25 - Der Lama-Züchter

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Ich setzte mich nach der Pause nicht auf meinen Platz. Ich hob bloß meinen Rucksack auf, ließ die Jacke an und ging ins Sekretariat, wo ich eine Ewigkeit warten musste bis endlich jemand Zeit für mich hatte. Die Klingel zum Stundenbeginn war längst ertönt. Ich erzählte der Sekretärin, dass mir schlecht sei und das war nicht mal gelogen. Vom Telefon aus durfte ich meine Mutter anrufen, der ich dasselbe erzählte, woraufhin sie losfuhr, um mich abzuholen. Ich wartete an der Straße auf sie und starrte die am Rand geparkten Autos an ohne sie wirklich zu sehen.

War's das jetzt mit unserer Freundschaft? War's das mit den durchgezockten Nächten? Das mit dem Luftgewehr schießen war's auf jeden Fall.

Es war noch nicht lange her, dass ich ihm Wald gesessen und darüber nachgedacht hatte, dass irgendwann unser letztes Treffen dort stattfinden würde. Mir war klar gewesen, dass ich zu Beginn dieses Tages nicht ahnen würde was sein Ende bedeutete. Aber ich hatte nicht gedacht, dass dieser Tag so schnell kommen und alles zerstören würde.

Es war nicht mal unsere Entscheidung oder zumindest die Entscheidung von einem von uns. In meiner Vorstellung hatte Syl eine Freundin gefunden, mit der dann lieber Zeit verbrachte als im Wald rumzuhängen. Aber das war nicht passiert. Stattdessen hatte mein bester Freund keine Lust mehr mich überhaupt zu sehen, während sein Leben wahrscheinlich den Bach runterging.

Der Wagen meiner Mutter fuhr vor und ich trat zwischen zwei geparkten Autos auf die Straße. Kaum hatte ich die Beifahrertür geöffnet, empfing mich schon die besorgte Stimme meiner Mutter.

„Was ist denn los?", wollte sie wissen, während ich meinen Rucksack in den Fußraum warf und mich selbst in den Sitz hievte.

„Mir ist schlecht", murmelte ich, während ich nach dem Anschnallgurt griff.

„Hast du was falsches gegessen?", fragte sie weiter, aber ich zuckte nur die Schultern und steckte das Metallstücks des Gurtes in den Anschnaller.

„Können wir einfach nach Hause?", bat ich und meine Mutter fuhr los.


Den Rest des Tages verbrachte ich im Bett, nicht mal meine Konsole schaltete ich ein. Die Lust aufs Zocken war mir vergangen, ohne Syl war's ohnehin langweilig. Irgendwann schrieb ich Shivan, auch wenn Syls Worte bezüglich ihm mir das Herz schwer werden ließen. Er würde nie dessen Platz einnehmen können, tatsächlich nicht. Er war auch kein Ersatz, aber mit wem sollte ich sonst reden? Ich hatte niemanden, denn ich hatte immer alles mit Syl besprochen. Jetzt schien es, als wäre bereits ein Hallo zu viel.


In den folgenden Tagen sprachen wir nicht miteinander. Syl begann pünktlicher zu kommen aber ich fragte nicht. Er hätte mir ohnehin keine Antwort gegeben. Fast schon hatte ich das Gefühl ich würde gar nicht existieren, aber so wie Syl sich aus allem raushielt, wünschte er sich wahrscheinlich eher, dass er an meiner Stelle verschwinden würde.

Ich würde verdammt gern für ihn da sein, aber wie?

Er ließ mich nicht.


Am Freitag fuhr ich nach der Schule mit dem Zug zu Shivan. Der Plan war mich ein wenig abzulenken, aber die Gedanken an Syl stürmten trotzdem mein Gehirn.

Er hatte heute Fußballtraining. Ob er dort immer noch hinging? Ob seine Kumpels aus dem Verein wussten, was bei ihm Zuhause abging? Ob einer von ihnen nun sein neuer bester Freund werden würde und Syl klar wurde, dass ich eh immer 'ne scheiß Gesellschaft gewesen war?

Draußen zog Haus an Haus vorbei, eine Straße unterbrach die Reihe, dann kamen neue Häuser. Mit vielen gleich aussehenden Fenstern. Ein Parkplatz, mehr Häuser, eine Wiese. Ein Supermarkt.

In meiner Hosentasche spürte ich die Ohrhörer. Ich könnte sie in mein Handy stecken und irgendeinen Gamesoundtrack anmachen, aber mir war nicht danach. Das gleichmäßige Rattern und Quietschen des Zuges war zwar nicht unbedingt das schönste Hintergrundgeräusch, aber dass es mit Musik eine angenehmere Fahrt werden würde, konnte ich mir auch nicht vorstellen. Wenigstens war der Zug recht menschenleer und meine Mitreisenden alle mit sich beschäftigt. Niemand, der telefonierte, niemand, der sich unterhielt. Die perfekten Voraussetzungen um Gedanken nachzuhängen, die man eigentlich vertreiben wollte.


Die zwei Stunden bis zu Shivans Bahnhof zogen sich ewig. Ich hatte das Gefühl sie würden niemals enden, was meine Laune nicht gerade hob. Dann war ich aber doch da und stieg auf den zugigen Bahnsteig, wo mir der kühle Wind um die nackten Unterschenkel pfiff. Ein wenig fröstelnd zog ich den Reißverschluss meiner Jacke hoch und blickte mich um. Ich ging ein paar Schritte nach links und erblickte Shivan, der sich ebenfalls nach mir umsah. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er mich erblickte.

„Hey!", rief er, kam auf mich zu und schloss seine Arme um mich. Eng drückte er mich an sich und ließ sich dabei genug Zeit, dass ich auch meine Arme für einen Augenblick um ihn legen konnte.

„Alles klar soweit?", fragte er, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten. Er strich eine Strähne zurück, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte.

Ich zuckte mit den Schultern.

Bei den meisten anderen Leuten würde ich jetzt lügen, ihnen erzählen alles sei ihn bester Ordnung. Niemandem einen Grund geben, sich über mich lustig zu machen.

Shivan würde das nicht tun, das wusste ich. Und noch während dieser Gedanke vorbeihuschte, wurde mir klar, dass ich ihm vertraute. Wie auch immer er es geschafft ein Teil meines Lebens zu werden.

Shivan legte mir eine Hand auf die Schulter und schenkte mir einen mitfühlenden Blick.

„Willst du drüber reden?", fragte er, während wir die Treppe ansteuerten.

Ich zuckte erneut mit den Schultern. Irgendwie schon, aber nicht hier. Im lauten, hektischen Inneren des Bahnhofs, wo unzählige Menschen an uns vorbeieilten. Wo eine Frau mich mit ihrem Trekkingrucksack streifte, der auf ihrem Rücken im Takt ihrer Schritte auf und ab wippte.

„Später vielleicht", murmelte ich.

Shivan zog seine Hand wieder zurück.

Wir liefen durch einen Seitenausgang zu den Bussen, fuhren aber nicht zu ihm nach Hause. Der Plan für heute Abend war ein anderer und während wir in dem überfüllten Bus durch die Schlaglöcher in der Straße humpelten, fragte ich mich, wieso ich überhaupt zugestimmt hatte zu kommen. Als ob der Abend in irgendeiner Form gut werden würde.


„Ich bin gespannt was du von Thorben hältst", sagte Shivan nach einer Weile. Er saß am Fenster, seinen Fuß stützte er auf die Querstange vor uns und schaute mich nun gespannt von der Seite an.

„Ich auch", erwiderte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

Ja, was würde ich von Thorben halten. Dem Lama-Züchter, Shivans bestem Freund. Shivan hatte sich scheinbar nie so daneben benommen wie ich, denn er stand nicht mal halb so allein da.

„Mach dir keinen Kopf", versuchte er mich aufzuheitern. Er schenkte mir ein sanftes Lächeln, das ich nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ich entschied mich dagegen ihn anzusehen und darauf zu reagieren.

„Mach ich nicht."

Ich versuchte überzeugend zu klingen, aber selbst in meinen eigenen Ohren klangen die Worte nicht, als würde ich sie auch so meinen.

„Er ist echt cool."

Das bezweifelte ich nicht. Bestimmt war Thorben ziemlich cool, genau wie Shivan. Aber ich halt nicht.

„Willst du lieber nicht zu ihm fahren?", fragte Shivan, als ich nicht antwortete.

„Doch, doch", widersprach ich schnell. „Ich hab doch gesagt, dass ich mitkomme. Alles gut."

Ich drehte mich zu ihm und versuchte mich nochmal an einem Lächeln.

„Das wird lustig, wirklich", hielt er weiter an seiner Aufheiterungsstrategie fest. Er griff nach seinen Schnürsenkeln und zog sie nach, dann verschränkte er die Arme und schaute aus dem Fenster.

Die restliche Fahrtzeit schwiegen wir uns an, Shivan warf mir immer wieder kurze Blicke zu, manchmal ein Lächeln. Ich hingegen fragte mich schon wieder was Syl gerade tat.

Ob er auch an mich dachte? Wahrscheinlich nicht.


Gute vierzig Minuten später fand ich mich erneut auf dem unbefestigten Feldweg zwischen den Elektrozäunen wieder. Seite an Seite liefen wir auf den Hof zu, rechts von uns standen ein paar Lamas auf der Wiese und hoben interessiert die Köpfe als wir vorbeikamen.

Shivan neben mir hob die Hand und winkte ihnen.

Dieses Mal mühte er sich nicht damit ab das rostige Tor zu öffnen. Stattdessen stützte er seine Hand auf die oberste Stange und sprang in einer fließenden Bewegung leichtfüßig auf die andere Seite.

Sport, klasse.

Ich spürte, wie mein Kopf heiß wurde, während ich ebenfalls die oberste Stange umfasste und den ersten Fuß auf eine in der Mitte stellte. Ich zog den zweiten nach, schwang ihn über das Tor, setzte mich obenauf und holte den ersten ein wenig umständlich nach. Das Tor wackelte unter meinem Gewicht. Dann sprang ich wieder auf den sicheren Boden.

Shivan, der auf mich gewartet hatte, warf mir ein Lächeln zu, dann drehte er sich wieder um und steuerte das Haus an. Es sah noch genauso schön aus wie bei unserem ersten Besuch, über und über mit Ranken bewachsen. Ein bisschen wie in einem Märchen.

Shivan klingelte nicht, nachdem er die Stufen zur Haustür erklommen hatte, er öffnete sie einfach. Drückte die Klinke runter und schon waren wir drinnen.

„Hallo", rief er und irgendwo antwortete jemand.

„Schuhe aus", sagte er zu mir und ging schon in die Hocke, um seine Chucks aufzuschnüren.

Ich tat es ihm gleich.

Wir liefen eine mit brauen Teppich überzogene Treppe hinauf und traten durch eine Naturholztür in ein geräumiges Zimmer, an dessen Decke die Holzbalken hervorschauten. Überall standen Pflanzen herum. Es gab ein Bett, eine Couch und einen großen Schreibtisch mit einem Computermonitor darauf. Ein paar Klamotten lagen auf dem Boden verteilt, auf dem Couchtisch standen Becher und angebrochene Alkoholflaschen.

Thorben drehte sich auf seinem Drehstuhl zu uns um, was Shivan dazu veranlasste auf ihn zuzustürmen, abzuspringen und ihn mithilfe seiner Schulter mitsamt seines Stuhls umzuschmeißen. Mit einem ungesunden Krachen kamen sie auf dem Boden auf, Shivan rollte sich ab und stand schon wieder, während Thorben sich erstmal aus den Fängen des Stuhls befreien musste.

Beide lachten.

„Du bist also Denny", lächelte Thorben, als er es ebenfalls wieder auf die Füße geschafft hatte. Er trat auf mich zu und hielt mir die Hand hin.

Ich nickte und ergriff sie. Um Thorbens freundliches Lächeln kräuselte sich etwas, das wohl mal ein Bart werden wollte, während sein Haar zu einer klassischen Kurzhaarfrisur geschnitten war.

„Freut mich, dich endlich kennenzulernen. Jetzt hab ich wenigstens ein Gesicht zu Shivans ganzem Gelabere", grinste Thorben. Shivan schräg hinter ihm lächelte ertappt und schaute dann auf seine Füße, um meinem Blick auszuweichen.

Was er Thorben wohl von mir erzählt hatte? Auch wenn es mir ähnlich sähe, von etwas Negativem auszugehen, tat ich es nicht. Ich wusste, wie toll Shivan mich fand und befand diesen Gedanken im selben Augenblick für unfassbar arrogant. Vielleicht lästerte er ja doch über mich, ein bisschen zumindest. Dass ich mich nicht entscheiden konnte, nicht wusste, was ich wollte und maßlos übertrieb. Was der Wahrheit entsprach.

Diesen Gedankengang wiederum befand ich als ziemlich gemein, aber bevor ich tiefer in das Karussel einsteigen konnte, holte Thorben mich in die Realität zurück.

„Ein Unding ist auch, dass du Jeffrey vor mir kennengelernt hast", meinte er und nickte ernst. Er drehte den Kopf und warf seinem besten Freund einen sehr bösen Blick zu.

Shivan trat daraufhin von hinten an ihn heran und griff mit einer Hand unter Thorbens Kinn, wo er dessen lückenhafte Gesichtsbehaarung zu kraulen begann.

„Sorry, aber er hat einfach den schöneren Bart", erklärte er und wich knapp einem Boxhieb aus.

„Setz dich", sagte Thorben schließlich zu mir und deutete auf die Couch. Er stellte sich an den Bildschirm, während ich den Sitzplatz ansteuerte, und kurz darauf klangen die Töne von langsamer Rockmusik aus den Lautsprechern.

Shivan schmiss sich in die Mitte der Couch und nahm den Rucksack von seinem Rucksack auf seinen Schoß. Er öffnete den Reißverschluss und begann darin herumzukramen.

„Möchtest du was trinken?", fragte Thorben mich.

„Sprite!", rief Shivan ohne aufzusehen, während ich den Alkohol auf dem Tisch betrachtete. Dann hob er doch den Blick und schaute mich entschuldigend an. „Du kannst natürlich auch was anderes trinken, ich dachte nur -", setzte er zu einer Entschuldigung an, aber ich unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.

„Nein, schon gut, Sprite klingt gut", beruhigte ich ihn lächelnd.

Er erwiderte es.

„Gibt auch Alkohol, wenn du willst", bot Thorben an. Wieder glitt mein Blick über die Flaschen, aber ich schüttelte den Kopf.

„Shivan?", fragte Thorben ohne weiter darauf einzugehen.

„Bier", erwiderte der. Er war wieder in seinen Rucksack versunken und holte schließlich ein prall gefülltes durchsichtiges Tütchen, eine flache, längliche Pappverpackung, einen Bogen Papier und einen Plastikbeutel hervor.

Rauchen erhöht das Risiko zu erblinden, stand dort weiß auf schwarzem Grund. Darunter in farbigen Buchstaben Canuma, vermutlich eine Tabakmarke.

„Ich wollte einen bauen", erklärte Shivan mir, als er alles auf dem Tisch ausgebreitet hatte. „Einen Joint. Geht das klar für dich?"

Thorben war durch die Zimmertür verschwunden, sie stand nur einen Spalt breit offen. Wenigstens gab es hier Türen. Ich hätte nie zuvor gedacht, jemals für deren Existenz dankbar zu sein, aber Shivans Wohnung hatte mich eines besseren belehrt.

„Sicher", erwiderte ich.

„Willst du mitrauchen?"

Diesmal war ich skeptischer. Wollte ich mitrauchen? Ich wusste es nicht. Konnte mir nicht richtig vorstellen, was das Gras mit mir anstellen würde. Außerdem musste ich heute Abend noch nach Hause und meine Mutter würde es hundertpro merken, wenn ich gekifft hatte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was dann auf mich zukam.

Andererseits wäre es bestimmt eine interessante Erfahrung. Wann sonst bekam ich die Chance kiffen auszuprobieren?

„Du musst nicht", sagte Shivan.

„Ja, ich weiß", erwiderte ich. Ich musste nicht, schon klar. Aber wollte ich? Wollte ich mal was anderes kennenlernen als die imaginären Welten irgendwelcher Games? Das echte Leben?

Thorben kam mit einer Flasche Billigsprite aus dem Discounter und einem Arm voll Bier zurück. Shivan sprang auf und half ihm alles auf den Tisch zu stellen, dann schnappte er sich eine Schere vom Schreibtisch und schnitt ein Rechteck aus dem Papierbogen.

Thorben nahm einen der Becher und schüttete mir Sprite ein, ehe er sich auf Shivans andere Seite setzte. Der rollte das Papier zu einer länglichen Wurst zusammen.

„Falls du Musikwünsche hast, immer raus damit", sagte Thorben zu mir und ich nickte.

Syl würde bestimmt mit ihnen kiffen. Wahrscheinlich würde er nicht nur einmal am Joint ziehen, sondern gleich übertreiben, wie er es immer tat. Für ihn gab es nur ganz oder gar nicht.

Ich wünschte mir, dass er bei mir wäre. Mit uns hier auf der Couch sitzen würde. Dann würde ich mich wahrscheinlich weniger verloren fühlen und ich müsste mir keine Sorgen um ihn machen. Weil zwischen uns alles gut wäre.

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