Ich sag Lebewohl zu den alten Geschichten

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Bielefeld, Tims Haus
26. Dezember 2015

„Hier, das geht bestimmt auch noch in die Kiste rein", sagte ich zu Marcel, der kiffend auf meinem Bett saß und hielt ihm ein gerahmtes Foto von Zara und mir entgegen. Den gestrigen, ersten Feiertag hatte ich zwar auch noch überwiegend im Bett verbracht, aber immerhin hatte es mit dem Duschen und Essen besser geklappt und das Bewusstsein darüber, dass mein Zustand nicht für immer so bleiben würde, war auch zurückgekehrt. Seit heute war ich dann endlich soweit stabil, dass ich meinen normalen Alltag wieder einigermaßen aufnehmen konnte.
Marcel nahm das Bild entgegen und verstaute es vorsichtig zwischen all den anderen Erinnerungen an Zara, die wir zuvor schon im ganzen Haus eingesammelt hatten. Ich hatte mir heute Morgen überlegt, dass es vielleicht besser sei, nicht jeden Tag aufs Neue das sehen zu müssen, was ich verloren hatte. Dass es was bringen würde, glaubte ich zwar noch nicht so wirklich, aber versuchen könnte ich es ja mal. Marcel war vorhin vorbei gekommen, um eigentlich nur mal kurz einen Spliff mit mir rauchen, damit er später seine Familienfeier überleben würde und ich hatte ihn bei der Gelegenheit einfach mal dazu gezwungen, mir mit meinem Projekt behilflich zu sein.
„Mann Timi, das nimmt ja gar kein Ende."
„Doch, wir haben es gleich, Alter. Kann jetzt echt nicht mehr so viel sein", besänftigte ich ihn und sah mich im Zimmer um. „Unterm Kissen liegt noch ein Shirt von ihr, das kannst du gerade noch wegpacken, wenn du eh schon da sitzt. Kein Kommentar dazu, bitte."
„Kein Ding, ich hab einen BH von meiner Ex unter der Matratze, ich glaub, damit toppe ich dich noch."
„Denke schon", sagte ich mit einem Hauch von Grinsen im Gesicht.

Einen der vielen Rahmen behielt ich draußen, nahm das Foto darin heraus und steckte stattdessen die Zeichnung hinein, die Zara mir zu Weihnachten geschickt hatte.
„Ich denke, es ist okay, wenn ich das aufhänge, oder? Ich meine es ist zwar von ihr, aber sie ist ja nicht drauf."
„Ich glaube auch, dass es okay ist. Mach nur."
Ich hängte das Bild an einen der vielen Nägel, die jetzt nutzlos in der Wand steckten und ging ein paar Schritte zurück, um zu prüfen, ob es gerade hing.
„Okay, passt."
„War das dann alles?"
„Eine Sache noch", seufzte ich und kramte in den Tiefen einer Schublade herum. Ich holte diesen letzten Gegenstand heraus, hielt ihn einen längeren Moment in den Händen und warf ihn dann zu Marcel. „Ja, genau. Es ist genau das, wonach es aussieht", sagte ich und ließ mich neben ihm nieder. Sichtlich überrascht drehte er die kleine Schachtel in seiner Hand hin und her und starrte darauf. „Du wolltest sie heiraten?"
„Jepp. Vor vier Jahren schon hab ich das Teil gekauft und mich nie getraut. Gott, ich kann dir gar nicht mehr sagen, in wie vielen von diesen fucking Läden ich damals war, bis ich den richtigen gefunden hatte. Jetzt brauch ich ihn wohl nicht mehr. Wahrscheinlich hat der Spast von Doktor ihr schon einen Ring an den Finger gesteckt. Pack weg."
Marcel packte die Schachtel zu all den anderen Sachen und dann räumten wir mein halbes Leben in den Keller.

Nach getaner Arbeit lagen wir nebeneinander im Bett, kifften und zogen uns ein paar Folgen South Park rein.
„So und jetzt?", fragte ich meinen Freund gähnend. „Wie geht es weiter?"
„Ähm, heute oder insgesamt?"
„Insgesamt."
Marcel zog ein letztes Mal an seinem Joint, ehe er ihn ausdrückte und drehte sich dann zu mir um.
„Ich denke, du solltest in nächster Zeit mal ein bisschen Spaß haben und dich ablenken. Du weißt schon."
„Mich durch die Gegend ficken?"
„Ich wollte es jetzt nicht ganz so direkt ausdrücken, aber ja."
„Ach, ich weiß nicht. Obwohl. Das letzte Mal ist ewig her. Bestimmt schon zwei Wochen", sagte ich, nicht sehr begeistert von seinem Vorschlag.
„Äh, ja genau, zwei Wochen ist eine Ewigkeit her", sagte er nicht ohne spöttischen Unterton.
„Das ist ewig", antwortete ich und lachte leise.
„Ruf doch die eine da an, mit der du dich immer getroffen hast, wenn mit Zara Pause war. Amy?"
„Ana. An die hab ich ja schon ewig nicht mehr gedacht."

Mit einundzwanzig, als Zara und ich gerade mal wieder eine Beziehungspause eingelegt hatten, hatte ich die drei Jahre jüngere Anastasia auf irgendeinem Festival kennengelernt und mich Hals über Kopf in eine wilde Affäre gestürzt.
Ana steckte damals wie heute in einer ähnlich komplizierten On-Off Beziehung wie ich, auch wenn ihre weitaus weniger dramatisch war, als meine. Mit der Zeit hatte sich das Ganze so entwickelt, dass wir uns immer dann gegenseitig ein bisschen trösteten, wenn wir gerade frei waren. Waren wir beide, oder auch nur einer von uns, wieder vergeben, wurde der Kontakt komplett eingestellt und das war dann auch vollkommen in Ordnung für uns beide. Wir steckten viel zu sehr in unseren chaotischen Beziehungen, so dass sich nie lästige Gefühle entwickelt hatten, die dem unverbindlichen Spaß im Wege stehen könnten.
Ana war vom Aussehen her zwar das komplette Gegenteil von Zara, aber dennoch zog sie mich sehr an. Während Zara mit ihren schwedischen Wurzeln eher die typische helle, nordische Schönheit verkörperte, war Ana mehr der exotische, südländische Typ. Zara war klein und zierlich, Ana größer und kurviger. Auch in ihrer ganzen Art unterschieden sich die beiden sehr. Im Gegensatz zu Zara war Ana eher einfach gestrickt. Das soll nicht heißen, dass sie nicht viel im Kopf hatte, obwohl das manchmal schon den Eindruck machte. Sie dachte einfach nicht so viel über alles nach, sondern lebte einfach ihr Leben, ohne sich großen Kummer über Konsequenzen zu machen. Darum war unsere Art von Beziehung stets so herrlich unkompliziert und völlig frei von Drama. Sie war einfach ein Mensch, mit dem man sich gerne umgab und es war schön, wenn man trotz einer Trennung noch jemanden bei sich hatte, der einen kannte und verstand.

„Vielleicht peile ich mal die Lage, wenn die Feiertage endlich vorbei sind. Erstmal muss ich heute Abend zu meiner Mutter gehen."
Eine Stunde später war Marcel dann zu seiner Familie aufgebrochen und auch ich machte mich kurz darauf auf den Weg, nachdem ich im Badezimmer endlich mal wieder einen Menschen aus mir gemacht hatte.


Bielefeld, bei Tims Mutter
26. Dezember 2015

Der Abend war dann doch noch ganz okay und weitaus weniger anstrengend verlaufen, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Obwohl wir schon den zweiten Feiertag hatten, an dem die meisten Leute keinen großen Aufwand mehr betreiben, hatten sich nochmal alle zusammen hier eingefunden und meine Mutter hatte in der Küche alles gegeben. Ich saß zusammen mit meinem Stiefvater Martin, meiner Schwester Emma und meinen Halbgeschwistern Louis, Hardy und Randi am Tisch, während meine Mutter das Dessert fertig machte und es ging mir dabei erstaunlich gut. Alle waren super gelaunt, wir alberten viel herum und tauschten ausgelassen Neuigkeiten aus unseren jeweiligen Leben aus.
Jedes einzelne Mal, wenn ich hier her komme, kann ich es gar nicht fassen, wie sehr sich meine Mutter doch verändert hatte. Wenn man sie heute frisch kennenlernen würde, würde man niemals auf die Idee kommen, dass da ein ehemaliger Junkie vor einem steht. Ich betrachtete ein Foto von ihr, das auf dem Sideboard gegenüber von mir stand. Das Bild musste so ungefähr zehn Jahre alt sein und man sah darauf sehr deutlich, wie hart das Leben sie gemacht hatte. Die Frau auf dem Foto und die Frau, die gerade mit liebevollem Blick einen Löffel vor mir auf den Tisch legte, hatten so gut wie nichts mehr gemeinsam.
Wie mein Vater heute wohl aussah, davon hatte ich überhaupt keine Vorstellung. Ich wusste nicht mal, ob er überhaupt noch lebte. Ich hatte ihn vor etwa elf Jahren das letzte Mal getroffen und hatte auch nicht vor, das jemals wieder zu tun.


Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
11. Februar 2005

Nach drei langen Monaten in diesem beschissenen Heim hatte ich mich immer noch nicht richtig eingewöhnt. Es gab einfach viel zu viele Regeln hier, die ich mir nicht merken konnte. Wenn es in meinem bisherigen Leben überhaupt mal irgendwelche Regeln gegeben haben sollte, dann waren das eher so Sachen wie: „Nerv deinen Vater nicht, wenn du nichts auf die Fresse willst", „Sauf deinem Vater nicht den ganzen Alk weg" oder „Hör auf, deiner Mutter die Drogen zu klauen".
Hier, an diesem Ort, wurde viel Wert auf Gemeinschaft, Freundlichkeit und gegenseitigen Respekt gelegt, was mich zu Anfang mehr überforderte, als dass es mir gut tat, weil ich es einfach nicht kannte.

Weihnachten war zwar schon ein paar Wochen her, aber trotzdem hing es mir noch sehr nach. Viele von den anderen Jugendlichen hatten die Feiertage ausnahmsweise bei ihren Eltern oder Verwandten verbringen können und von denen, die hier geblieben waren, bekamen die meisten wenigstens Besuch. Nur bei ein paar einzelnen meldete sich überhaupt niemand, so wie bei mir zum Beispiel. Etwa ein halbes Jahr war nun schon vergangen, in dem ich von meinen Eltern nichts gehört oder gesehen hatte. Ich hatte es zwar auch nicht wirklich erwartet, aber trotzdem irgendwie darauf gehofft, dass sie wenigstens mal nachfragen würden, wie es mir so ging. Schon während meinem vorangegangenen, monatelangen Aufenthalt in der Psychiatrie hatte sich keiner mehr von den beiden blicken lassen.

Gelangweilt lief ich den Flur meiner Wohngruppe entlang, als Zara mir entgegen kam.
„Ey, ich würde gerne meine Eltern sehen. Lässt sich da was machen?"
„Ich habe einen Namen. Wie wäre es, wenn du den benutzt, wenn du was von mir willst, ey?"
„Sorry, geehrte Frau Zara Edvardson. Vergiss es", blaffte ich und ging weiter.
Zara hatte sich in den letzten Wochen extrem viel Mühe mit mir gegeben und ich begann langsam, ihr zu vertrauen, was mir ganz und gar nicht gefiel. Wann immer ich einem Menschen vertraute, ließ er mich eh irgendwann wieder fallen oder verarschte mich. Darum verhielt ich mich im Moment absichtlich asozial, um wieder mehr Distanz zwischen uns zu schaffen, auch wenn es mir ziemlich schwer fiel, denn sie war echt nett.
„Komm später zu mir, wenn dir wieder eingefallen ist, wie man mit jemand anderem redet", rief sie mir nach.
„Fuck mich nicht ab", erwiderte ich und schüttelte innerlich den Kopf über mich selbst.

Ein paar Stunden und einen Joint später war mir mein Anliegen dann doch wichtig genug, um meine Fuck-You-Attitüde für einen Moment aufzugeben und ich setzte mich zu ihr ins Büro.
„Sorry wegen vorhin...Wie gesagt, ich würde halt gern mal meine Eltern sehen."
„Okay. Was erhoffst du dir davon?"
„Ich hätte einfach mal ein paar Fragen, die beantwortet werden müssten. Warum ich ihnen so egal bin und warum sie mich so scheiße behandeln. Warum sie mich nicht einfach schon früher weg gegeben haben, als ich noch nicht total kaputt war. Ich weiß, dass sie mich dann nicht plötzlich mit nach Hause nehmen und wir die perfekte Familie werden. Aber ich denke ich brauche eine Aussprache, um abzuschließen."
„Ich bin mir nicht so sicher, ob das gut für dich wäre", sagte Zara nachdenklich.
„Ich mir auch nicht, aber ich will es unbedingt. Ich muss ja nicht mit ihnen alleine sein, vielleicht kann jemand von euch dabei sein."
„Ich versuche, deine Eltern später anzurufen. Aber erhoffe dir bitte nicht zu viel davon."
„Gut. Danke."

Herford, Kinder- und Jugendheim St. Klara
15. Februar 2005

Meine Eltern hatten tatsächlich eingewilligt, mich im Heim zu besuchen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es klappen würde und war dementsprechend überhaupt nicht darauf vorbereitet. Ich wusste gar nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Jeden Moment müssten die beiden hier eintreffen. Ich stand mit Zara vor dem Gebäude, war kurz vor einer Panikattacke und hatte jetzt schon die leise Vorahnung, dass das keine gute Idee gewesen war.
„Hey, du schaffst das schon", sagte sie aufmunternd.
„Gott, das wird furchtbar, ich weiß es jetzt schon. Das war eine scheiß Idee."
Ich zitterte und war unglaublich nervös. Ich wollte wegrennen, mich im Zimmer einsperren und dort für immer bleiben. Was hatte ich mir hiervon erwartet? Dass meine Mutter im letzten Jahr clean geworden war, dass mein Vater nicht mehr soff, dass mich beide jetzt über alles liebten? Guter Witz.
Zum Weglaufen war es jetzt zu spät, da das Auto meiner Eltern gerade um die Ecke bog und den Parkplatz ansteuerte.
Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz sekundenlang aussetzte und griff im Affekt nach Zaras Hand. Sie sah mich überrascht an, zog sie aber nicht weg. Als mir jedoch bewusst wurde, was ich da gerade tat, ließ ich sie wieder los.
„Oh. Ähm. Sorry", murmelte ich peinlich berührt.
„Schon gut."

Ein paar Augenblicke später standen meine Eltern vor uns. Meine Mutter sah genau so fertig aus, wie immer. Mein Vater sah mich mit genau dem gleichen hasserfüllten Blick an, wie immer. Im Blick meiner Mutter war im Gegensatz zu seinem wenigstens ein Hauch von Interesse zu erkennen. Ich fragte mich, warum die beiden überhaupt hier waren. Was hatte Zara am Telefon gesagt, damit sie hergekommen waren, wenn es doch so offensichtlich war, dass sie überhaupt keine Lust darauf hatten? Zara entfernte sich ein Stück und stellte sich neben meinen Lieblingsbetreuer Phillip, den ich auch unbedingt dabei haben wollte, weil er derjenige war, dem ich hier wirklich vertraute, ohne Angst vor einer Enttäuschung zu haben.
Meine Mutter sah mich lange an und nahm mich dann tatsächlich in den Arm. „Es tut mir Leid, Tim. Ganz ehrlich. Ich wusste nicht, was ich da damals gesagt habe. Ich war völlig neben der Spur."
Mein Vater schaltete sich direkt ein. „Laber doch keinen Scheiß, du warst doch auch froh, als er endlich weg war."
Ich löste mich von meiner Mutter und ging einen Schritt auf meinen Vater zu. „Warum bist du hier, wenn ich dir so egal bin?"
Er lachte spöttisch auf, zeigte Richtung Zara und meinte: „Die kleine Schlampe da hinten weiß, wie man Leute überredet. Naja, vielleicht wollte ich ja unbedingt nochmal den Grund sehen, warum ich auf keinen Fall noch mehr Kinder in die Welt setzen sollte."

Was soll man dazu noch groß sagen? Es wurden noch mehr unschöne Sätze ausgetauscht und die Situation schaukelte sich schnell hoch. Das Zusammentreffen mit meinen Eltern endete dann schließlich damit, dass mein Vater mir das Handgelenk verstauchte und von Phillip überwältigt werden musste. Die Polizei wurde gerufen, mein Vater wurde abgeführt und Zara drückte meiner Mutter ein paar Telefonnummern von Frauenhäusern in die Hand.
Ich blieb nach dieser Aktion drei Wochen lang im Bett und schwor mir, die beiden nie wieder zu sehen.


Bielefeld, bei Tims Mutter
26. Dezember 2015

Erschrocken blickte ich in das Gesicht meiner Mutter, die mir eine Hand auf die Schulter legte und lachte.

„Ich frage dich jetzt zum vierten Mal, ob du noch was trinken willst."
„Oh, ähm. Ja bitte. War in Gedanken, Entschuldigung.
„Was geht dir denn durch deinen hübschen Kopf?"
„Nicht so wichtig", murmelte ich und exte mein Weinglas.


Am späten Abend machte ich mich dann mit dem Taxi auf den Weg nach Hause. Ich drückte meine vom Alkohol erhitzte Wange an die kalte Glasscheibe und beschloss, Ana zu kontaktieren. Ein bisschen Ablenkung würde jetzt mit Sicherheit nicht schaden.




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