Berlin, Neukölln
17. Dezember 2015
„Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau, Baustellen und verstopfte Straßen, wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen leid, die nicht hier leben können!"
Entspannt zurückgelehnt auf meinem Sitz in der vollen Linie U8 nach Neukölln las ich breit grinsend diesen Spruch, den jemand mit Edding an den Vordersitz gekritzelt hatte.
Ich war so froh, wieder hier zu sein.
Berlin. Liebe meines Lebens, was hatte ich dich vermisst!
An der Endstation Hermannstraße angekommen, schulterte ich meine Tasche, setzte meine Kopfhörer auf, aus denen feinster Metal schepperte, und sprang beschwingt aus der Bahn.
Es war schon weit nach 23 Uhr, aber trotzdem waren die Straßen wie immer noch voller Leben.
An mir zogen junge Leute auf dem Weg zum Feiern vorbei, Rentner bei ihrem Abendspaziergang, Leute im Anzug, die wohl von der Arbeit kamen. Normalos, Junkies, Transen, Punks.
Am Spätkauf sah ich Banker im Anzug, die neben Obdachlosen ihr Feierabendbier tranken und keiner störte sich am anderen. Das liebe ich so an dieser Stadt. Egal, wer oder was du bist, irgendwo hast auch du deinen Platz. Du kannst sein, wer immer du willst und niemand verurteilt dich dafür.
Ich wohnte jetzt seit ungefähr sechs Jahren hier in Neukölln, war mittlerweile durch und durch mit dieser wunderbaren Stadt verheiratet und an Scheidung hatte ich noch nie einen Gedanken verschwendet.
Hier bekommst du alles, was du brauchst, wie du es brauchst, zu jeder Tages-, Nacht- und Sonnenzeit und du hast das Gefühl, dass einfach alles möglich ist.
Je näher ich meiner Straße kam, umso mehr brachen tolle Erinnerungen über mich herein, vor allem aus meinen ersten Wochen in Berlin. Total verknallt und voller Euphorie war ich wochenlang vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hier unterwegs gewesen, um alles zu sehen und zu spüren, was die Stadt zu bieten hatte.
Ich beschloss, dass meine WG noch einen Moment länger auf mich warten konnte, dann bog ich in einen Spätkauf ein, holte mir dort ein Bier und setzte mich auf eine Mauer gegenüber von einem ganz bestimmten Club.
Während ich die Atmosphäre meines Viertels fast schon gierig in mich aufsaugte, blickte ich auf eben diesen Club und dachte nostalgisch zurück an den Tag meines Umzugs von Niedersachsen nach Berlin.
Berlin, Neukölln
24. Juli 2009
Überglücklich umarmte ich meinen stolzen Vater und meine weinende Mutter, während wir an dem Umzugswagen vor meinem neuen Zuhause standen. Nach meinem Abitur hatte ich mir in Berlin direkt eine Ausbildung zum Mediengestalter klarmachen können, die in einer Woche starten sollte.
Ich war gerade mal neunzehn, jung, wild und hungrig nach Spaß und Abenteuern.
„Mama, kannst du vielleicht bitte mal aufhören, zu heulen? Ich bin doch nicht aus der Welt."
„Ich versuch es doch die ganze Zeit schon, mein Baby", sagte sie und weinte nur noch mehr.
Mein Vater drückte meine Mutter an sich und zwinkerte mir zu.
„Der Junge packt das schon."
„Leonhard, ich weiß dass er das packt. Lukas, bitte pass gut auf dich auf. Und treib dich nicht nachts alleine hier rum. Trink nicht so viel und lass die Finger von Drogen."
„Mama..."
Meine Mutter wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und drückte mich nochmal fest an sich.
„Du bist einfach viel zu schnell groß geworden. Bitte, komm ganz oft zu Besuch. Von mir aus jedes Wochenende. Ach, mein Schatz, ich bin so stolz auf dich."
Mein Vater umarmte mich auch nochmal und setzte sich dann in den Umzugswagen. Meine Mutter folgte ihm, stieg aber insgesamt noch vier Mal wieder aus, um mich erneut zu drücken und ein paar Tränchen zu vergießen. Eine ganze Stunde später sah ich dann dem Wagen zu, wie er mit meinen Eltern um die Ecke verschwand.
„Tschüß Dorf, Hallo neues Leben", sang ich vor mich hin und sprang das Treppenhaus zu meiner Wohnung in einem nicht mehr ganz so ansehnlichen Altbau hinauf. Naja, Wohnung war da fast schon zu viel gesagt. Es war eher ein Zimmer. Ein sehr kleines Zimmer mit einem mickrigen Badezimmer, einem Kleiderschrank, einer Matratze, einem Schreibtisch, einem TV, einem Kühlschrank und zwei Herdplatten. Großzügig geschätzte fünfzehn Quadratmeter maß mein neues Reich. Es war nicht groß, es war nicht schön, aber es war mein.
Meine Eltern wollten mir ursprünglich jeden Monat ein bisschen Geld zukommen lassen, aber das hatte ich dankend abgelehnt. Ich war in unserem kleinen Heimatort sehr überbehütet, gut umsorgt und problemfrei aufgewachsen und bekam immer alles von meinen Eltern, was ich brauchte und noch viel mehr.
Jetzt war ich aber endlich hier, fing ein ganz anderes Leben an und wollte das alleine schaffen.
Meine Mutter machte sich deswegen große Sorgen, aber mein Vater war unendlich stolz auf mich.
Ich packte meine Kisten aus, räumte auf und betrachtete stolz mein Werk. Meine Mutter hatte mir Bettwäsche und eine Menge Kissen von Zuhause eingepackt, was mein „Bett" direkt einladend heimisch aussehen ließ. Ich hatte ein paar Bilder von Familie und Freunden aufgehängt und sogar eine winzige Pflanze schmückte die Fensterbank. Die Hälfte des Raumes wurde von meinen Gitarren und anderem Equipment eingenommen, das ich zum Musik machen brauchte.
Ein paar anstrengende Stunden später, als es draußen schon dunkel war, zog ich mich an und erkundete ein bisschen meine neue Heimat. Total geflasht, dass man nach null Uhr hier noch was kaufen konnte, schlenderte ich in einen Spätkauf, holte mir zwei Bier und eine Packung Kippen und ließ mich auf einer Bank nieder.
Gute drei Stunden saß ich einfach da, in dieser warmen Sommernacht, trank und rauchte und malte mir in Gedanken aus, wie mein Leben von nun an weitergehen würde.
Ich wollte schon lange unbedingt mit der Musik mein Geld verdienen. Leider hatte es bisher noch nicht so wirklich geklappt und der Kreis meiner Zuhörer war noch sehr, sehr überschaubar. Aber irgendwie wusste ich schon damals genau, dass noch etwas Großes vor mir lag.
Trotzdem musste ich meinen besorgten Eltern natürlich versprechen, dass ich meine Ausbildung auf jeden Fall fertig machen würde, damit ich etwas in der Hand hatte, falls mein Plan doch nicht so aufgehen sollte, wie ich mir das wünschte. Da ich mich eh schon seit Jahren mit Kameras, Videos, Schnitt, Ton und allem möglichen beschäftigte, was sonst noch dazu gehörte, würde mir die Ausbildung nicht viel abverlangen und ich hätte nebenbei noch eine Menge Zeit für andere Dinge.
Gegen drei Uhr legte ich mich in mein Bett, besser gesagt auf die Matratze auf dem Boden und versuchte, zu schlafen. Ich wälzte mich hin und her, aber war einfach viel zu aufgeregt, um abzuschalten. Also stand ich eine halbe Stunde später wieder auf und zog mich nochmal an. Berlin ist die Stadt, die niemals schläft. Warum also kostbare Zeit mit Schlaf verschwenden, Dorfjunge?
Erstaunt darüber, wie viele andere Menschen außer mir noch immer auf den Straßen unterwegs waren, bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge und blieb einige Ecken weiter vor einem Club stehen, aus dem laut der Bass dröhnte. Das war genau das, worauf ich jetzt Lust hatte. Alleine in einen Club gehen, so was macht in meiner Heimat echt keiner und mir war bei dem Gedanken nicht ganz wohl. Ich beschloss dennoch, über meinen Schatten zu springen und quetschte mich durch den engen Durchgang. Die Leute hier waren so verrückt, da machte sich doch bestimmt niemand Gedanken darüber, warum ein junger Typ alleine hier herum rennt.
Meine Bedenken waren total unbegründet gewesen, denn schon zehn Minuten später kam ich mit ein paar anderen ins Gespräch, tanzte mir die Seele aus dem Leib und kippte eine Menge Kurze, bis ich ordentlich angetrunken war. Die Musik war so laut, dass ich den Bass tief im Bauch spüren konnte, die Stimmung war bombastisch und es roch nach Alkohol, Rauch und Sex.
An der Bar entdeckte ich später ein sehr hübsches Mädchen, etwa in meinem Alter und ließ mich atemlos neben sie auf einen Hocker fallen. Sie drehte sich leicht in meine Richtung, schaute mich an und lächelte. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, grüne Augen und ein sehr ungewöhnliches, interessantes Gesicht. Sie trug ein kurzes, schulterfreies, schwarzes Kleid und sah einfach mega sexy aus.
„Na", sagte ich und grinste sie an.
„Na", gab sie zurück.
Ich hätte nicht so viel trinken sollen, vielleicht wäre mir mit klarerem Verstand etwas wortgewandteres eingefallen.
„Ich bin Ina", schrie sie gegen die laute Musik an und schüttelte meine Hand.
„Lukas."
Wir bestellten uns ein paar Shots und das Eis war schnell gebrochen. Wir redeten und scherzten, als ob wir uns schon seit vielen Jahren kennen würden.
Wie immer, wenn ich etwas mehr getrunken habe, bekam ich bald extrem Lust auf ein bisschen Körperkontakt. Daher rückte ich ein bisschen näher an Ina heran und legte ihr meine Hand auf den nackten Oberschenkel.
„Und, was machen wir zwei sonst noch? Ich wohn hier ganz in der Nähe", flüsterte ich ihr ins Ohr. Ich hatte es gerade fertig ausgesprochen, da wurde ich von einer Hand zurück gerissen. Perplex starrte ich in das wütende Gesicht eines anderen, ebenso heißen Mädchens.
„Alter, machst du hier gerade meine Freundin an?", schrie sie und gab mir eine Ohrfeige.
„Ähm. Oh. Ich. Was?", sagte ich verwirrt und rieb mir meine Wange.
„Du fischst hier im falschen Wasser, Junge."
Ich starrte das Mädchen an und über meinem Kopf bildete sich ein meterhohes Fragezeichen.
Ina zog das Mädchen an sich und lächelte mich entschuldigend an. „So jetzt kennst du auch Tania, meine feste, super eifersüchtige Freundin."
„Oh, ihr seid... also ihr zwei... okay. Ich geh dann mal besser", stotterte ich peinlich berührt und wollte mich von meinem Hocker erheben. Tania drückte mich wieder auf meinen Platz und sagte:
„Hey hey, typisch Mann. Sich erst an einer Frau vergehen wollen und dann abhauen. Jetzt will ich aber wenigstens wissen, wer der Schwanzträger ist, der meine Freundin umpolen wollte!"
Die beiden fingen an zu lachen und sahen mich amüsiert an.
„Du hast keine Ahnung, wo du hier bist, oder?", fragte Ina.
„Offenbar nicht."
„Gut dann sei dir verziehen", sagte Tania. „Das hier ist ein Club für Schwule und Lesben."
„Oh. Das erklärt die Blicke vom Barkeeper und warum mich nur jeder dritte Drink was kostet."
„Du bist nicht von hier, wa? Dorfkind?"
„Langen."
„Wo zur Hölle ist das denn?"
„Nordsee, bei Bremerhaven."
Tania entschuldigte sich noch unzählige Male für die Ohrfeige, die sie mir verpasst hatte und wir tranken, redeten und tanzten ausgelassen zu dritt bis in die frühen Morgenstunden.
Als der Club dann schloss, hatten wir noch lange nicht genug und zogen in die Wohnung der beiden weiter.
Total betrunken saßen wir dort am Küchentisch, rauchten, aßen pappsüßes Karamell-Popcorn zum Frühstück, tranken dazu billigen Rotwein aus dem Tetrapack und schlossen Freundschaft fürs Leben.
Berlin, Neukölln
17. Dezember 2015
„Bin da, wer noch?", rief ich in die Wohnung hinein, während ich die Tür hinter mir schloss. Wenige Sekunden später kam mir eine aufgeregte Ina entgegen gerannt und umarmte mich so stürmisch, dass ich fast nach hinten umfiel.
„Oh Mann, ich hab dich auch vermisst. Was geht?"
„Komm mit", sagte sie und zog mich in die Küche, wo Tania, Karamell-Popcorn, Wein aus der Packung und eine Schachtel Zigaretten auf mich warteten. Unsere Begrüßungszeremonie seit Jahren, in liebevoller Erinnerung an unsere erste Begegnung.
Nur sechs Wochen, nachdem ich die beiden damals kennengelernt hatte, war ich zu ihnen in die Wohnung gezogen, nachdem ihr vorheriger Mitbewohner ausgezogen war. Die beiden sind echt die liebsten, tolerantesten und kreativsten Menschen, die mir jemals begegnet sind.
Tania verdient ihr Geld mittlerweile mit Malerei, Ina stellt Skulpturen her. Damals steckten sie beide mitten im Kunststudium, ich in meiner Ausbildung und alle drei litten wir unter chronischem Geldmangel.
Auch wenn ich mir heute zwanzig Wohnungen gleichzeitig anmieten könnte, hatte ich bisher nie das Bedürfnis gehabt, aus unserer gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Ich war ohnehin nur selten zu Hause und wenn ich da war, genoss ich es, nicht in eine kalte, leere Wohnung kommen zu müssen.
Wir saßen bis in die späte Nacht in der Küche, tranken, rauchten und ich erzählte den beiden alles mögliche von der vergangenen Plan B-Tour. Währenddessen fiel mir Timi wieder ein, an den ich seit meiner Ankunft in Berlin gar nicht mehr gedacht hatte.
„Ach, meine Damen. Ich muss noch ein Bild für Timi von euch machen. Er hat es sich gewünscht."
Tania grinste und krallte sich Inas Kopf, dann gab sie ihr einen feuchten Zungenkuss und ich drückte mit errötetem Gesicht den Auslöser.
„Wie geht's denn dem alten, notgeilen Bock?", fragte sie mich, als sie Ina wieder losgelassen hatte.
„Mh, leider nicht so gut, fürchte ich", antwortete ich nachdenklich und fasste im Groben die Geschehnisse der letzten Tage zusammen.
„Oh, das tut mir Leid."
„Ja, mir auch."
„Hey, was ist eigentlich mit Maya? War sie nochmal da?"
„Ja, gestern. Luke, die lässt einfach nicht locker. Aus irgendeinem Grund will sie dich unbedingt sehen, aber sie sagt nicht warum."
„Hm."
„Lass sie nicht rein, Lukas. Mit der stimmt was nicht."
„Ich kann mir doch wenigstens anhören, was sie will."
„Tu, was du nicht lassen kannst, Alter."
„Ihr denkt viel zu schlecht von ihr. Ich geh schlafen."
„Oh, war ich wieder gemein zu deiner geliebten Maya?"
„Nee, ich bin echt einfach nur müde. Gute Nacht, meine Damen."
Ich drückte meine beiden Mädels nochmal an mich und verschwand dann in meinem Zimmer. Maya, was willst du nur von mir? Unser letztes Zusammentreffen war nun schon sechs Jahre her. Vier Monate, nachdem ich nach Berlin gezogen war, stand sie einfach so vor meiner Haustür, um mir zum zweiten Mal das Herz zu brechen...
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