2 - Luftgewehre und Luftschlösser

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Am nächsten Morgen traf ich Syl im Bus.

„Hey! Hey, Mann, wie geht's? Na, freust dich schon auf heute oder was?"

Er hatte schon wieder einen Energydrink in der Hand und schien noch überdrehter als üblich zu sein.

„Wie viele Stunden hast du heute geschlafen?", fragte ich grinsend.

„Gar nicht. Nicht eine Sekunde. Nada", antwortete er. Sein Blick huschte umher wie der einer Fliege und er hielt sich an dem Halteriemen der Busstange fest. „Ich hab noch die ganze Nacht mit Mo gezockt, war'n riesen Spaß, Alter, du hättest dabei sein müssen. Wir ham noch so'n Typen kennen gelernt, BelaRUSS, und mit dem Capture the Flag gezockt. War echt cool drauf. Geh mal nicht immer so früh ins Bett."

„Lass mich raten, er war Russe?", lachte ich.

„Ja, ja, war er!", bestätigte Syl und erzählte dann aufgeregt in sehr vielen Details von seiner Nacht.

Den ganzen Schultag lang war er fast unerträglich. Im Kunstunterricht konnten ihn schließlich nicht mal seine Energydrinks davon abhalten, dauernd einzunicken, was nicht zuletzt daran lag, dass Syl Kunstgeschichte sterbenslangweilig fand.

Immer wieder stieß ich ihn unauffällig an, bevor Herr Remming etwas mitbekam.

„Oah, Denny, Alter, lass mich doch schlafen", grummelte Syl beim vierten Mal. „Ich bin müde."

„Kein Wunder", flüsterte ich. „Mach die Augen auf, Remmi guckt."

Der strenge Blick unseres Lehrers klebte auf mir und ich schaute eilig auf das Blatt, das vor mir lag.

Er fuhr mit seinen Ausführungen fort und Syl legte seinen Kopf auf dem Tisch ab.


„Lass erstmal was essen, ja?", fragte Syl nach Schulschluss. Heute würde ich nicht nach Hause gehen, sondern direkt mit zu meinem besten Freund. „Dann bin ich auch wieder wach."

Er gähnte herzhaft, suchte in seinem Rucksack nach einem Energydrink, fand aber keinen.

„Gerne", stimmte ich zu, denn zum Essen war ich immer zu haben.


Während bei mir Zuhause meist meine Mutter für uns alle kochte, wochenends manchmal mein Vater, schmiss bei Syl Zuhause er den Herd für uns an.

„Ich mach Reis, okay?", fragte er und ich nickte von meinem Platz auf der Eckbank aus.

Mit geübten Handgriffen setzte er Wasser auf, versenkte zwei Beutel Reis darin und rührte dann in einer Pfanne eine Tomatensoße mit halbierten Cherrytomaten und Zwiebeln darin an.

Dreißig Minuten später saßen wir mit zwei Tellern vor Syls Computer und schauten ein Let's Play.

Eine weitere halbe Stunde später saß ich auf dem Gepäckträger von Syls Fahrrad. Auf meinem Rücken trug ich einen Rucksack, aus dem oben zwei Luftgewehre herausragten und der ansonsten schwer mit Munition und Trinken beladen war.

Eine Flasche Wasser, einmal Eistee und vier Dosen Energydrink. So fuhren wir durch die Siedlung, in der er wohnte, bogen auf einen geschotterten Fahrradweg und schließlich einen Waldweg ab. Eine Weile fuhren wir unter dem dichten Blätterdach hindurch, das nur vereinzelt Lichtstrahlen auf den Waldboden durchließ. Dann bog Syl rechts an einem Haufen gestapelter Baumstämme ab und rollte über ein paar Wurzeln hinweg auf eine kleine, ein wenig abschüssige Lichtung.

Hier hielt er an.

Ich kletterte vom Gepäckträger, zog meine knielange Cargohose zurecht und setzte den Rucksack vom Rucksack.

Syl lehnte das Rad gegen einen Baum und holte dann aus einer Vertiefung unter einer Wurzel eine Blechkiste mit verbeulten, teils durchlöcherten Dosen darin hervor.

Ich packte derweil die Luftgewehre aus und lud beide.

Syl legte ein verwittertes Brett über zwei Baumstümpfe und platzierte die Dosen darauf, dann kam er zu mir und schnappte sich eine der Energydrinkdosen aus dem Rucksack. Zischend öffnete er sie, trank ein paar Schlucke und stellte sie dann beiseite, um mir eines der Gewehre abzunehmen.

„So, Kamerad", grinste er, „Angriff!"

Damit legte er die Waffe an, lud, zielte und verfehlte die Dose.

Mein erster Schuss hingegen traf.

„Irgendwann wirst du einsehen müssen, dass du einfach ein schlechter Schütze bist", grinste ich, während wir nachluden.

„Im Gegensatz zu dir oder was?"

„Im Gegensatz zu so ziemlich jedem, der ein bisschen was vom Schießen versteht."

„Dafür sehe ich verdammt gut aus. Im Gegensatz zu so ziemlich jedem. Punkt", grinste Syl und strich sich mit einer ausholenden Handbewegung das dunkelblonde Haar aus der Stirn.

„Natürlich, die Mädels stehen Schlange bei dir", erwiderte ich ironisch und durchlöcherte mit meinem nächsten Schuss die nächste Dose, die daraufhin hinten vom Brett herunterfiel.

„Aber bei dir", lachte Syl und traf ebenfalls. „Ja, Mann, siehst du, Bitch?"

Lachend streckte er seine Faust in die Luft.

„Du hast einmal getroffen. Einmal, Alter."

„Pscht, stör den Meister nicht in seiner Konzentration!"

Er trank einen Schluck Energydrink und traf danach die nächste Dose, während auch ich grinsend weiter schoss.


Nach unzähligen verschossenen Projektilen ließen wir uns auf dem kühlen Boden nieder. Ich schnappte mir den Eistee, um meinen Durst damit zu stillen, während mein Kumpel seinen Dosen treu blieb.

„So wie heute müsste jeder Tag sein", meinte er nickend, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nein, nicht wie heute, wie genau jetzt."

Ich nickte.

In den Stunden, die wir im Wald verbrachten, war irgendwie alles ganz einfach. Keiner, der störte, der irgendwas von mir wollte. Nur Syl, ich, ein paar leere Dosen und zwei Luftgewehre.

„Wir könnten uns ein Baumhaus bauen und mit den Babys hier unser Essen erlegen", grinste ich und Syl wandte mir den Blick zu. Auch seine Mundwinkel verzogen sich.

„Das wär's, nie wieder Schule."

Er sah sich um, womöglich auf der Suche nach einem passenden Baum für unser Vorhaben.

„Aber Energydrinks wachsen nicht an Bäumen", zog ich ihn auf.

„Nö, aber an Büschen", erwiderte er und nickte mit wichtiger Miene, ehe er lachte. „Quatsch, so ohne Internet, Strom und den Scheiß würde ich nachts wahrscheinlich auch pennen. Ich mein, was soll man denn im Dunkeln die ganze Zeit hier machen, außer die Augen nach Geistern offen zu halten?"

„Wildschweinen", warf ich ein.

„Was?"

„Halt die Augen lieber nach Wildschweinen offen. Die sind gefährlicher für dich als Geister."

„Aber die können nicht fliegen", erwiderte Syl und zog eine Augenbraue hoch, ehe er einen Schluck aus seiner Dose nahm. Watermelon diesmal. „Und wenn wir doch auf einem Baum wohnen ..."

„Und wenn du mal pissen musst?", meinte ich.

„Dann machen wir'n Weitpisswettbewerb vom Baum aus, was'n sonst, Alter?"

Typisch Syl. Für ihn war alles ein Kampf. Kläglicher Weise war er zwar sehr ehrgeizig, aber dafür nicht gerade mit Talent gesegnet.

„Apropos", sagte er und rappelte sich auf. „Bin mal pissen, bis gleich!"

Er stellte die Dose ab und verschwand in Richtung Dickicht, während ich allein zurückblieb.

Ich nahm mein Luftgewehr in die Hand und strich mit den Fingern über die einzelnen Erhebungen und Vertiefungen, während ich an unser Gespräch von vorhin zurückdachte.

Syl war nicht sonderlich talentiert, aber dafür tatsächlich nicht gerade hässlich. Eines Tages würde er eine Freundin haben und dann würde ich alleine hier im Wald sitzen und traurig auf die durchlöcherten Dosen unser ehemals gemeinsamen Zeit schießen. Wenn überhaupt, denn die Gewehre hörten Syl.

Ebenfalls ein Mädel kennenlernen würde ich nicht, da war ich mir sicher. Dafür war ich zu schüchtern. Zu dick. Und hing sowieso nur in meinem Zimmer vor der Konsole herum. Wo zur Hölle sollte ich bitte ein Mädchen kennen lernen, das mich auch noch mochte?

Unmöglich.

Syl hingegen hatte noch ein paar normale Hobbys vorzuweisen. Er spielte Fußball im Verein und ging im Sommer gerne und viel ins Freibad oder im Kanal schwimmen.

Für mich war das nichts. Allein der Gedanke daran nur in einer Badehose zwischen all den Menschen in der prallen Sonne ...

„Versuchst du der Waffe einen runterzuholen?"

Ich hatte Syls Rückkehr überhaupt nicht bemerkt. Das leicht verschwommene Bild vor meinen Augen klärte sich wieder.

„Hm? Nee."

Ich lächelte ihn ein wenig verunsichert an und fragte mich für einen Augenblick ernsthaft, ob er vielleicht meine Gedanken gelesen hatten.

„Wenn, hättest du es auch echt nicht liebevoll genug gemacht", sagte er und zog die Augenbrauen hoch. Er hob die andere Waffe aus dem Dreck und steckte sich in einer höchst erotischen Bewegung den Lauf in den Mund.

Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem wir uns zum letzten Mal hier treffen würden. Und ich würde nicht mal wissen, wann er gekommen war.

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