Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
17. November 2004
An einem Mittwoch, spät nachmittags, saß ich vor dem Wohnheim, rauchte mal wieder eine Zigarette und genoss die letzten, schwachen Sonnenstrahlen eines ereignislosen Tages.
Gut eine Woche war nun seit Tims Einzug vergangen, ohne dass nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen waren. Er hatte bisher die meiste Zeit nur in seinem Bett verbracht und die Decke über den Kopf gezogen. Eine Antwort gab er mir nur sehr selten, wenn ich ihn ansprach. Von Frau Meyer, der Pädagogin, die den Kurs für die Schulabbrecher gab, wusste ich, dass Tim auch dort, in den vier Pflichtstunden täglich, stets ganz hinten in der letzten Reihe saß, gar nicht sprach und meistens nur teilnahmslos aus dem Fenster schaute.
Ich wollte gerade aufstehen, um wieder reinzugehen, als Tim sich plötzlich neben mich setzte. An seiner Atmung hörte ich, dass er sich gerade über irgendetwas sehr aufgeregt haben musste. Da er bisher noch nie aus freien Stücken in meine Nähe gekommen war und ich ihn nicht unter Druck setzen wollte, sprach ich ihn nicht an, blieb aber sitzen. Er saß im Schneidersitz auf der Bank, vergrub seinen Kopf in beiden Händen und holte ein paar Mal sehr tief Luft. Dann hob er den Kopf und sah meinen Kollegen Gerd, der gerade an unserer Bank vorbei ging, mit hasserfülltem Blick an.
„Ich will mit dem da nie wieder reden. Dieser Idiot der da läuft. Der kam grad ohne zu klopfen in mein Zimmer und dann hat er sich ungefragt zu mir auf die Bettkante gesetzt und mich einfach zugelabert. Ich hab den doch noch nie vorher gesehen.
Er hat gesagt, er hat grad meinen Entlassungsbericht gelesen und das wäre ja alles so schlimm und er hat mir gleich einen endlosen Vortrag gehalten, wie gesundheitsschädlich doch die Drogen sind und dass ich bloß keine mehr nehmen soll.
Dann hat er mich gefragt, warum ich Drogen nehme und warum ich nicht mehr zuhause wohnen will und gemeint es wäre ja total uncool gewesen, meine Mutter zu schlagen. Ja ähm, was noch?
Ja er meinte dann, ich soll mich halt benehmen und machen was er sagt und dann werde ich schon wieder den richtigen Weg finden oder so und ich soll ihm bloß alles von mir erzählen. Ich will mit dem nicht mehr reden."
Ich sagte erstmal nichts, da mich die Menge der Worte, die gerade so völlig unerwartet aus seinem Mund gekommen waren, im ersten Moment total sprachlos gemacht hatten.
Mein 55-jähriger Kollege Gerd war so ein ganz spezieller Fall für sich. Er hatte einen unbefristeten Arbeitsvertrag, konnte darum nicht gekündigt werden und war vom Träger in unsere Einrichtung versetzt worden. Wegen Umstrukturierungsmaßnahmen gab es seinen Arbeitsplatz in einer anderen Einrichtung nicht mehr. Er hatte vorher in einem Wohnheim für schwerbehinderte Erwachsene gearbeitet, also in einem ganz anderen Arbeitsfeld.
Keiner meiner Kollegen, einschließlich mir, mochte ihn. Er war so ziemlich die ungeeignetste Person, die man sich für diesen Job vorstellen konnte. Er behandelte die Jugendlichen allesamt wie kleine Kinder, die keine Ahnung von Nichts hatten und wollte ihnen jeden noch so kleinen Schritt vorschreiben. Auch an uns Mitarbeiter verteilte er unentwegt und ungewollt kluge Lebensratschläge und vor allem Gesundheitstipps.
Er war ein richtiger Trampel, besaß keinerlei Einfühlungsvermögen, redete ständig über sein armseliges Privatleben und verlangte, dass sein Gesprächspartner das ebenfalls tat, auch wenn er diesen gerade mal seit drei Minuten kannte. Er war schließlich derjenige, der alles besser konnte und wusste und das sollten wir alle gefälligst auch wissen.
Jedenfalls will ich damit sagen, dass ich Tims Beschwerde sehr gut nachvollziehen konnte.
„Tim, ich kann verstehen, dass dir im Moment nicht nach Reden ist. Es wäre natürlich hilfreich, wenn wir ein paar Sachen von dir wüssten, aber das hat alles Zeit. Du musst nicht reden, wenn du nicht reden willst."
„Gut", sagte er nur und war so schnell wieder aufgestanden, wie er gekommen war und ging wieder ins Haus hinein.
16. Dezember 2004
Ich saß am späten Abend in meinem Büro, umklammerte mit beiden Händen meine Kaffeetasse und starrte die schwarze Flüssigkeit darin an. Tim war nun seit etwa einem Monat bei uns und er redete immer noch nicht mit mir. Ich dachte eigentlich, dass die Beschwerde über meinen Kollegen vor rund vier Wochen das Eis gebrochen hätte, aber weit gefehlt.
Ich war mittlerweile richtig verzweifelt und überlegte, ob ich nicht mit Carsten reden sollte, um ihn zu bitten, dass jemand anderes Tim übernahm. Ich kam da einfach nicht weiter. Ich wollte ja mit ihm arbeiten, aber er ließ mich einfach nicht. Der Einzige, mit dem Tim bisher redete, war Philipp, unser 27-jähriger Sozialarbeiter.
Ich sah die beiden ab und zu am späten Abend zusammen auf der Bank sitzen und rauchen. Es kam sogar manchmal vor, das Tim über irgendetwas lachte, was Philipp sagte.
Ich nahm meine Tasse und mein Zigarettenpäckchen, ging aus dem Haus raus und setzte mich draußen neben Philipp, der diesmal alleine auf der Bank saß.
„Philipp, wie schaffst du es, dass er mit dir redet?"
„Zara, mach dich nicht verrückt, wir reden wirklich nur über ganz banale Dinge. Nichts tiefgründiges. Du musst einfach ein bisschen lockerer sein. Du bist zu bemüht und das merkt man eben auch. Lass es sich langsam entwickeln. Das kommt halt bei manchen vor, dass die mehr Anlaufzeit brauchen. Das ist ganz normal.Wirklich."
„Ja ich weiß, aber ich komm mir so nutzlos vor."
„Manche brauchen einfach länger. Ist halt langwierige Beziehungsarbeit, was wir hier machen. Ich meine, wenn du jemanden kennenlernst, sagst du ihm ja auch nicht nach einem Monat direkt alles, oder? Ich hatte schon Jugendliche da, die haben mir schon im ersten Gespräch alles mögliche erzählt. Es kann aber auch vorkommen, dass du erst zwei Jahre lang eine Beziehung aufbauen musst, bis sie dann denken, das ist ja doch nicht alles blöd, was der sagt. Aber ist echt kein Drama, als ich ganz neu in dem Beruf war, dachte ich auch ich könnte jetzt die Welt retten und alles verändern. Mit der Zeit merkt man dann schnell, dass es nicht so ist. Und merk dir bitte eins, wir können sie nicht alle retten. Du kannst ihm verschiedene Wege und die jeweiligen Konsequenzen davon aufzeigen, aber welchen Weg er letztendlich geht, muss er alleine entscheiden. Sein Leben kannst du nicht für ihn leben. Das muss jeder für sich alleine tun. Auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, dass man nur noch dabei zusehen kann, wie sich jemand für den falschen Weg entscheidet."
„Okay. Danke Philipp, das hat mir echt geholfen."
„Keine Ursache, Süße. Das ist jetzt nur meine Sichtweise. Du musst halt selbst heraus finden, wie du mit gewissen Sachen umgehst. Gerd zum Beispiel hat gestern Gras und Tabletten bei Tim entdeckt und wollte ihn direkt wieder rausschmeißen lassen. Ich denke mir aber, lieber nimmt er sie bei uns und wir sehen, wenn er gar nicht mehr drauf klarkommt und schicken ihn dann ins Krankenhaus, als dass er dann womöglich obdachlos ist und am Ende des Tages unter irgendeiner Brücke an der Überdosis verreckt. Es geht gar nicht so darum, die richtige oder die falsche Entscheidung zu treffen. Wenn du das sagst, wovon du wirklich überzeugt bist und nicht das, was im Lehrbuch steht, wenn du ehrlich und authentisch bist, dann kannst du oft viel mehr erreichen."
„Ach Philipp, ich hoffe ich werde eines Tages auch mal so gut in dem Job, wie du."
„Mindestens. Und so schlecht bist du doch auch jetzt schon gar nicht. Über Gerd hat er sich immerhin schon beschwert, über dich noch nicht."
30. Dezember 2004
In den beiden darauffolgenden Wochen nach unserem Gespräch hatte ich versucht, die Ratschläge von Philipp, so gut ich konnte, umzusetzen. Und so kam es dann, dass Tim während einem Nachtdienst zaghaft am Büro klopfte.
„Hallo. Kann ich reinkommen, bitte?", fragte er mich, fast schon schüchtern.
„Ja klar."
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt eine Woche lang keine Drogen außer Gras zu mir genommen habe. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht."
„Das ist gut, Tim. Was bringt dir denn das Kiffen eigentlich, weil du diese eine Sache nicht lassen kannst?". Ich hatte den Satz noch nicht fertig ausgesprochen und schon hatte ich mir gewünscht, dass ich die Frage nicht gestellt hätte. Da öffnete er sich endlich mal ein Stückchen und ich kam zum Dank direkt mit einem unterschwelligen Vorwurf daher.
Doch er wurde zu meinem Erstaunen nicht laut, er rastete nicht aus. Er blieb völlig ruhig.
„Naja, Cannabiskonsum akzeptiert doch eigentlich so ziemlich jeder, ich bin mir gar nicht so sicher, ob man das überhaupt als Droge bezeichnen kann. Es macht mich körperlich ruhiger, ich kann lachen und sogar weinen. Mit THC kann ich reden, auch über mich."
Er schaute eine Weile auf den Boden und schwieg. Dann hob er den Blick und sah mir direkt in die Augen.
„Außerdem wollte ich mich noch dafür entschuldigen, dass ich an meinem ersten Tag dein Glas an die Wand geschmissen habe. Du hast da eigentlich gar nichts falsches gesagt. Es ist wirklich nicht so, dass ich nicht mit dir reden will. Echt nicht. Es ist eher so, dass ich nicht mit dir reden kann, weil ich nicht weiß wie. Weißt du, alles was ich erlebt habe, alles was ich gesehen habe... und was ich fühle... Ich kann es dir nicht erzählen, weil ich keine Worte dafür finde, weil es dafür keine Worte gibt. Du würdest es nie verstehen und ich könnte es dir nie verständlich machen. Also, danke fürs Zuhören, ich geh dann mal wieder ins Bett."
Er erhob sich, schenkte mir diesmal ein wirklich ehrliches Lächeln und verließ das Zimmer.
Als ich später in dieser Nacht nach einer Zigarette auf dem Hof wieder in mein Büro zurück gehen wollte, stand dort vor der Tür ein hübsches, neues Wasserglas. Daran war ein Zettel geklebt, auf dem nur ein einziges Wort stand: Sorry.
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