- (K)ein Tag wie jeder Andere -

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Der längste Tag meines Lebens begann wie immer, ein Trott, in den wir irgendwie alle hineingezwungen werden, ohne es als Zwang zu sehen. Gesellschaft und Disziplin, das waren hier die Divisen.

Mir waren drei Dinge klar:

1. Ich mag mein Leben

2. Ich habe Angst vor dem Tod

3. Es würde mir nichts ausmachen morgen nichtmehr zu sein. Man würde schließlich nichts verpassen, oder?

Meine Güte, Mina, hör' auf zu philosophieren, das bringt dich auch nicht weiter.

Ich hörte auf gedankenverloren in meiner Müslischale herumzustochern. Hastig schlang ich mein Frühstück herunter, eine Schale ehemals knuspriger Cornflakes mit Tante Carols viel zu süßer lactosefreier Pseudo-Milch. Den tatsächlichen Geschmack der Cornflakes war ich, um diese Uhrzeit, jedoch außerstande aufzunehmen und ihre Konsistenz hatte sich innerhalb der letzten, vertrödelten, Minuten drastisch verschlechtert. Ein Blick auf die Uhr 06:30 Uhr, seit 06:00 Uhr war ich auf den Beinen. Ich schnappte mir meine Jacke und den, bereits am Vorabend gepackten und bereitgestellten, Rucksack, schloss meine Finger um den kalten Messingtürknauf, drehte ihn, drückte die Tür mit der flachen Hand auf und trat in die kalte Morgenluft hinein.

Noch alles Dunkel, verschlafen, neu.

Morgens scheint es als wäre alles möglich, als könnte der Tag alles bringen, ob das die Dunkelheit macht? Denn sobald die Welt vom Tageslicht geflutet wird ist klar, nichts ist anders, ein Tag ist mehr oder minder wie der andere. Du tust was du solltest, was du glaubst das richtig ist, weil du es so vorgelebt bekommen hast, so wie jeder andere auch. Fügst dich stumm in ein Konstrukt, dass du weder erfunden noch mitbestimmt hast, trotzdem leistest du den von dir erwarteten Beitrag.

„So ist das vernünftig", bläute Tante Carol mir immer ein, genauso wie „Kind, du denkst zu viel nach." Hach ja, Tante Carol, die gute „alte" Tante Carol, es würde sie immens stören mich jetzt so trödeln zu sehen. Ich musste lächeln und seufzen zu gleich, was wohl bei weitem bizarr aussehen mochte.

Vor mir erstreckte sich, von den vielen Straßenlampen beleuchtet, die Kastanienstraße. Wie zu erwarten war sie ringsum mit Kastanien frisch bepflanzt, um unserer Stadt etwas Grün zu schenken. Die jungen, kleinen Bäumchen waren noch feucht vom Tau, die vergangene war eine regnerische Nacht gewesen. Umso klarer schien der Morgen. Die kühle Luft füllte angenehm meine Lungen, während meine Schritte über den geteerten Bürgersteig kratzen. So langsam blinkten auch die ersten Lichter in den Häusern.

Die restliche Welt erwachte.

Ein Auto rauschte vorbei und bog am Ende der Straße um die Kurve zum Magnolienweg.

Die Grundstücke der Häuer mit ihren kleinen Vorgärten waren alle samt von hüfthohen, zarten Metallzäunen umgeben. Ich tippte im Vorbeigehen die Wassertropfen von ihren Spitzen.

Platsch, platsch, platsch.

Dabei fiel mein Blick in das Fenster eines parkenden Autos. Braune Haare und helle Haut, bisher nichts Auffälliges, wären da nicht diese vermaledeiten zweifarbigen Augen: eins blau, das andere grün. Mein Versuch sie mit einem langen Pony zu verstecken funktionierte auch nicht ganz so gut, wie erhofft. Sobald ich aufblicke bemerkte es jeder und dann starrten sie, sie alle, absolut scheußlich. Manch anderer hätte das vielleicht cool oder erstrebenswert gefunden, so nicht aber ich.

Resigniert riss ich mich los und trottete weiter meinen Schulweg entlang, zog mir den Kragen meiner Jacke höher ins Gesicht, zum Schutz gegen den langsam aufkommenden Wind, womöglich ein kleinerer Sturm. Nichts Ungewöhnliches in unserer Gegend.

Nur noch ein paar Querstraßen bis zur Schule, ein Blick auf die Armbanduhr verriet, dass mir noch mehr als 20 Minuten bis Schulbeginn blieben, sehr gut, so konnte man alles vor dem Unterricht noch einmal durchgehen.

Langsam kam ein großes Backsteingebäude mit stilisierter metallener Uhr, welche als Ziffernblatt auf die Wand über dem Haupteingang angebracht wurde, in Sicht. Davor lagen einige Parkplätze für Lehrpersonal sowie Schüler mit Führerschein und einem Auto in ihrem Besitz, Fahrradständer und natürlich lange Reihen an Mopeds, Rollern und Motorrädern. Die meisten gehörten den beliebteren Typen der Schule. Man kannte das ja, die Gutaussehenden, die Sportler, die um die sich jeder riss, mit denen jeder sprechen und gesehen werden wollte.

Jeder außer mir.

Ein paar Mädels waren ebenfalls in der „Motorrad-Crew" dabei, was ich absolut faszinierend fand, würde ich mich für meinen Teil niemals trauen so ein Ding zu fahren.

Himmel Nein!

Neben den Parkplätzen seitlich des Gebäudes begann der rote Boden des Sportplatzes, welcher weiter um das Haus herumführte. Hinten waren alle möglichen Sportfelder vertreten. Die Thomson Central ließ sich eben nicht lumpen, auch wenn sie eigentlich nach irgendeinem Wissenschaftler benannt war. Schließlich waren der größte Prozentsatz an Schulen nach irgendwelchen Wissenschaftlern benannt, was gab es denn fördernswerteres als Intelligenz, Perfektion und Erkenntnisgewinn? Erkenntnisgewinn im Bereich dessen was als erkennenswert angesehen war, verstand sich natürlich. Erkenntnisgewinn über Selbstheilungsprozesse, Resilienz, Regulationsstrategien, Spiritualität, Bürokratie, grundsätzlich darüber wie man seinen Platz und Sinn fand, darüber wurde natürlich nicht gesprochen. Das wäre schließlich unsinnige Zeitverschwendung, wenn man die kurze junge und gesunde Lebensspanne, die man hatte, doch viel besser mit Leistungsdruck und trockenen Lektüren verbringen konnte.

Man sprach zwar über Klimawandel, Artensterben, Armut und Kriege, aber immer nur über deren Existenz, nie über mögliche Lösungen, geschweige denn, dass tatsächliche Handlungen in die Wege geleitet wurden. Aber immerhin hatte jeder eine fundierte, von 20, unter kontrollierten wissenschaftlichen Bedingungen durchgeführten, Laborstudien belegte, Meinung dazu. Das half natürlich immens weiter.

Ab und an stellte ich mir eine Schule nach einem Künstler, Musiker oder Literaten benannt vor, mit eben diesem Fachbereich im Fokus, sei es auch irgendein, höchst wahrscheinlich sowieso korrupter, Politiker. An ganz mutigen Tagen malten sich meine Gedanken sogar das Bild eines Tempels irgendeines indischen Gurus aus oder eines Sozialarbeiters in den Armutsvierteln Afrikas. Aber diese Schulen würden niemals als gleichwertig betrachtet werden, sondern steht's nur eine Fach-Bildung mit dazugehörigem Abschluss anbieten können. Deshalb hatte Tante Carol mich auch auf die Thomson geschickt und nicht auf die niegel-nagel neue Rowling in der nächsten Stadt.

„Was willst du denn auf einer Literatenschule, Mina? Mach doch was Ordentliches mit deinem Leben."

Ihre Worte.

Nicht meine.

Selbstredend hatte ich jedoch nicht protestiert, was hätte es denn genützt? Sie hatte ja Recht und ich in der Regel Unrecht. Sie wusste es einfach besser, sie hatte schließlich schon mehr Zeit auf dieser Welt verbracht und versuchte nach bestem Wissen und Gewissen mir meinen Aufenthalt so angenehm, wie möglich zu gestalten, damit er anhielt.

Ich seufzte und sah mich um.

Mit mir trudelten ein paar wenige weitere Schüler verschlafen ein, so gut wie niemand war so motiviert extra früher als unbedingt nötig im Schulgebäude, anstelle ihres warmen weichen Bettes zu sein. Eine leise Melodie summend und mich bereits der, wenn auch kleinen, Masse unterordnend trat ich die Stufen hinauf und durch die überdimensionale hölzerne Doppeltür des Haupteingangs.

Die ersten beiden Stunden vergingen, wie gewöhnlich, wie im Flug: Hausaufgaben, Themeneinführung, Tafelanschrieb, es war doch immer das selbe Muster.

Doch mein innerer Adrenalinpegel stieg von Minute zu Minute und die Uhrzeiger schienen Wettrennen zu laufen. Wann immer ich auf das Ziffernblatt blickte war eine weitere Viertelstunde vergangen.

9:00 Uhr.

Entfernt hörte man die vier großen Glocken der Kirchturmuhr schlagen, eine nette, kleine, unauffällige Harmonie trotz Monumentalität der Gebilde. Wir benutzen wohl häufig große Dinge, um Kleine daraus zu machen, obwohl wir die Großen dabei geringer verwenden als sie sind.

Ich grübelte bewusst über die Welt nach, um mich abzulenken, das war mir völlig klar, denn die dritte Stunde rückte bedrohlich näher und mit ihr die angekündigte Physikklausur. Warum ich dieses Fach gewählt hatte, fragte ich mich regelmäßigen Abständen und dann auch noch als Leistungsfach.

Weil du die Kapazität dazu hast es zu schaffen, weil du es kannst. Weil es sinnvoll ist und immer sehr schön im Lebenslauf aussieht, besonders als Frau, würde Tante Carol wohl sagen.

Defacto hatte ich mir einen größeren Erkenntnisgewinn davon erhofft als einen Haufen überbewertetes Gekritzel, dem jegliche Ästhetik in der Produktion abhandengekommen war. Leider beantwortete Herr Gerber mir keine meiner Warum-, Wieso- und Woher-Fragen mit seinem Unterricht, aber vielleicht war das auch nicht seine Schuld, vielleicht nicht einmal die des Fachs. In mutigen Momenten dachte ich, dass es vielleicht einfach der falsche Ansatz für mich war. In normalen Momenten verdrängte ich diesen Gedanken, ganz schnell wieder.

Komm schon Mina, es ist doch auch bloß ein Test. Eine Zahl. Eine von vielen, in einer langen Reihe, alle gleich gewichtet und irgendwann unbedeutend, einatmen ausatmen, versuchte ich mich zu beruhigen und auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen. Das Problem war, dass mein Boden der Tatsachen unter Druck immer eher einem emotionalen Mienenfeld glich.

Nicht hilfreich.

Man konnte nur die Augen über meine Unentschlossenheit verdrehen, manchmal machte ich mich selbst in vollem Bewusstsein dessen, wahnsinnig, unfähig etwas daran ändern zu können.

Zumindest waren die Resultate akzeptabel.

Ja „akzeptabel" beschrieb es ganz gut, denn mein kompetitives Ego war nie wirklich zufrieden oder vielleicht war ich das auch einfach nicht.

Dementsprechend in Grübeleien versunken schreckte ich hoch als die Klingel das Ende des Unterrichts verkündete und meine aufkommende Hektik sorgte dafür, dass ich als Letzte den Raum verließ.

Super Mina, wenn du jetzt auch noch unpünktlich bist... GRRRAH, in Gedanken schrie ich. Gott, das hilft doch alles nichts.

Ich warf mich nach rechts, nach einem Rettungsanker suchend fand ich eine Türklinke, kaltes Metall auf meiner Haut. Ich nahm den Notausgang, betätigte den Nothalt-Schalter meines Gedankenzugs.

Schwer atmend schlug ich die äußere Toilettentür hinter mir zu. Die leeren Kabinen ließ ich links liegen und blickte in den Spiegel, während sich meine knochigen Finger an den Waschbeckenrand krallten als hinge mein Leben davon ab. Im kalten weißen Licht sah mein Gesicht fahl aus, farblos und leicht eingefallen, eine kleine Sorgenfalte hatte sich zwischen den Augenbrauen gebildet.

Wasser.

Aber auch die Kühle an Armen und Wangen ließ den Gedankenstrom nicht aufhören.

Einatmen.

Ausatmen.

Meine Brust bebte, meine Flanken weiteten sich asynchron dazu. Ich musste dringend meine Sauerstoffzufuhr in den Griff bekommen.

Langsam glitt mein Körper an den kalten weißen Fliesen herunter und ich versuchte meinen Herzschlag und meine Atmung zu beruhigen. Nicht jeder im nächsten Kurs sollte mitbekommen was für ein emotionales Wrack Mina Landers, die kalte, intelligente, stille Mina Landers doch sein konnte. Das ging sie alle den Teufel an.

Mit meinen Händen bedeckte ich mein Gesicht, Dunkelheit gesellte sich zur Kühle, während sich die Tropfen in Rinnen an meinen Ellenbogen sammelten und dort den Rand meiner, am Morgen penibelst hochgekrempelten, Bluse anfeuchteten.

„Komm schon Mina, du kannst dich nicht drücken, Mina Landers drückt sich nicht", redete ich, gegen meine Handinnenflächen, auf mich ein. Leistete Überzeugungsarbeit.

Mit dem Handballen gegen meine Stirn pochend erhob ich mich, wischte in der Bewegung das restliche Wasser von meiner Haut und schüttelte meine Arme aus. Man würde die Flecken an meinen Ellbogen nicht sehen, wenn ich die Arme nah am Körper hielt und sie nicht nennenswert ausdrehte, das war machbar. Trotzig fragte ich mich wer überhaupt so genau hinsehen würde, wer überhaupt auf mich achtete, wenn ich es nicht tat. Ich war mir nicht sicher, ob mir die Antwort gefiel.

Ein letzter Blick in den Spiegel: passabel und auf die Uhr: 9: 23 Uhr.

„SHIT", entfuhr es mir.

Nur noch zwei Minuten, das fehlte mir gerade noch.

Also raffte ich meine Siebensachen zusammen und setzte meine, jetzt schon müden, Knochen in Bewegung. Meine Beine gehorchten lustlos. Vorsichtig sah ich mich auf dem Flur um: Sah mich auch niemand? Leere begrüßte mich, jeder andere war bereits genau da, wo er sein sollte, wortwörtlich.

Nur ich nicht.

Mit einem endgültigen Klicken ließ ich die Tür hinter mir zufallen und lief los.

Als ich nun durch den Flur zu meinem nächsten Unterricht eilte geschah etwas, das mich verändern sollte. Ich wurde aus meiner üblichen Bahn geworfen.

Du kommst zu spät.

Du kommst nie zu spät, malträtierten mich meine ungläubigen Gedanken. „Mina Landers" und „zu spät" konnte schließlich nur in Kombination mit „ist nie" in einem Satz vorkommen.

Einen Fuß vor den anderen schmetternd, als wollte ich die Schule in Grund und Boden stampfen, hetzte ich über den Flur. Mein Rucksack, den ich der Einfachheit halber nur über eine Schulter geschwungen hatte und nur mit einer Hand festhielt, schlug, im Takt meiner Beine, gegen meinen Rücken. Ich zog den Kopf ein, versuchte die Aerodynamik für mich arbeiten zu lassen, wenn schon keine besonders ausgeprägten Muskeln da waren, die das tun konnten, dann versuchte ich wenigstens windschnittig zu sein. Meine Lungen pumpten auf Hochtouren, mein Herz pumpte Adrenalin.

Warum muss der eine Unterrichtsraum auch drei Stöcke tiefer und zwei Gebäude weiter links sein als der davor oder der nächste? Teilen die die Stunden nach größtmöglichem Abstand der Räume ein?

Ich nahm die letzten zwei Stufen jeder Treppe auf einmal. Schwang mit der Hand an der Ecke der Mauer um die Kurven. Nur noch zweimal abbiegen das Stockwerk hast du schonmal erreicht, ich schaffe das noch.

Ich. Schaffe. Das!

Etwas erschien in meinem Augenwinkel, verschwommen.

Ich kümmerte mich nicht um den flüchtigen visuellen Eindruck und lief weiter.

Und plötzlich tat ich es schlicht und ergreifend nicht mehr.

Ich fand mich auf dem Boden wieder, da ich mit irgendetwas aus entgegengesetzter Richtung in ähnlichem Tempo kollidiert war. Alles, was ich spürte, war ein Ruck in meinem Körper, der mich von den kleinen Füßen riss, die mir ohnehin nie besonders viel Halt oder Standfläche boten, verfluchte Schuhgröße 36. Dachte ich noch im Fallen, als hätten größere Füße etwas daran geändert. Alles, was ich herausbrachte war jedoch ein ersticktes:

„Uff, was zum...?!"

Unerwarteter Weise entpuppte sich das dubiose Etwas als Mensch.

Sarkasmus bringt dich jetzt auch nicht weiter, wetterte es in meinem Kopf.

Bereit sämtliche mir bekannten Hasstiraden, und das waren dank Tante Carol eine Menge, auf meinen Gegenüber, der es wagte mich von der Ankunft zu meiner Arbeit abzuhalten, abzulassen, hielt ich verblüfft inne. Meine Pupillen hatten sich mit ziemlicher Sicherheit vor Schreck geweitet und ich konnte eine dezente Wärme auf meinen Wangen spüren.

Mein Gegenüber war niemand geringeres als Colliah Collins.

Auch bekannt als „C", stattliches Mitglied der Motorad-Truppe. Die Sache war die, um ihn ranken sich Mythen, da er es, trotz seines doch recht lässigen beliebten Auftretens, offensichtlich für nötig hielt auf seinen Notenschnitt zu achten. Er war Stufenbester mit der Möglichkeit auf den Valedictorian-, den Jahrgangsbesten-Status, nach Amerikanischem Vorbild...

...naja heißester Anwärter nach mir, zumindest im nicht übertragenen Wortsinn.

Da saß er mir nun gegenüber in seiner angewetzten Biker-Jacke mit den Buttons und Applikationen, seinen schwarzen Haaren, die sich leicht lockten, seinen braunen Augen, der hellen Haut und den Sommersprossen über der zarten Nase. Es scheint mir wohl nicht nötig zu erwähnen, dass er selbstredend einer der absoluten Mädchenhelden dieser Schule war.

Und er nun also... er lachte?

Er lachte nicht nur er bebte förmlich vor Lachen und musste sich die Tränen aus den Augenwinkeln wichen.

„Das habe ich nun wirklich nicht erwartet", brachte er unter heftigem Schütteln hervor.

Da saß er und ... da saß ich!

Immer noch.

Die Pünktlichkeit konnte ich jetzt wirklich streichen. Ich seufzte, fluchte innerlich auf mich selbst und meine Tollpatschigkeit, die ich immer verzweifelt zu kaschieren versuchte, was mir offensichtlich eher mäßig gelang und begann Anstalten zu machen meine Sachen zusammenzusuchen.

„Du bist Mina, oder?"

„Mhh", ich hatte keine Zeit für derartiges, begriff er nicht, dass Menschen, wie er und Menschen, wie ich für gewöhnlich nicht miteinander sprachen, dafür gab es bestimmt Gründe.

Aber woher kennt er meinen Namen? Ich fiel doch niemandem auf.

Er schien seinen Konversationsversuch jedoch nicht allzu bald aufgeben zu wollen und hob erneut an:

„Was tust du hier, der Unterricht hat seit", sein Blick fiel auf seine Armbanduhr mit dem dunkelbraunen bereits leicht abgewetzten Lederarmband an seinem linken Handgelenk,

„... fünf Minuten angefangen?"

„Fünf Minuten schon? OH MIST, na toll", ich fluchte vor mich hin, während es mir eiskalt den Rücken runter lief, viel zu sehr in meine eigene Misere vertieft, um ihn noch weiter zu beachten.

Da fiel mir etwas auf.

„Aber, he, das Selbe könnte ich dich fragen."

„Ich für meinen Teil flüchte vor Herr Gerber, für dessen Physikarbeit ich nicht genug gelernt habe, also bin ich offiziell krank. Jetzt bist du mir eine Antwort schuldig." Er zuckte die Schultern, als wäre es das normalste auf der Welt ungestraft eine Arbeit zu schwänzen, eine Verpflichtung, als hätte man jedes Recht dazu.

Naja, in seinem Leben funktioniert das vielleicht.

Aber seine absolute Aufrichtigkeit gab mir den Rest und ich seufzte resigniert.

„Panikattacke vor eben dieser Arbeit."

Jetzt war es raus und er hielt mich bestimmt für verrückt, ich könnte es ihm nicht einmal verübeln. Irrsinn lag wohl in der Familie. Meine Mutter hatte schließlich nicht umsonst das Sorgerecht entzogen bekommen.

Aber das tat jetzt nichts zur Sache, ich wandte beschämt den Blick ab.

Doch nichts geschah.

Er akzeptierte diesen Satz offensichtlich stillschweigend. Ich blickte erneut auf und musste feststellen, dass er mich ansah.

„Naja, vielleicht solltest du dann jetzt genauso wenig in dieser Arbeit sitzen, wie ich."

„Fängst du mir jetzt mit Schicksal und Vorbestimmung an?" Das ging mir definitiv zu weit für eine spontane Unterhaltung aus dem Nichts. Vielleicht, wenn ich mich noch beeilte konnte ich meine Verspätung noch aufholen, ich hatte gut gelernt und, wenn ich einfach schneller schrieb...

„Nenn' es, wie du willst."

„Das Schicksal kann mich mal", dieser Satz war über die Jahre zu meinem Mantra geworden. Meine trockene Bemerkung veranlasste ihn erneut in Gelächter auszubrechen.

„Der's gut, den muss ich mir merken."

„Idiot." Ich musste wirklich dringend hier weg, ich verschwendete meine Zeit mit diesem selbstverliebten Wichtigtuer.

„Nein, nein entschuldige, aber mal im Ernst, magst du nicht mitkommen und die Arbeit nachschreiben, wenn du dich besser vorbereitet fühlst?"

„Ich fühle mich nie sicher", noch eine recht tiefgreifende Wahrheit.

„Dafür bist du aber recht erfolgreich... Valedictorian."

Verdattert sah ich ihn an, alle Gedanken ans Aufstehen oder die Physikarbeit, völlig verschwunden. Wer war dieser Mensch, der mich offensichtlich mehr beachtet hatte als ich ihn?

In meiner Verwirrung zog ich unbewusst automatisch die Augenbrauen zusammen.

„Mag sein."

Er stand auf und streckte mir seine Hand entgegen: „Also kommst du mit." Eine Feststellung, keine Frage.

„Wie kannst du dir da so sicher sein?"

„Naja, erstens sitzt du immer noch hier und es sind... zehn Minuten vergangen seit die Stunde angefangen hat, also hättest du einen ziemlichen Zeitmangel während der Arbeit und ich denke, dass du das weißt und zweitens sehe ich deinen Augen an, dass du dich bereits entschieden hast", zwinkerte er mir zu. Das war das erste Kommentar zu meinen Augen und auch keins der Üblichen, welche von „oh wie schön" bis zu „so stelle ich mir Aliens vor" reichten.

Also rein theoretisch, gesehen, ich meine rein zeitlich... Es wäre schon ein Nachteil jetzt noch aufzukreuzen.

Ist das dein Ernst Mina? Das denkst du doch nicht gerade wirklich.

Vielleicht war dort tatsächlich etwas, ein letztes Krümelchen Mut und Rebellentum, dass sich in meiner rechten Kniekehle versteckt hatte, denn ehe ich mich versah und mich selbst eines Besseren belehren konnte, ergriff ich seine Hand.

Er zog mich auf die Füße und hinter sich her, durch die großen Holztüren der Thomson Central, welche noch hinter uns nachschwangen als wir bereits über den Schulhof eilten.

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