System deaktiviert, wenn der Feind in meinem Kopf die Gedanken kontrolliert

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Bielefeld, Tims Haus
24. Dezember 2015

Ich  lag kraftlos auf dem kalten Boden neben meinem Bett und starrte die  Staubflusen darunter und eine Spinne an der Wand dahinter an. Wie lange  ich jetzt schon dort lag? Keine Ahnung. Die Uhr tickte unaufhaltsam und  maß die Zeit, ich jedoch hatte schon längst jegliches Zeitgefühl  verloren. Ich wusste nicht mal mehr, wann es Tag oder Nacht war, denn  sämtliche Jalousien in meinem Haus hatte ich bereits vor Tagen  geschlossen. Nur, wenn Heisenberg mich wissen ließ, dass er raus musste,  öffnete ich ihm die Tür, damit er seine Runden ziehen konnte. Alleine,  denn ich ging schon seit vier Tagen nicht mehr vor die Tür. Ab und an  klingelte es, oder jemand klopfte an die Rollläden. Ich wusste nicht,  wer da den verzweifelten Versuch unternahm, mich zu finden, denn ich  hatte nie reagiert.  

Vorhin, das kann  vor zwei Stunden, oder genau so gut vor fünf Stunden gewesen sein,  hatte ich versucht, ohne aufzustehen und mit möglichst wenig Anstrengung  an den Tabak zu kommen, der etwas weiter weg vom Bett auf dem Boden  lag. Es hat nicht ganz gereicht, ich war aus dem Bett auf das Holz  gekracht und versuchte nun schon seit einer Ewigkeit, mich zum Aufstehen  zu motivieren.  

Mir war extrem  kalt und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, denn an mein letztes  Essen konnte ich mich nicht mal mehr erinnern. Der letzte, stundenlange  Heulkrampf war in der Nacht, beziehungsweise in der Zeit, die sich für  mich nach Nacht angefühlt hatte, verebbt und im Moment schien es, als  seien keine Tränen mehr übrig, die geweint werden konnten. Mir waren  gestern schon sämtliche Drogen, einschließlich Gras, ausgegangen und  meine Gedanken wurden bedauerlicherweise immer klarer. Viel zu klar. Die  bittersüße Gleichgültigkeit, die mir meine beste Freundin Mary Jane  sonst mehrmals täglich bescherte und die dafür sorgte, dass mir gewisse  Dinge einfach egal waren, dass ich gewisse Gedanken einfach nicht  dachte, fehlte mir sehr deutlich.

Erst, als der Hund mich mit den Zähnen am Stoff meiner Jogginghose, die  ich schon seit ungefähr einer Woche an hatte, zog, raffte ich mich unter  größter Anstrengung vom Boden auf und ging ihm langsam nach. Er führte  mich zu seinen gähnend leeren Näpfen und sah mich vorwurfsvoll an. Ich  füllte ihm Wasser in den einen und suchte Futter für den anderen, was  ich aber nicht finden konnte.
„Sorry  Kumpel, nicht mal das kriege ich hin", flüsterte ich ihm zu und nahm  das Telefon, um Elsas Nummer zu wählen. Beim fünften Klingeln hob sie  ab.
„Hallo, Tim."
„Hi, Elsa."
„Wie  geht es dir? Ich habe schon länger nichts mehr von dir gehört", sagte  sie mit einem Hauch von Besorgnis in ihrer warmen Stimme.
„Kannst du dich bitte für ein paar Tage um meine Tiere kümmern? Ich bin... krank."
„Selbstverständlich. Was hast du denn? Brauchst du irgendwas?"
„Ähm... Grippe. Nein. Doch. Du müsstest bitte Futter kaufen gehen."
„Ja mache ich. Ich habe gleich noch einen Arzttermin, danach komme ich zu dir. Spätestens in vier Stunden bin ich da."
„In Ordnung, danke. Bis später."

Ich schleppte mich ins Bad, um mich ihr in einem einigermaßen  akzeptablen, hygienischen Zustand präsentieren zu können, denn auch das  hatte ich in den letzten Tagen stark vernachlässigt und ich ekelte mich  schon extrem vor mir selbst. Ich tat soviel, wie meine Kräfte zuließen,  also Zähne putzen und mich mit Deo einnebeln. Außerdem bekam ich es  gerade noch so hin, den Rest von Zaras Trockenshampoo zu benutzen, der  noch da stand.
Ich  sah in den Spiegel und betrachtete die kaputte Gestalt, die er  reflektierte. Meine Haut war extrem bleich und ich hatte sehr große,  dunkle Augenringe. Mein Blick wirkte so leer, als sei alles Leben in mir  schon lange fort. Die dickste Stelle an meinen Armen schienen die  Ellbogen zu sein und auch meine Rippen zeichneten sich schon leicht  durch die Haut ab.
Mir  tat Elsa jetzt schon leid, weil ich ihr diesen Anblick später zumuten  würde. Sie machte sich immer so große Sorgen um mich und ich tat absolut  nichts dafür, damit diese Sorgen jemals unbegründet sein würden.
Auch,  wenn mir der Gedanke alleine schon große Übelkeit bereitete, kam ich zu  dem Schluss, dass ich jetzt dringend mal etwas essen sollte. Also ging  ich in die Küche und fing an, zu suchen. Die meisten Dinge im  Kühlschrank waren schon lange abgelaufen oder verschimmelt, auch in den  anderen Schränken sah es nicht viel besser aus. Alles, was ich finden  konnte war eine Dose Ravioli. Ich stand eine Zeit lang da und überlegte,  was als nächstes zu tun war. Ich würde einen Topf aus dem Schrank  nehmen müssen, einen Dosenöffner suchen, die Dose öffnen, den Inhalt in  den Topf schütten, rühren damit nichts anbrannte, ewig herumstehen bis  es fertig war, einen Teller holen, einen Löffel holen, mir das Zeug rein  quälen und im Anschluss müsste das ganze Geschirr auch wieder gespült  und weggeräumt werden. Ebenso gut hätte man gleich von mir verlangen  können, barfuß auf die Zugspitze zu laufen. Da mir das alles als  unmöglich zu schaffen erschien, verkürzte ich die Prozedur, indem ich  sie kalt aus der Dose aß. Ich brauchte bestimmt eine halbe Stunde für  ein Viertel der Portion, dann gab ich es auf. Es ekelte mich zu sehr an  und jedes Schlucken tat mir höllisch weh. Ich hätte mir das eigentlich  gleich ganz sparen können, da ich bereits zehn Minuten später alles  wieder erbrach.

Ich legte mich  wieder ins Bett und schaltete mein Handy an. Über 500 Nachrichten aus  dutzenden Chats und Gruppen waren eingegangen. Ich überflog die Namen  und las nur die Nachrichten von Lukas und meiner Mutter. Den Rest  löschte ich ungelesen.

Mama, 23. Dezember, 16:32: Hallo mein Schatz, Heiligabend ab 18:00. Wir freuen uns auf dich! :-*

Ich seufzte tief und schrieb direkt zurück.
Ich, 24. Dezember, 15:56: Geht nicht, sorry. Komme am zweiten Feiertag...  


Lukas hatte mir  ein sehr anzügliches Bild von seinen Mitbewohnerinnen geschickt,  welches mich an einem anderen Tag wohl in pure Ekstase versetzt hätte,  aber jetzt war es mir absolut gleichgültig. Ich konnte mir gar nicht  vorstellen, dass ich jemals wieder irgendwas Positives fühlen würde. Ich  antwortete ihm nichts.

Heute war also Heiligabend. Ich hatte so was von überhaupt keine Lust  auf diesen ganzen Zirkus. Die einzigen schönen Weihnachten, die ich in  meinem Leben gehabt hatte, waren die mit Zara und die war jetzt eben  nicht mehr hier.
Wenn  ich an die Weihnachten in meiner Kindheit zurück denke, erinnere ich  mich da nur an schlechte, angespannte Stimmung, ekliges Essen und den  Geruch von Alkohol. Außerdem sehe ich meinen Vater vor mir, der mir  stets das Gefühl gab, unerwünscht zu sein und ihm die Luft weg zu atmen,  sowie meine Mutter, die meist zugedröhnt irgendwo lag. Mein Vater  hasste Weihnachten zutiefst und war stets die ganzen Feiertage über  besoffen. Dann wurde er noch aggressiver, als er sowieso schon war und  ich bekam das zu spüren. Statt Geschenke gab es nur ein paar mehr blaue  Flecken, die meine Mutter nie sehen wollte.

Während ich damals im Heim war, hatte sich meine Mutter dann endgültig  von meinem Erzeuger getrennt und war erneut mit Martin, meinem  Stiefvater, zusammen gekommen. Warum sie überhaupt zwischenzeitlich  nochmal zu meinem Vater zurück gegangen war, dafür hatte sie bis heute  keine Erklärung. So viel hätte sie uns allen ersparen können, wenn sie  das nicht getan hätte.
Meine  Mutter war jetzt seit etwa acht Jahren vollkommen alkohol- und  drogenfrei und es machte den Anschein, als ob sie ihr Leben wirklich in  den Griff bekommen hätte.
Auch,  wenn ich sie trotz allem immer geliebt habe und nie hatte hassen  können, war es doch viel Arbeit gewesen, wieder eine einigermaßen  normale Beziehung zueinander aufzubauen. Sie bereute zutiefst, was  damals gewesen war und gab sich heute alle Mühe, es wieder gut zu  machen. Auch wenn wir beide natürlich wussten, dass das niemals wieder  gut sein würde. Vergeben hatte ich ihr schon lange, aber vergessen würde  ich nie.

Ich stand nochmal auf und öffnete die Haustür einen winzigen Spalt,  damit Elsa später einfach reinkommen konnte und ich nicht mehr aufstehen  musste, dann legte ich mich wieder ins Bett. Kurz dachte ich daran,  etwas aufzuräumen und die versiffte Bettwäsche zu wechseln, aber ich  verwarf den Gedanken schnell wieder. Ich muss wohl eingeschlafen sein,  denn als ich die Augen wieder öffnete, saß sie vor mir auf der  Bettkante.
„Hallo."
„Hallo,  Tim", erwiderte sie und sah sich im Schlafzimmer um. Ihr Blick blieb an  den ganzen leeren Whiskeyflaschen, an vollen Aschenbechern, einer Bong  und leeren Tablettenpackungen hängen.
„Wie lange hast du schon die...Grippe?" Natürlich wusste sie direkt, dass es keine Grippe war.
„Ich weiß es nicht. Nicht so lange. Lukas ist vor sechs Tagen gegangen, da war es noch gut."
„Du musst mal duschen. Und essen. Dringend."
„Ich kann nicht. Bitte nimm die Tiere mit zu dir. Du sollst mich so nicht sehen."
„Ich lasse dich bestimmt nicht so alleine, vergiss es."
„Bitte, ich kann mir nur selbst helfen. Du kannst da nichts tun."
„Ich  habe deinem Großvater am Sterbebett versprochen, dass ich auf dich  achten werde, wenn er es nicht mehr kann und das werde ich auch machen.  Keine Widerrede."
„Tu dir das doch nicht an", jammerte ich und zog die Decke komplett über mich.
„Wie schlimm ist es, Tim? Musst du ins Krankenhaus?"
„Es  ist unerträglich. Aber ich will nicht in die Klapse. Die können mir  doch auch nicht helfen. Die erzählen mir jedes Mal den gleichen Quatsch.  Ich weiß, was mit mir los ist und ich weiß theoretisch auch, was einem  helfen könnte, aber mir bringt es nichts."
„Was geht dir aktuell durch den Kopf?"
„Ich glaube, ich sterbe bald."
„So schnell stirbt es sich nicht."
„Ich  werde immer kränker, ich hab es so satt. Für was oder wen soll ich denn  überhaupt noch weiter machen? Ich weiß es einfach nicht. Zara ist weg,  mein Sohn ist weg. Wenn ich es mir recht überlege, ist das gar nicht so  dramatisch. Spätestens wenn er alt genug ist, um einiges zu verstehen,  hätte ich die beiden sowieso verlassen müssen."
„Wie meinst du das?"
„Ich  bin einfach ein schlechter Mensch. Ich bin die perfekte Mischung aus  meinem Vater und meiner Mutter. Wie hätte das später werden sollen? Die  Hälfte meines Lebens bin ich auf Drogen, die andere Hälfe liege ich  depressiv im Bett. Was für ein Kind braucht denn so einen Vater? Ich  habe letztens irgendwo gelesen, dass Menschen, die eine schlechte  Kindheit hatten, ihre Kinder oft genau so scheiße behandeln. Es wäre nur  noch eine Frage der Zeit gewesen."
Elsa zog mir mit einem Ruck die Decke aus dem Gesicht und sah mich böse an.
„Jetzt  erzähl nicht so einen Mist. Du hast deine Probleme, aber du bist  überhaupt nicht wie deine Eltern. Du bist der liebste Mensch, den ich  kenne. Du hast ein gutes Herz und du würdest nie jemandem absichtlich  weh tun."
„Es  ist lieb gemeint, das weiß ich. Aber ich kann es dir im Moment nicht  glauben. Ich sollte mich einfach für immer irgendwo einsperren. Am  besten sollte ich einfach direkt Schluss machen. Es wird nie wieder  besser mit mir, es wird einfach nur von Mal zu Mal schlimmer. Ich weiß  nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Ich habe ein paar Leute,  das weiß ich. Aber ich fühl mich so unglaublich alleine. Man wird  alleine geboren und man stirbt alleine. Man trifft Menschen und ist sich  sicher, die bleiben für immer, aber im nächsten Moment sind sie  plötzlich wieder weg. Alles ist so verdammt unbeständig. Es ist mir  einfach nicht vergönnt, mal glücklich zu sein. Immer, wenn es mir gut  geht, kann ich das nicht halten und alles entgleitet mir wieder. Ich  komm gar nicht mehr klar. Du musst mir darauf keine Antwort geben. Gib  mir am Besten einfach keine."
Sie sagte nichts, so wie ich es wollte. Stattdessen nahm sie mich in den Arm und war einfach da.
Wir schwiegen eine ganze Weile, ehe ich weitersprach.

„Ich hab jetzt meinen Besuch bei Mama auf übermorgen verschoben. Falls  ich überhaupt gehe. Ich habe nicht ein einziges Geschenk gekauft. Nicht  mal für mein Kind habe ich eins. Wobei das auch egal ist, ich habe von  Zara nichts mehr gehört, also werde ich ihn an den Feiertagen nicht  sehen. Weil sie jetzt mit jemand anderem einen auf Familie macht."
„Ich bleibe bei dir über die Feiertage, Tim."
„Musst  du nicht, ich bin nicht gerade die beste Gesellschaft. Geh zu deiner  Familie. Mach dir die Feiertage nicht mit mir kaputt, bitte."
„Du weißt genau, dass ich das muss. Ich habe es versprochen."
„Auch  wenn es sich im Moment nicht so anfühlt, aber mir wird es wieder besser  gehen. Du musst nicht bleiben. Ich bring mich schon nicht um."
„Ich  bleibe. Punkt. Ach, bevor ich es vergesse, das hier hattest du in der  Post, als ich kam", sagte sie und legte mir ein eingerolltes Stück Pappe  auf den Bauch.
„Was ist das?"
„Wenn du es aufmachst, wissen wir es", antwortete sie und strich mir ohne eine Spur von Ekel durch die ungewaschenen Haare.
Ich  zog das Stück Papier auseinander und zum Vorschein kam eine  Bleistiftzeichnung von dem Foto, das Lukas vor ein paar Tagen von meinem  Sohn und mir im Wald gemacht hatte.
„Das  ist von Zara", stellte ich erstaunt fest, während ich das mikroskopisch  kleine Z sah, das unten in die Ecke gekritzelt worden war.

An diesem winzig kleinen Sonnenstrahl, der da durch meine schwarze  Wolkendecke brach, klammerte ich mich für den Rest des Tages fest. Elsa  blieb bis in die Nacht bei mir, wir schauten uns ein paar Filme an und  sie hatte etwas für uns gekocht, das ich sogar ohne größere Probleme  runter bekam. Wenn ich reden wollte, redeten wir. Wenn ich schweigen  wollte, schwiegen wir. Ich spürte, dass es wieder nach oben gehen würde.  Zwar nur schleichend und millimeterweise, aber immerhin aufwärts.

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