Weit weg, Kopf frei

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Spreewald
27. Januar 2016

Zu Tode erschrocken ließ ich das Fenster einen Spalt breit herunter und starrte mit aufgerissenen Augen in das Gesicht eines älteren Mannes. „Was zur Hölle machen Sie denn hier?", schrie ich halb. „Ich hatte fast einen Herzinfarkt!"

„Entschuldige, Junge. Ich bin vorhin schon einmal hier vorbei gejoggt, da stand dein Auto schon hier. Jetzt auf dem Rückweg musste ich dann doch mal schauen, ob alles in Ordnung ist."
Ich lehnte mich ein wenig mehr auf die Seite, um ihn besser sehen zu können und stellte fest, dass er in dicke Sportklamotten eingepackt war und Joggingschuhe trug. Also tatsächlich nur ein normaler Morgensportler und kein Serienkiller. Hoffentlich.
„Schalten Sie bitte mal Ihre Stirnlampe aus, ich sehe Sie kaum."
Der Mann erfüllte mir meinen Wunsch und gab somit vollständigen Blick auf sein Gesicht frei. Er war vorneweg über siebzig. Keine Gefahr.
„Warum joggt man morgens um vier eine Landstraße entlang?", fragte ich skeptisch.
„Hält jung. Ich bin eben ein Frühaufsteher. Also, ist alles in Ordnung mit dir? Oder dem Wagen?"
Ich war alles andere als in Ordnung, aber ich wollte jetzt auch nicht einem Fremden mein Herz ausschütten, sondern einfach nur nach Hause.
„Ich hab einen langen, harten Weg hinter mir und musste mich nur mal kurz ausruhen. Ich fahre jetzt weiter. Vielen Dank, dass sie nach mir gesehen haben."
„Alles klar, Junge. Pass auf dich auf!"

Obwohl ich körperlich völlig am Ende war, hatte mich der kleine Adrenalin-Schock soweit aufgeputscht, dass ich die Strecke nach Berlin ohne weitere Probleme schaffte. Ina hatte mir in einer ihrer unzähligen Paniknachrichten geschrieben, dass sie und Timi bei Benni wären, darum fuhr ich in der Hoffnung, dass sie noch da waren, direkt zu seiner Wohnung.

Berlin, Charlottenburg - Bennis Wohnung

„Oh Gott, ich bin ja so froh, dass es dir gut geht", sagte Ina und zerquetschte mich in einer Umarmung, kaum hatte ich das Wohnzimmer betreten. „Wir haben uns alle möglichen Horrorszenarien ausgemalt, das kannst du dir gar nicht vorstellen."
„Oh doch, kann ich", murmelte ich an ihre Schulter. „Bei allem, was ich jetzt weiß..."
Ina zog mich mit auf die Couch und drückte mich auf den Platz zwischen sich und Timi. Benni saß auf dem Sofa gegenüber.
„Was ist denn jetzt genau passiert?", fragte Ina. Ich kramte in meiner Jackentasche herum und legte alle Beweismittel, die ich eingesammelt hatte, auf den Tisch.
„Benni, hol mal bitte eine Plastiktüte. Ich habe keine Ahnung, wie das mit Fingerabdrücken ist, aber vielleicht solltet ihr die Sachen nicht alle antatschen, wenn wir sie jetzt ansehen. Nicht, dass wir ihre Abdrücke zerstören und nichts mehr nachgewiesen werden kann."
„So schlimm, dass du zur Polizei musst?", fragte Timi erstaunt und mit aufgerissenen Augen.
„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob das ein Straftatbestand ist, was sie gemacht hat. Ich fürchte fast, dass es keiner ist. Weil sie hat mir ja noch nichts angetan und geklaut oder so hat sie mir auch nichts. Aber seht es euch mal an und sagt mir, was ihr meint."

Vorsichtig packte ich die Medikamente in eine Plastiktüte, die mir Benni gegeben hatte. Den Zettel steckte ich in eine Klarsichthülle.
Ina hielt die Hülle vorsichtig in den Händen, während sie, Benni und Timi sich Mayas wahnsinnige Notizen ansahen.
„Ich weiß, was ihr denkt, ihr dürft es mir auch ruhig sagen."
Natürlich wusste ich, dass mir jeder von ihnen zu gerne einfach an den Kopf geschlagen hätte. Sie wollten mir wahrscheinlich sagen, dass ich der größte Idiot unter der Sonne war. Dass ich selbst Schuld war an dem, was mir passiert ist. Dass ich sie schon viel früher hätte abschießen müssen. Dass ich die Vorzeichen doch hätte bemerken müssen. Dass ich das alles jetzt verdient hätte. So würde ich jedenfalls denken, wenn es jemand anderem passiert wäre.

„Ach Lukas", sagte Ina. „Klar wäre es jetzt einfach zu sagen, dass du dir das selbst eingefangen hast. Aber das würde dir doch jetzt nichts bringen."
„Liebe macht einfach blind", sagte Timi. „Du konntest es nicht kommen sehen. Du wolltest eben das Gute in ihr sehen. Wer hier könnte schon mit hundertprozentiger Sicherheit von sich behaupten, dass ihm das nicht so passiert wäre?"
Es war sehr anstrengend, Timi zuzuhören, da er extrem langsam und fast schon in Zeitlupe sprach. Seinen Augen nach zu urteilen, war er völlig dicht. Daher wunderte es mich schon ein wenig, dass die Worte, die er sagte, so gar nicht zu seinem Zustand passen wollten.
„Du gehst morgen auf jeden Fall mit dem Zeug zur Polizei und fragst, ob es für eine Anzeige reicht. Oder vielleicht wenigstens für ein Kontaktverbot, damit sie gleich gestraft wird, wenn sie wieder was versucht. Das müsste doch wegen deiner Bekanntheit einfacher sein, oder?", fragte Ina und streichelte mir sanft den Kopf.
„Keine Ahnung. Ich habe mich mit solchen Sachen noch nie beschäftigen müssen."

„Ich könnte dich begleiten, wenn du willst", bot Benni an. „Könnte ja sein, dass es auch was bringt, wenn das Zeug, was sie mit dir gemacht hat, nicht für eine Anzeige reicht. Sie hat ja anscheinend einen Haufen Schulden. Und Haftandrohungen hatte sie auch in der Post. Vielleicht ist da ja schon eine Frist abgelaufen und sie haben sie nur noch nicht gefunden. Sie ist ja in Berlin nicht mit Wohnsitz gemeldet. Das muss doch einen Grund haben, warum sie ständig in anderen Hotels wohnt. Wer weiß, ob sie sich da überhaupt mit ihrem richtigen Namen einbucht."
„Danke, Benni", sagte ich und mir schossen sofort ein paar Tränen in die Augen. „Danke."
„Ähm, ja sicher doch. Selbstverständlich."
Ich sah Benni in die Augen und fing an, zu lachen.
„Schnappst du jetzt über?", fragte er irritiert.
„Ich bin dir so dankbar gerade!"
„Ach, das ist doch normal, dass ich dir helfen will. Mensch, heul doch deswegen nicht."
„Ich weine nicht deswegen."
„Wegen was dann?"
„Du hast gerade ganz lange über Maya gesprochen, ohne die Worte Schlampe, Nutte, Hure, Drecksweib oder sonst irgendwas zu benutzen."
„Ein bisschen Einfühlungsvermögen habe ich eben auch", antwortete er und strich sich verlegen durch die kurzen Haare.

„Du hast auf jeden Fall die Packungen von den Medikamenten und da sind ihre Fingerabdrücke drauf", sagte Timi sehr langsam und mit sehr, sehr vielen Pausen.  „Und im Krankenhaus haben sie das Zeug bei Tania nachgewiesen. Müsste doch dann auf der Hand liegen, dass das Mayas Zeug war. Das müsste doch auf jeden Fall Körperverletzung sein. Und wenn du dann sagst, dass du auch krank warst und sie dir die ganze Zeit Essen und Getränke gegeben hat... Meinst du nicht, dass die dann Eins und Eins selbst zusammenzählen können? Oder gilt das dann nicht?"

Benni war, während Timi gesprochen hatte, in die Küche gegangen, hatte diesem eine Tasse Kaffee aus dem Vollautomaten gezogen und war schon wieder zurück, als der gerade sein letztes Wort ausgesprochen hatte.
„Trink mal eine Tasse. Das ist ja nicht auszuhalten."

„Warum hast du dich heute so abgezogen?", fragte ich Timi.
„Egal. Wir reden jetzt über dich, Lukas. Lenk nicht ab", sagte er und streichelte mir langsam den Pony aus der Stirn.
„Ich werde mich bei der Polizei lange genug damit beschäftigen müssen. Und in den nächsten Tagen und Wochen auch. Nach dem Schock heute wäre mir Ablenkung eigentlich am Liebsten."
„Wir machen alles, was du willst", sagte Ina und drückte meine Hand.
„Ich würde mich gerne so fühlen, wie Timi."
„Sicher?", fragte mich dieser.
„Klar. Ich hab in meinen jüngeren Jahren auf dem Dorf ständig gekifft und außerdem habe ich in den nächsten Tagen weder Termine, noch Auftritte oder sonst irgendwas. Ich will jetzt einfach nur, dass meine Gedanken ein bisschen leichter werden."

-

Ich kam dem Wunsch von Lukas nach und baute einen Joint für ihn. Benni klappte seine beiden Sofas so aus, dass daraus eine riesengroße Liegewiese entstand, wo er, Ina und ich dann die kommenden Stunden um Lukas herum lagen und kifften.

„Ach, ich hab schon ganz vergessen, wie schön das ist", seufzte Lukas mit einem zufriedenen Grinsen.
Ich legte meinen Arm um ihn und seufzte ebenfalls. „Wie eine warme, gemütliche, flauschige Decke, die sich direkt über die Nerven legt. Aber das solltest du nicht zur Gewohnheit werden lassen, okay?"
„Quatsch, aber heute ist es das Beste", sagte er und gab mir einen Schmatzer auf die Wange. „Was geht eigentlich so ab in deinem Leben?", fragte er.
„Benni und ich gründen ein Modelabel. Morgen zeige ich dir, was wir schon so haben. Und wir haben den Moment verpasst, in dem man mir am schlausten das Handy wegnehmen sollte."
„Oh, oh. Warum?"
„Ich hab mit Zara geschrieben."

Lukas drehte sich um und legte seinen Kopf auf seinen verschränkten Unterarmen ab. „Und?"
„Ich hab sie gefragt, wie es ihr so geht. Dann meinte sie es ginge ihr nicht so besonders im Moment. Das fand ich halt sehr ungewöhnlich, weil meistens sagt sie nicht, wenn irgendwas ist. Wenn sie nicht sagt, dass es ihr gut geht heißt das, dass die Welt untergeht."
„Und dann?"
„Dann hab ich sie gefragt, ob wir uns mal treffen sollen. Sie hat gemeint das könnten wir machen. Dann habe ich gesagt, ich bin gerade in Berlin und wenn ich wieder zurück bin, könnten wir das tun. Dann hat sie nichts mehr geschrieben und ich hab ihr dann noch von dem Modelabel erzählt und irgendwie hat sie mir so leid getan. Sie ist jetzt gerade alleine mit ihrem Arschloch, weil Elias mit ihren Eltern weg ist und sie hat jetzt gerade auch noch Urlaub und geht nicht mal zur Arbeit. Sie kann ja ziemlich gut zeichnen und so, dann hab ich ihr vorgeschlagen, dass sie nach Berlin kommen könnte, um uns vielleicht mit ein paar Entwürfen für Motive zu helfen. Ich wollte halt einfach irgendwas tun, um zu helfen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie ablehnt. Dann hätte ich kein schlechtes Gewissen gehabt und sie hätte gemerkt, dass ich für sie da bin. Dass sie zusagt, damit habe ich nicht gerechnet. Jetzt kommt sie morgen nach Berlin und ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll."

„Ach, Timi."
„Ich kann sie ja jetzt schlecht wieder ausladen."
„Aber vielleicht wird es ja gut."
„Was soll daran gut sein? Wir kommen nicht mehr zusammen. Aber was sagt sie denn ihrem Freund, wo sie ist? Sie hat Urlaub und fährt ohne ihn weg. Ob der das so gut findet?"
„Naja, ich erzähl dir mal was. Bitte reiß mir nicht den Kopf ab", sagte Lukas vorsichtig.
„Ähm... okay", antwortete ich und war tierisch gespannt darauf, was er zu sagen hatte.
„Als wir Streit hatten, habe ich mit ihr telefoniert. Ich habe sie gefragt, wie ich mit dir umgehen soll und was ich machen kann, damit du mir nicht mehr böse bist."
„Ach, das war alles gar nicht deine Idee, du Schlingel?", fragte ich lachend und schlug ihm auf den Oberschenkel. „Nee, ich reiß dir nicht den Kopf ab. Was hat sie denn so gesagt?"
„Naja, so ungefähr alles, was ich dir gesagt habe. Aber ich schwöre, ich habe das nicht nur gesagt, weil sie gesagt hat, ich soll das tun."
„Schon okay, Lukas."
„Naja, worauf ich hinaus will ist, dass es mit ihrem Kerl nicht so gut zu laufen scheint. Ich habe ihn im Hintergrund reden hören und er war total sauer weil sie telefoniert hat und er nicht wusste, mit wem. Sie hat gesagt, ich wäre ihr Cousin. Verstehst, du? Sie konnte ihm nicht mal sagen, dass es ein Mann ist, mit dem sie nicht mal was hatte. Es musste sogar ein Verwandter sein. Ich hab halt den Eindruck, das wird nicht mehr lange halten, wenn er sich so verhält."
„Selbst wenn, das heißt noch lange nicht, dass ich wieder freie Bahn habe, wenn sie ihn nicht mehr hat. Ist aber trotzdem schön zu hören."
„Lass es halt einfach mal auf dich zukommen."
„Naja, ich habe ihr nicht gesagt, wie lange ich hier bleiben will. Wenn es total scheiße wird, fahren wir halt früher nach Bielefeld, da wird sie bestimmt nicht mit mir nach Hause kommen."
„Das wird schon, Timi."
„Wir werden sehen."

Ich baute für alle noch eine Runde Joints und irgendwann fanden wir uns tanzend auf der Dachterrasse wieder. Ich wusste, dass sowohl ich, als auch Lukas die kommenden Ereignisse nicht so leicht wegstecken würden, wie wir beide jetzt taten. Aber wenigstens heute Nacht konnten wir die Probleme zur Seite schieben und wir kamen uns als beste Freunde endlich wieder richtig nah.
Der ganze andere Scheiß konnte ruhig mal bis Morgen warten.

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