12 - Kopfkino und Stimmengewirr

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Waverlys POV

Heute ist ein besonderer Tag. Nicht, weil der erste Sonntag im neuen Monat anbricht, sondern weil heute der fünfte Todestag meines Opas bevorsteht.

Wie jedes Jahr fahren meine Eltern und ich früh am Morgen in das zwei Stunden entfernte Oakbrook, um meine Granny zu besuchen.

Seit Grandpas Tod lebt sie dort in einem Pflegeheim. Meistens statten wir ihr alle drei Monate einen Besuch ab, doch in letzter Zeit ist Granny leider zu kurz gekommen, weil Mom und Dad ein paar wichtige Job- und Zukunftsentscheidungen treffen mussten. Umso mehr freue ich mich nun, Granny heute wiederzusehen. Auch wenn die Umstände nicht besonders schön sind.

„Wie ist deine Granny denn so drauf?", möchte Everest von mir wissen, als ich aus dem Auto steige.

Vor mir ragt ein riesiges Gebäude mit dunkelroten Backsteinen bis in die Wolkenspitzen hinauf. Es gibt viele Fenster, die mit Deko geschmückt sind, und teilweise schlängeln sich Efeuranken wie kleine Wirbel um die Hausfassade.

‚Meine Granny ist total cool!', antworte ich Everest in meinen Gedanken. ‚Leider hat sie sich nach Opas Tod sehr hängen lassen und wurde schwer krank.'

„Das tut mir leid." Everest klingt ernsthaft betroffen. „Sie freut sich bestimmt, euch gleich wiederzusehen."

‚Ja, auf jeden Fall!'

Kaum habe ich diese Wörter gedanklich ausgesprochen, tritt Mom an meine Seite und drückt mir einen bunten Blumenstrauß in die Hand, den wir extra für Granny gekauft haben. Zusätzlich haben wir ein altes Fotoalbum mit Kinderbildern von Granny, Grandpa und mir mitgenommen, denn meine Oma liebt es, Erinnerungen aufleben zu lassen.

Obwohl ich mich darauf freue, meine Granny nach so langer Zeit wiederzusehen, schlingen sich schwere Eisenketten um mein Herz, als wir das Pflegeheim betreten.

Ich weiß, dass ich diese Gedanken nicht haben sollte, aber ich bringe das Heim automatisch mit dem Tod in Verbindung. Und der Tod ist etwas, das mir große Angst macht.

„Der Tod gehört zum Leben dazu", meldet sich Everest in diesem Moment zu Wort. „Genieß die Zeit mit deiner Granny, solange du es noch kannst, Waverly! Meistens merken wir Menschen nämlich erst, wie wichtig uns etwas war, wenn wir es verloren haben."

Meine Kehle wird staubtrocken und ein bitterer Beigeschmack breitet sich auf meiner Zunge aus.

Würde Granny in der Nähe von Pinecrest leben, würde ich sie auch häufiger besuchen kommen, aber da ich noch keinen Führerschein habe und die Zugverbindungen unterirdisch sind, beschränken sich meine Besuche auf eine einstellige Zahl im Jahr.

Bei meinen vielen Trainingseinheiten wäre es aber sowieso schwierig, meine Granny öfter zu sehen.

„Pass auf, dass du keine falschen Prioritäten setzt", murmelt Everest leise. Seine Stimme wird währenddessen von einem Hauch Sehnsucht und Reue durchzogen. Kurz seufzt er, ehe er mich fragt: „Möchtest du ein Geheimnis hören, Waverly?"

Ich zögere; nicht sicher, was mich erwartet. Dann nicke ich jedoch.

„Vor drei Jahren war ich genauso ehrgeizig und zielstrebig im Sprinten wie du", beginnt Everest zu erzählen, während ich meinen Eltern durch die langen, sterilen Flure folge. „Ich wollte unbedingt an den Olympischen Spielen teilnehmen. Koste es, was es wolle! Deshalb auch das Tattoo auf meinem Oberarm ..."

„Was hat deine Meinung geändert?", möchte ich neugierig von ihm wissen.

Wieder seufzt Everest. „Mein Vater." Seine Stimme wird nun von einem gefährlichen Erdbeben erfasst. „Er war schwer krank. Krebs im Endstadium. Jede Hilfe kam zu spät."

Oh Gott, wie schrecklich! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, durch was für eine Hölle Everest und seine Familie gegangen sind.

„Statt mich um ihn zu kümmern oder die letzten Monate an seinem Sterbebett im Krankenhaus zu verbringen, war ich lieber auf dem Sportplatz, um zu trainieren. Mein Ehrgeiz hat mich so blind gemacht, dass ich erst zwei Tage später von dem Tod meines Vaters erfahren habe", gesteht Everest schluchzend. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich es bereue, nicht für ihn dagewesen zu sein."

Mein Magen verknotet sich und mein Herz wird schwer wie Blei.

Ich würde Everest gerne mit aufmunternden Worten Trost spenden, doch ich weiß beim besten Willen nicht, was ich sagen soll. Außerdem erreichen meine Eltern und ich in genau dieser Sekunde das Zimmer meiner Granny.

Vor der Tür werden wir direkt von einer Pflegerin abgefangen, die meine Eltern um ein kurzes Gespräch bittet.

Ob das ein schlechtes Zeichen ist? Hoffentlich nicht!

Begleitet von einem unangenehmen Stechen in der Magengrube betrete ich Grannys Zimmer und finde sie in ihrem Krankenbett vor. Sofort bildet sich ein Kloß in meinem Hals, denn sie wirkt total verloren in dem weißen Kittel und der XXL-Decke, die über ihren Beinen liegt.

Ich stelle den Blumenstrauß in eine Vase und räuspere mich dann, um Grannys Aufmerksamkeit zu gewinnen.

„Oh, Wavi!" Sie richtet sich überrascht auf, als ihre trüben Augen auf mir landen. „Wie schön, dass du da bist!"

Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen und nähere mich ihrem Bett. Mit Wackelpuddingbeinen hocke ich mich neben sie auf die Matratze und greife vorsichtig nach ihrer knöchernen Hand. „Hey Granny", begrüße ich sie nun. „Wie geht es dir?"

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Mit 87 Jahren geht es nur noch bergab." Sie seufzt und schüttelt dabei den Kopf. „Aber ich möchte dich auch gar nicht volljammern. Du-"

„Tust du nicht!", unterbreche ich sie schnell.

Daraufhin lächelt mich Granny dankbar an. „Erzähl doch mal, was momentan alles bei euch zuhause los ist. Ich sehe euch doch so selten ..."

Hm, was soll ich Granny bloß erzählen?

Eigentlich ist mein Leben total uninteressant, denn wenn ich nicht gerade gezwungenermaßen in der Schule hocke oder für anstehende Prüfungen lernen muss, verbringe ich meine ganze Freizeit auf dem Sportplatz.

„Erzähl ihr doch von dem heißen und lustigen Everest Callahan", schaltet sich plötzlich der Idiot in meinem Kopf wieder ein.

Obwohl er gefasst klingt, keimen Schuldgefühle in meinem Inneren auf. Es tut mir leid, dass er mir sein Herz bezüglich seines Vaters ausgeschüttet hat und ich noch keine Möglichkeit gefunden habe, ihm mein Beileid auszusprechen.

„Schon gut", meint Everest. „Du musst nichts dazu sagen, Waverly. Ich wollte dich nur daran erinnern, das echte Leben nicht aus den Augen zu verlieren!"

„Mache ich nicht", erwidere ich leise.

Aber scheinbar nicht leise genug, denn Granny bedenkt mich mit einem skeptischen Blick. „Warum möchtest du mir denn nichts erzählen?", hakt sie traurig und enttäuscht zugleich nach.

Oh, Mist! „Nein, so war das nicht gemeint!", beeile ich mich, schnell zu sagen. „Ich, äh, ich war nur in Gedanken und habe gar nicht mit dir gesprochen."

Eigentlich rechne ich damit, meine Granny mit dieser Ausrede zufriedenzustellen, doch ihre Augen bohren sich urplötzlich wie messerscharfe Pfeilspitzen unter meine Haut. Ganz langsam kommt sie mir mit ihrem Gesicht näher, ehe sie mich fragt: „Ist da gerade jemand in deinem Kopf gefangen?"

„Was?!" Ich bin so perplex, dass ich viel zu laut und viel zu hysterisch spreche. Mein Herz setzt für einen Schlag aus, nur um gleich darauf fünfmal so schnell weiterzuhämmern.

„Du hast mich schon verstanden, Wavi", sagt Granny ernst.

„Ist deine Oma eine Hexe oder so?", erkundigt sich Everest in demselben Atemzug bei mir. „Oder eine Wahrsagerin?"

Ich schüttele kaum merklich den Kopf. ‚Nicht, dass ich wüsste.'

„Hm ...", grübelt Everest. „Vielleicht ist sie auch einfach nur-"

Der Rest seiner These wird von Grannys zittriger Stimme übertönt. Sie drückt kurz meine Hand, bevor sie mir verrät: „Als dein Opa vor einigen Jahren so schwer krank wurde, war auch jemand in meinem Kopf gefangen. Deshalb weiß ich genau, wie anstrengend dieses Stimmengewirr sein kann."

Wie bitte?!

„Ihr Name ist Cassandra Jones. Sie ist eine Ärztin."

Mit geweiteten Augen und offenstehendem Mund starre ich meine Granny an. Keine Ahnung, was ich heute von meinem Besuch erwartet habe, aber sicherlich nicht so eine dramatische Offenbarung.

Und warum zum Teufel hat sie mir nicht schon früher davon erzählt?

„Weißt du, Wavi, ich wollte mir damals nicht eingestehen, dass dein Opa todkrank war und sterben würde. Ich habe die Augen verschlossen und sämtliche Warnsignale ignoriert. Aus Angst, allein zu sein." Tränen bilden sich in Grannys müden Augen und kullern über ihre Wangen. „Cassandra Jones hat mir dabei geholfen, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Mir ist bewusst, dass ich mich selbst aufgegeben habe, aber nur ihretwegen lebe ich überhaupt noch."

Nach wie vor bin ich so überrumpelt, dass ich nichts erwidern kann.

„Ich weiß nicht, vor welchen Hindernissen und Hürden du aktuell stehst, aber der Mensch, der in deinem Kopf gefangen ist, hat eine Aufgabe", fährt Granny geheimnisvoll fort. „Er soll dir helfen."

„Und wobei?", hake ich verunsichert nach.

„Tja", seufzt sie, „das werdet ihr wohl erst im Laufe der Zeit herausfinden."

***

Everests POV

Waverly kann das Gespräch mit ihrer Granny leider nicht mehr vertiefen, denn auf einmal öffnet sich die Zimmertür und ihre Eltern kommen zum Vorschein. Die geröteten Augen und die getrockneten Tränenspuren auf ihren Wangen verraten, dass die Konversation mit der Pflegerin sehr ernst und emotional gewesen sein muss.

Nachdem Waverlys Eltern ihre Granny begrüßt haben, setzen sie sie in einen Rollstuhl und schieben sie in die Cafeteria des Pflegeheims, um gemeinsam ein Stück Kuchen zu essen. Danach gehen sie in den angrenzenden Park und schauen sich ein altes Fotoalbum mit niedlichen Waverly-Kinderbildern an.

Ausnahmsweise halte ich mich mal zurück und versuche Waverly und ihrer Familie die nötige Privatsphäre zu geben, die sie nicht nur brauchen, sondern auch verdient haben.

Während Waverly also in Erinnerungen schwelgt, kreisen meine Gedanken permanent um die Aussagen ihrer Granny.

Wenn ich nicht grundlos in Waverlys Kopf gefangen bin, muss ich scheinbar irgendeine Aufgabe erfüllen. Nur habe ich keinen blassen Schimmer, wie diese Aufgabe aussieht.

Ob ich sie auf ihrem Weg zu den Olympischen Spielen begleiten soll? Ich bezweifele es.

Eigentlich gibt es nur eine einzige Sache, die mir spontan einfallen würde: Verhindern, dass sich Waverly von Möchtegern-Sunnyboy Peter verarschen lässt.

Und ja, diese Aufgabe übernehme ich mit dem allergrößten Vergnügen!

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