Du kannst mich nicht retten

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Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
10. November 2004

Zitternd  stand ich am nächsten Morgen mit einer viel zu dünnen Jacke für diese  Jahreszeit auf unserem Gelände herum und wartete rauchend auf das Auto,  das in den nächsten paar Minuten eintreffen würde.

Ich  hatte während meiner ersten Nachtwache insgesamt nur zwei Stunden  schlafen können, mit vielen Unterbrechungen zwischendurch. Ich hatte mir  totale Panik gemacht, was wäre, wenn ich nichts mitbekommen würde, wenn  was passiert, weil ich zu tief schlafe. Weiterhin machte mich die  baldige Ankunft meines ersten eigenen Falles zusätzlich extrem nervös,  weil ich das unbedingt gut machen wollte.

Die ganze Nacht über hatte ich mir ausgedacht, wie ich ihn begrüßen  würde, was ich zu ihm sagen würde, was ich ihm zuerst zeigen würde. Den  Grund für meine Nervosität verstand ich nicht mal selbst, er würde mit  Sicherheit viel gestresster sein als ich, da er im Gegensatz zu mir  schließlich nicht mal wusste, was überhaupt auf ihn zukam.
Ich  hatte mir in der Nacht noch ein paar Mal den Entlassungsbericht des  Krankenhauses angesehen und je öfter ich ihn las, um so größer wurde  meine Aufregung, da der beschriebene Patient in meiner Vorstellung   immer größer, brutaler und einschüchternder wurde.
Kinderheim,  Pflegefamilien, Eltern die sich nicht kümmern, kein Schulabschluss, die  ganzen Drogen, das Verprügeln seiner Mutter... Da konnte ja nur der  brutalste Schläger kommen, den man sich vorstellen kann.

Um so überraschter war ich dann, als das Auto, auf das ich mittlerweile  schon eine dreiviertel Stunde gewartet hatte, endlich um die Ecke bog.
Zuerst  stieg eine stattliche Frau mittleren Alters aus. Das musste die  Mitarbeiterin vom Sozialdienst des Krankenhauses sein, die telefonisch  angekündigt hatte, wann sie ihn genau her bringt.
Einen kurzen Moment später kam dann der Junge, von dem ich vermutete dass es Tim war, um das Auto gelaufen.
Ich  sah ihn mir genauer an, während die beiden langsam über den Hof in  meine Richtung liefen. Das sollte wirklich der Patient sein, der in dem  Brief beschrieben worden war?  Trotz seiner Größe von etwa 1,80 wirkte  er durch den recht dünnen Körper alles andere als furchteinflößend. Man  sah ihm zwar schon an, dass er viel durchgemacht haben musste, aber in  seinem Gesicht war nichts von dem brutalen Schläger zu erkennen, den ich  mir in Gedanken ausgemalt hatte. Eigentlich fand ich sein Gesicht sogar  relativ hübsch und sympathisch.

„Einen schönen guten Morgen, junges Fräulein. Wie war nochmal ihr Name?  Ich hab ihn mir nach dem Termin mit Ihrer Kollegin gar nicht  aufgeschrieben", grüßte mich die stark übergewichtige Frau vom  Sozialdienst, während sie mich skeptisch einmal von oben bis unten  musterte.
„Hallo  Frau Kaiser. Mein Name ist Frau Edvardson. Zara Edvardson", antwortete  ich mit möglichst fester Stimme und betonte das Wort Frau etwas  stärker, als notwendig.
„Okay  und Sie werden für diesen jungen Mann hier zuständig sein, ja? Ich kann  leider nicht länger da bleiben, da ich noch einen Anschlusstermin habe,  aber ich habe mich mit Herrn Wessinger im Auto schon lange und  ausführlich unterhalten und ich denke, er weiß jetzt alles, was ich ihm  über euer Haus hier erzählen kann, oder?", sagte sie und berührte ihn  leicht an der Schulter. Er machte direkt einen Schritt auf die Seite, so  dass ihre Hand ihn nicht mehr erreichte. Dann hob er langsam den Blick  und nickte der Frau kurz zu, bevor er wieder wie zuvor auf den Boden  starrte.
„Fräulein  Edvardson, bei Fragen können Sie mich jederzeit anrufen. Aber ich denke  die wichtigsten Informationen haben Sie von uns im Vorfeld schon  erhalten."

Ich fragte mich, ob die Frau wirklich so knapp danach einen weiteren  Termin hatte. Sie machte den Eindruck, als könnte sie es gar nicht  erwarten, von ihm weg zu kommen.
„Ich  wünsche Ihnen alles Gute, Tim. Sehen Sie es als Chance und nutzen Sie  diese auch. Es gibt hier wirklich sehr gutes Personal, das Sie dabei  unterstützen kann", sagte sie und sah sich suchend auf dem Gelände um.  Mich hatte diese unsympathische Person damit wohl nicht gemeint.
„Wenn  Sie dann keine Fragen mehr an mich haben, mache ich mich auf den Weg",  sagte sie weiter und schüttelte ihm auch schon die Hand zum Abschied,  welche er nur widerwillig angenommen hatte.
„Von mir aus, ist mir egal.", antwortete er ihr knapp und sah sie nicht an.
Als  ich sein starkes Lispeln hörte, tat er mir augenblicklich leid. Ich  fand das im ersten Moment fast süß, aber die anderen Jugendlichen würden  das mit Sicherheit nicht so sehen.

Schweigend standen wir eine Weile nebeneinander und beobachteten Frau Kaiser, die sich stark schnaufend und mit schnellem Schritt zu ihrem Auto schleppte.

„Ok Tim, herzlich Willkommen hier bei uns. Du kannst mich Zara nennen", sagte ich und lächelte ihn freundlich an.
Er schenkte mir ein kurzes Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reichte.
„Komm mir nach, ich zeige dir erstmal alles."
„Brauchst dir gar nicht erst so viel Mühe geben, ich will hier gar nicht sein und ich bleib eh nicht lang da."

Nachdem ich ihm dann sein zukünftiges Zimmer im zweiten Stockwerk des Hauses für die männlichen Jugendlichen gezeigt hatte, machten wir uns auf den Weg ins Büro, wo ich mit ihm noch ein paar Aufnahmeformulare ausfüllen wollte. Alles, was ich sagte, schien ihn nicht zu interessieren und er gab mir, wenn überhaupt, nur einsilbige Antworten.

Kurz vor der Tür des Büros kam uns dann Kevin, zusammen mit drei anderen  Jugendlichen, entgegen. Kevin war das perfekte Abbild des typischen  Klischees eines asozialen Jugendlichen. Er stand jetzt kurz vor seinem  achtzehnten Geburtstag, war knapp zwei Meter groß, wog um die 130 kg  und hatte einen kahl rasierten Schädel mit einem bulligen Gesicht.
Er  war es, der unter den Bewohnern des zweiten Stockwerks das Sagen hatte.  Nicht, weil ihn die anderen für irgendetwas bewunderten, sondern weil  sie alle Angst hatten, ihm zum Opfer zu fallen, würden sie nicht tun,  was er sagte.
Kevin  bemerkte Tim direkt und augenblicklich blitzte unverhohlene Aggression  in seinen Augen auf. Er schwenkte mit schnellem Schritt in Tims Richtung  und rempelte ihn an, woraufhin dieser hart an die Wand gestoßen wurde.
Nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, ging er auf Kevin zu und gab diesem ebenfalls einen kräftigen Stoß.
„Das kannst du gleich vergessen, fettes Arschloch."
Kevin lachte nur und stieß einem seiner Begleiter an die Schulter.
„Eeeey Mann, haste des gehört Alter, der lispelt ja. Was ist denn das für ein Freak, der kann ja nicht mal richtig reden!"
Sofort brachen die anderen drei in schallendes Gelächter aus und ahmten sein Lispeln nach.

„Jungs, ihr verschwindet jetzt besser sofort", herrschte ich Kevin und sein Gefolge an.
„Jaja,  Puppe, wir sind schon weg", antwortete er und grinste dämlich. An Tim  gewandt fügte er hinzu: „Wir lernen uns später noch kennen."
„Es tut mir echt leid, dass dir so etwas am ersten Tag hier passiert", sagte ich und sah ihn mitleidig an.
„Interessiert mich nicht was der labert."

Eine halbe Stunde später hatten wir, sehr mühsam, da sich Tim kaum auf eine Sache konzentrieren konnte, die notwendigen Formulare für die Aufnahme ausgefüllt.


„Gut, das hätten wir. Dann erzähle ich dir jetzt noch, wie so der Tagesablauf hier ist."
„Mhm." Augenverdrehen.
„Also zwischen 6:30 und 7:00 müsst ihr alle aufstehen und euch fertig machen."
„Mhm." Genervtes Schnauben.
„Dann  geht es um 7:45 in die Schule unten in der Stadt, oder hier auf dem  Gelände in den Ersatzunterricht für die, die die Schule abgebrochen  haben, so wie du zum Beispiel."
„Ok.  Da liegt doch ein Blatt auf dem Tisch, wo das alles drauf steht. Gib  mir das einfach mit und gut ist", sagte er und tippte nervös mit seinem  Fuß auf dem Boden herum.
„Oh." Irritiert schob ich ihm das Blatt über den Schreibtisch entgegen, welches er mir grob entriss.
„War es das dann? Kann ich gehen?"
„Naja ich wollte dich schon noch ein bisschen kennen lernen."
„Da  gibt's nicht viel zu wissen. Ich bin einfach ein kranker, irrer  Drogenjunkie. Wie gesagt, mach dir keine Mühe, wenn mich die ganzen  Ärzte und Therapeuten nicht retten können, dann du erst recht nicht",  sagte er und wurde dabei immer lauter.
„Sag doch sowas nicht, Tim. Das kriegen wir alles wieder hin."
„Da  gibt's nichts hinzukriegen. Ich will auch gar nichts hinkriegen. Ich  will einfach in Ruhe gelassen werden. Klemm dir deine kleinen  Lebensweisheiten, die du vorgestern in der Schule gelernt hast, einfach.  Du kannst mich nicht retten. Versuch es also erst gar nicht. Ich bin  nicht zu retten. Wann rafft ihr das endlich?"
Mit  diesen Worten verließ er auch schon das Büro und knallte mir die Tür  vor der Nase zu, nachdem er einfach so mein Wasserglas gegen die Wand  geworfen hatte.

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