nachschauen.«

Die Fremde blinzelte mich nur aus ihren dunklen Augen an, doch ich konnte erkennen, dass sie über meine Worte nachdachte.

»Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann«, gab ich daher zu, »uns scheint es ja beiden ähnlich zu gehen. Ich bin hier auch mehr oder weniger alleine.«

Diesmal konnte ich etwas in den Augen des Mädchens aufblitzen sehen. War es Interesse? Mitleid? Doch sie sagte noch immer nichts. Stattdessen kullerte eine Träne aus ihrem Auge.

Besorgt runzelte ich die Stirn und ging in die Hocke. »Tut mir leid«, murmelte ich, auch wenn ich nicht genau wusste, für was ich mich entschuldigte.

Nachdenklich sah ich mich um, konnte aber niemanden außer ihr erkennen. Ich konnte mir bereits denken, was geschehen war, dennoch wollte ich nachfragen. »Wo sind deine Eltern?«

Die Blonde folgte meinem Blick und starrte nun ebenfalls in die Schatten. »Zu Hause«, sagte sie schließlich mit rauer Stimme.

Überrascht blinzelte ich. Zu Hause? Sie hatten das Feuer also doch überlebt!

Ich versuchte ihren Blick aufzufangen, der seltsam leer und so finster wie die Farbe ihrer Augen war. »Und warum bist du dann hier? Wieso gehst du nicht einfach zu ihnen?«

Endlich sah sie mich wieder direkt an, diesmal so fest, dass ich ein wenig zusammenzuckte. Ihre Augen verengten sich und sie flüsterte: »Weil ich nicht darf.«

Für einen Moment hielt sie den Blickkontakt, ehe sie wieder blinzelnd ins Dunkle sah. »Mama und Papa sind böse Menschen.«

Verwundert blinzelte ich sie an. Ich wusste ziemlich gut von Majvi wie überaus dramatisch kleine Kinder werden konnten. Wenn sie mal etwas verloren, sagten sie dass ihr Leben ohne diese eine Sache keinen Sinn mehr ergeben würde und wenn man ihnen etwas wegnahm, war man gleich der böseste Mensch auf Erden. Doch etwas an dem Mädchen verunsicherte mich. Sie benahm sich überaus seltsam für ihr Alter. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, was genau mich so sehr an ihr irritierte.

»Ich sollte Gold für sie holen. Schulden von einer Familie, die hier gelebt hat«, sprach sie leise weiter, wobei ihr Blick nachdenklich an ihren zahlreichen vergoldeten Armreifen hängen blieb, »deshalb bin ich hier.«

Sie hielt inne und ihre Augen wurden schmäler. »Doch dann war da dieses Feuer. Ich war nicht schnell genug.«

Sie blinzelte ausdruckslos. »Alles ist niedergebrannt. Und jetzt werden sie mich nicht mehr nach Hause lassen.«

Für einen Moment schwieg ich. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie Recht haben könnte. »Wegen dem Geld? Bist du dir sicher?«

Sie nickte langsam. »Sie haben gesagt, dass ich nicht ohne das Gold zurückkommen darf. Sie brauchen es doch für die Vorbereitungen.«

Nun war ich völlig verwirrt. Vorbereitungen? Wovon redet die?

Doch mir blieb nicht die Zeit um nachzufragen. »Und du?«, fragte sie plötzlich, »wo ist deine Familie?«

Ich zuckte ein wenig zusammen, da ich diesen plötzlichen Wechsel unseres Gesprächs nicht erwartet hatte. »Weg«, murmelte ich zerknirscht in mich hinein, »also ich mein' meine Schwester lebt noch aber meine Eltern...«

Erneut brach ich ab, da sich nun wieder die Trauer in mir meldete, in Form eines schweren, tiefsitzenden Klumpens. Ich hatte nicht gedacht, dass es mir so schwer fallen würde, darüber zu sprechen. Eigentlich ging es ja auch niemanden etwas an.

»Sind sie tot?«, fragte die Fremde leise nach.

Ich blinzelte traurig und ließ dann mit einem Seufzer die Schultern hängen. »Mein Vater ja, aber das schon lange. Was mit meiner Mutter ist, weiß ich nicht. Ich hab sie verlassen.«

Das erste Mal rückte das Mädchen von sich aus zu mir, wenn auch nur ein bisschen. Leise setzte sie sich vor mir in den Schneidersitz und ließ ihren Blick nachdenklich über mein Gesicht schweifen. »Und jetzt weißt du nicht, wo du hinsollst«, vermutete sie und ergänzte zaghaft, »so wie ich.«

Ich zuckte nur mit den Schultern und rutschte von ihr weg. Ihre plötzliche Nähe gefiel mir nicht, ebenso wenig die intimen Fragen, die sie mir auf einmal stellte. Ich beschloss zu gehen. Schließlich hatte ich ihr genug gesagt. Und helfen konnte ich ihr auch nicht.

Doch noch bevor ich mich in Bewegung setzen konnte, war sie wieder bei mir und blinzelte mich mitleidig an. »Und jetzt willst du kreuz und quer durch Sellatas rennen, in der verzweifelten Hoffnung, dort irgendwo eine Bleibe zu finden.« Ihr Blick veränderte sich noch immer nicht. »Stimmt das?«

Ich funkelte sie an. »Was interessiert dich das?«, knurrte ich ausweichend, »kümmere dich um deinen eigenen Kram. Du kannst mir sowieso nicht helfen.«

Ihre Augen verengten sich nun ein wenig und sie legte den Kopf zur Seite. »Ich denke, dass wir zwei uns durchaus helfen können«, meinte sie plötzlich.

Sie seufzte tief und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Und ich befürchte, dass uns keine andere Wahl bleibt, als genau das zu tun. Ich werde hier nämlich nichts finden, ebenso wenig wie du. Hier nicht, und auch nicht in Molja, Denva, Talis oder sonst wo.«

Ihre Direktheit war wie ein Seitenhieb für mich. Er tat weh, machte mich wütend und ebenso ängstlich. Wie konnte sie es wagen? Dachte sie wirklich es wäre ihre Aufgabe, mich an all das zu erinnern? Was wollte sie überhaupt von mir? »Das werden wir sehen«, knurrte ich abweisend und rappelte mich auf.

Wie erwartet gab sie nicht direkt nach. Sie machte sich aber auch nicht die Mühe, aufzustehen und mir den Weg zu versperren, sondern murmelte stattdessen in aller Ruhe: »Sellatas ist ein wirklich erbärmliches Reich. Wer überleben will, dem muss entweder das Glück in die Wiege gelegt sein oder er muss kämpfen. Es gibt hier kaum gut bezahlte Arbeit, und genügend Häuser hat es hier erst recht nicht. Verwaiste Kinder haben an einem Ort wie diesem keine Chance.«

Ich presste die Lippen zusammen. Wenn das so war, dann musste ich eben doppelt so hart kämpfen wie alle anderen! Ich würde ganz bestimmt nicht so scheitern wie meine Mutter, niemals!

»Es ist hoffnungslos, Fremde«, rief das Mädchen noch einmal und diesmal blieb ich mit einem Seufzer stehen.

Langsam drehte ich mich um. »Was willst du eigentlich?«

Ihre Augen waren nun groß und kugelrund, was mich noch mehr irritierte. »Ich will wieder nach Hause, doch dafür musst du etwas für mich tun.«

Nachdenklich ging ich in die Hocke und erneut fing mich ihr unergründlicher Blick. »Und was wäre das?«, seufzte ich.

Auf einmal griff sie nach meiner Hand und führte sie zu einem funkelndem Messer, das vor uns in den Trümmern lag. »Wie weit würdest du gehen für ein Zuhause?«, fragte sie leise.

Wie weit?, hallte die Stimme des kleinen und doch so unfassbar rätselhaften Mädchens in meinem Kopf wider. Wie ein Echo. Zärtlich und sanft, dennoch ließ sie mich erschaudern. Auf einmal wirkte dieses kleine, süße Kind wie eine Bedrohung auf mich.

»Wieso?«, murmelte ich. Je länger ich in ihre hübschen braunen Augen starrte, desto mulmiger wurde mir zumute.

Auf einmal lächelte sie. »Ich habe ein Angebot für dich«, sagte sie leise.

Nun wurde ich noch misstrauischer. Ein Angebot eines zehnjährigen Mädchens – das könnte spannend werden. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte ich meine Anspannung zu verdrängen, oder sie zumindest zu ignorieren - jedoch nur mit mäßigem Erfolg.

»Und das Angebot wäre?«

Ihr Lächeln wurde breiter und sie beugte sich vor, sodass ihre langen hellen Haarsträhnen in mein Gesicht fielen. »Du könntest alles haben, was du willst«, sagte sie eindringlich.

Ich runzelte die Stirn. »Alles?«

»Alles«, bestätigte sie leise.

Am liebsten würde ich sie wegschubsen. »Das ist unmöglich«, erwiderte ich trocken, »du hast doch selbst nichts, wie willst du mir überhaupt etwas anbieten?«

»Du meinst es ist unmöglich?«, wiederholte sie meine Worte, jedoch ohne dabei die Miene zu verziehen, »und was, wenn nicht?«

»Es gibt kein ‚wenn nicht.'«

Vielleicht war sie gereizt, vielleicht auch verunsichert. Doch sie zeigte es nicht. Nicht eine einzige Emotion stand in ihrem Gesicht. Nun musste ich mir eingestehen, dass dieses kleine Mädchen nicht nur ein beindruckendes Gefühl für die richtigen Worte hatte, sondern auch noch verdammt gut darin war, ihre eigenen Emotionen zu verstecken.

Die Fremde strich sich nachdenklich durch die aschefarbenen Locken und blinzelte mich freundlich an. »Was wünscht du dir denn?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Eine Heimat, eine gesunde Familie, eine vollständige Familie.« Und jetzt schenk mir das alles, gute Fee, fügte ich still hinzu. Ich wollte mich ihr entreißen und meines Weges gehen. Das war schließlich nur ein kleines Kind mit komischen Vorstellungen. Doch stark war die Kleine auch, denn sie schaffte es, mich festzuhalten.

Ich spürte, wie sich meine Finger langsam zu einer Faust schlossen, fast schon instinktiv. Plötzlich funkelte Zorn in ihren Augen auf und sie zischte: »Bleib hier, sonst wirst du es noch bereuen.«

Sie klang ernst. Zu ernst. Ihr Lächeln war verschwunden, wie die Sonne in dieser kohlrabenschwarzen Nacht. Ihre Anspannung schien an mir abzufärben. Ich schluckte und hielt still.

Zu meiner Erleichterung wurde ihr Griff wieder lockerer. »Es gibt etwas, das du wissen solltest, Fremde: Meine Eltern sind adelig. Wir sind nach Denva gekommen um zusammen mit König Cifan einige Vorbereitungen zu treffen, da es bald ein weiteres Duell geben soll. Du weißt, dass Prinzessin Sinula während dem letzten geflohen ist, oder?«

Ich nickte.

Sie senkte die Stimme. »Ich habe etwas gehört: Cifan sucht nach einem Duellanten, der sie ersetzt, und der Duellant wird, falls er gewinnt, als Held gefeiert werden.«

»Und? Das brauche ich nicht.«

»Aber den Preis brauchst du, denn der ist hoch. Wenn du gewinnst, dann darfst du im Schloss leben. Mit deiner ganzen Familie. Alles was du willst, sollst du bekommen. Die feinsten Gerichte der Schlossküche werden dir zustehen, Kleidung, die wertvoller ist als alles was du in deinem bescheidenen Leben je gesehen hast und Lehren von jeder erdenklichen Wissenschaft, die du begehrst. Man wird Respekt vor dir haben, wie vor einer Prinzessin, und du wirst auch wie eine behandelt werden. Wenn du gewinnst... Wenn du kämpfst... Nur dann.«

Du wirst alles bekommen, klangen ihre Worte in meinem Kopf nach. Alles. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, wie aufgewehte Blätter. Nachdenklich sah ich sie an. Argwohn funkte in mir auf. Konnte das stimmen? Nein, das ist unmöglich, sagte ich mir sogleich. Wieso sollte sich König Cifan solche Mühe für einen einfachen Duellanten geben? »Das will ich erst von König Cifan selbst hören. In welcher Form auch immer«, sagte ich entrüstet. »Davor denk ich nicht mal darüber nach.«

»Das findest du klug?«, zischte sie.

Ich hielt inne und spürte allmählich Groll in mir aufsteigen. »Lass mich in Ruhe«, murrte ich, »das stimmt alles nicht.«

»Wieso denkst du?« Ihr Blick durchbohrte mich förmlich.

»Weil der Lohn zu hoch ist.«

»Meinst du? Nun, bedenke, dass du für dein Reich kämpfst. Für die Zukunft deinen Reiches.«

»Woher soll ich wissen, für was dieses Duell gut sein soll«, gab ich zurück.

»Du weißt es nicht?«, fragte sie, nun ein wenig überrascht, »deshalb bist du also so stur.«

Doch bevor ich eingeschnappt werden konnte, fügte sie mit einem Lächeln auf den Lippen hinzu: »Naja, welche Reaktion erwartet man schon von einer Unwissenden. Du weißt sicherlich dass Cifans Bruder, Prinz Riamos, vor über zehn Jahren spurlos verschwunden ist.«

Ich nickte. »Ja, das hat so ziemlich jeder hier mitbekommen.«

Sie senkte die Stimme. »Nun, ebenso plötzlich wie er verschwunden ist, ist er auch wieder aufgetaucht. Und zwar als ein erwachsener Mann und mit einem riesigen Volk an seiner Seite. Sie wollen die Berge einnehmen. Wir sollen uns ihnen unterwerfen und nach ihren Regeln leben. Riamos denkt, dass ihm der Platz als König zusteht, da er der ältere Bruder ist.«

Sie seufzte. »Der arme Cifan kann es nicht übers Herz bringen, gegen seinen eigenen Blutsverwandten zu kämpfen, den er fast fünfzehn Jahre lang vermisst hat. Also hat er sich für ein Duell entschieden...«

»Und seine Tochter für ihn kämpfen lassen«, beendete ich für sie den Satz. »Und das kann er übers Herz bringen?«

»Er hat einen Fehler gemacht«, verteidigte sie ihn, »er war sich ihres Sieges so sicher - weil sie seine Nachfolgerin ist, dass er die Augen vor der Realität verschlossen hat. Erst als sie unter Tränen vor ihm geflohen ist, sah er ein, dass das was er getan hatte, nicht richtig war.«

Auch das genügte mir noch nicht. Ich konnte diesem Mädchen einfach nicht vertrauen. Vielleicht lag es an ihrem seltsamen Auftreten, vielleicht aber auch daran, dass ich so ziemlich Jedem gegenüber Misstrauen zeigte. Also bohrte ich weiter. »Und wieso willst du unbedingt dass ich an diesem Duell teilnehme? Was hast du davon?«

Wieder lächelte sie leicht. Falls mich das beruhigen sollte, scheiterte sie bei diesem Versuch wohl gänzlich, da meine Verunsicherung dadurch nur noch weiter wuchs.

»Du kannst dir nicht vorstellen wie lange der König und sein Gefolge, mitunter meine Eltern, schon nach einem Duellanten suchen. Niemand will für unser Volk sein Leben riskieren und das bringt Cifan bereits an die Grenzen der Verzweiflung. Ein freiwilliger Duellant wäre für ihn wertvoller als jedes Gold der Welt – für meine Eltern ebenso.«

Sie sah mir blinzelnd in die Augen. »Wenn ich ihnen etwas mitbringe, das sie als so kostbar empfinden, dann würden sie mich wieder bei sich aufnehmen. Wir würden also alle beide davon profitieren.«

Schaudernd blickte ich auf die Überreste meiner Heimat. Ich sah wieder das Elend vor mir. Ich hatte es glasklar vor Augen, wie an jenen leidvollen Tagen, als es nicht nur ein bloßes Erinnerungspuzzle war sondern bittere Gegenwart. Was wenn sie Recht hatte? Was wenn es für mich und Majvi wirklich keinen Ort gab, an dem wir bleiben konnten? Wir waren noch Kinder, ganz alleine, wie sollten wir so ganz alleine, wie wir waren überleben? Ich konnte nicht arbeiten gehen und für Waisenkinder interessierte sich niemand hier. Die Leute hatten ihre eigenen Probleme, keiner von ihnen würde es sich leisten können, sich um uns zu kümmern.
Ich muss es tun. Ich habe gar keine Wahl.

Ich holte tief Luft und ehe ich mir gänzlich im Klaren war, was eine solche Entscheidung für mich und meine Schwester bedeutete, willigte ich ein.

Danach ging alles ganz schnell.

Das Mädchen strich sich die Haare zurück und hielt mir dann ihre blasse Hand hin. Zögernd griff ich zu.

»Ich heiße Mevena«, stellte sie sich vor, ehe sie sich in Bewegung setzte und mich durch den Nebel zog. An Asche, Staub und zahlreichen auf und ab wippenden Baumstümpfen vorbei. Blindlings stolperte ich hinter ihr her, ohne zu wissen, wohin sie mich führte. Ich sah kaum etwas, nur dieses alles einnehmende Grau.

Ich hustete mehrmals gegen den Rauch an und spürte wie meine Hand, mit der ich Mevena fest umklammert hielt, langsam feucht wurde. Ihr Griff war fest und entschlossen.

Dann öffnete sich auf einmal die graue Wand, und dahinter erblickte ich eine bunte Welt. Der Rauch zog einfach an mir vorbei, ohne jemals zurückzukehren. Hinter mich, in die Dunkelheit.

So stand ich da, mitten im Schein des Mondes, vor mir das Himmelschloss. Keuchend machte ich ein paar Schritte vorwärts, zu einer Schlucht, die tief ins Meer hinabfiel. Kalter Wind blies mir aus den geheimnisvollen Weiten der Ozeane entgegen, Wellen rauschten um den gigantischen Fels, auf dem das Schloss thronte. Es hatte hohe Türme mit edlen Verzierungen. Die Wände waren silbern und die Schlossfenster blau. Der königliche Garten war riesig, und bestand zur Hälfte aus dem Wasser, das sich aus den oberen Gebieten der Berge ansammelte. Der See glänzte in einem dunklen Blau, das aber schon wenige Meter weiter vorne von einem harten Weiß unterbrochen wurde, von wo aus das Wasser in großen Mengen in die Tiefe stürzte. Die Wasserfälle.

Das Himmelschloss hatte seinen Namen, da es am Meer lag, und dieses wiederum laut den vielen Geschichten und Legenden, die so ihre Runden machten, in den Himmel führte. Es wurde gesagt, dass wenn man weit über den Ozean reise, sich das Wasser irgendwann in Luft auflösen würde. Habe man ein gutes Herz, so würden einem unter dem sogenannten Himmelstor Flügel wachsen und man würde zum Himmel gleiten können. Sei das Herz jedoch böse, so würde man fallen - direkt in die Hölle. Man konnte aber bloß in den Himmel gelangen, wenn man entweder starb oder es schaffte, das Tor der Liebe zu überqueren. Letzteres konnte man nur, wenn ein guter Geist einem innig vertraute. Denn nur so konnte man den Himmel vor bösen Geistern und Dämonen schützen.

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Mevena neben mich stellte. Ihr üppiges Kleid wehte im Wind, der pfeifend über die Küste strich und sich in ihren Schleiern und Haaren verfing. Zuerst meinte ich, das Mädchen würde aufs Meer sehen, doch als ich sie genauer betrachtete, musste ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen feststellen, dass sie auf einen ganz bestimmten Fleck starrte: Eine pechschwarze, kahle Fläche, die wie ein Spiegel das kühle Licht des Mondes reflektierte. Eigentlich war sie für Konferenzen gedacht, doch noch vor wenigen Wochen hatte sie als Schlachtfeld gedient. Sie wirkte wie ertränkt von Blut und düsteren Geschichten.

Mevenas Augen waren verengt und wieder seltsam ausdruckslos. Ich spürte ihre Arme, die sich vorsichtig um meine Schultern legten, dann hörte ich sie unmittelbar an meinem Ohr flüstern. »In drei Tagen, zu Sonnenaufgang, an diesem Ort. Das schaffst du doch, oder?«

Ich nickte steif, obwohl ich mir da ganz und gar nicht sicher war. Auf einmal spürte ich wieder Zweifel in mir, die in Form von kurzen Schaudern über meinen Rücken fuhren. Mir war so kalt...

»Bis dahin wirst du einen Freund von mir aufsuchen und bei ihm bleiben«, murmelte sie weiter, »du findest in am Rande von Denva, in der Nähe des Himmelsschlosses. Du wirst ihn sofort erkennen, da seine Haare so bleich wie Porzellan sind und er eine Augenklappe trägt. Sein Haus hat einen kleinen Steingarten und einen großen Springbrunnen.«

Ich konnte kaum reagieren, ehe sie sich schon mit »viel Glück bei der Suche«, verabschiedete.

Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich sie nur noch als winzigen Punkt in der Ferne, der sich flink und leise wie ein Raubtier von mir fortbewegte. Ich blieb alleine zurück, mit einer geheimnisvollen Stille und tausenden Fragen.

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